Bonner Philosoph„Das Starren auf die Zahlen ist ein Inzidenzwahn“

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Wieler Spahn PK

Jens Spahn (v.l.n.r.), Bundesminister für Gesundheit, Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), und Klaus Holetschek (CSU), Vorsitzender Länder-Gesundheitsministerkonferenz

  • Markus Gabriel, geb. 1980, ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn.
  • Im Interview spricht er über die Aufgaben und das Versagen der Politik in der Corona-Krise.

Herr Professor Gabriel, beim CDU-Parteitag im Januar hat Armin Laschet die Bergmannsmarke seines Vaters als Symbol für Verlässlichkeit und Vertrauen hochgehalten. Ist Vertrauen gerade in Krisenzeiten wie dieser die Grundwährung der Demokratie? Markus Gabriel: Im Moment brauchen wir nicht nur Vertrauen, sondern noch mehr Bürgersinn. Ein Bewusstsein dafür, dass wir alle in einer Demokratie leben. Die funktioniert auch, das möchte ich betonen. Aber sie braucht jetzt mehr Bewegung von unten nach oben als von oben nach unten. Wir sehen doch, dass sich die Krise nicht „top down“ lösen lässt. Es wäre falsch, blind auf die Allmacht der Politik zu vertrauen, die sie in einer Demokratie zum Glück nicht hat.

Nach „blindem Vertrauen“ hatte ich aber auch nicht gefragt.

Vertrauen erzeugt die Politik zunächst und vor allem, indem sie sich demonstrativ dem Gesetz unterstellt. Mit institutioneller Bescheidenheit. Politiker müssen mit ihrem Reden und Handeln jederzeit klar machen: Wir stehen unter dem Gesetz, die Verwaltungsgerichte oder das Bundesverfassungsgericht geben die Rahmenbedingungen vor, die es unbedingt zu respektieren gilt. Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte, war gerade in Baden-Württemberg zu besichtigen. Nachdem Gerichte dort die verhängte Ausgangssperre als unverhältnismäßig gekippt hatten, hat die Landesregierung eine teils noch strengere eingeführt, statt auf dieses fragwürdige Instrument zu verzichten. Das untergräbt Vertrauen in die Politik.

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Sehen Sie ein Versagen aufseiten der Politik?

Für Versagen halte ich die hilflose Verlängerung des „Lockdown light“, das wäre eindeutig besser gegangen. Als „Wellenbrecher“ angekündigt, hätte man sich nach spätestens drei Wochen etwas anderes überlegen müssen, sobald nämlich klar war, dass die Welle ungebrochen weiterrollt. Bis dahin war es „nur“ das Scheitern eines vertretbaren Versuchs, der Krise vorsichtig Herr zu werden. Vier Monate Lockdown dagegen halte ich in keiner Weise für berechtigt. Und das nenne ich Versagen. Bis dahin, dass wir in Bayern und Sachsen Grenzen geschlossen haben und damit zeitweise zum moralischen Schlusslicht der EU geworden sind.

Als Versagen werte ich auch das Fehlen eines klaren Eingeständnisses, dass vier Monate undifferenzierter Lockdown eine inakzeptable Zumutung mit riesigen Kollateralschäden für zu viele Menschen sind. Es kann nicht sein, dass einige Spitzenpolitiker sich nach diesem Winter im Bundestag hinstellen und sagen, im Großen und Ganzen sei alles gut gelaufen. Es ist im Großen und Ganzen eben keineswegs alles gut, sondern das Wichtigste – Stichwort „Impfstoffdebakel“ oder Kita- und Schulschließungen statt moderner Hygienekonzepte – ist schief gelaufen. Nur wenn man Scheitern eingesteht, kann man es besser machen, das heißt aus Fehlern lernen.

Was hätten die Verantwortlichen denn anderes machen sollen, als auf Sicht zu fahren und zu schauen, ob die jeweils getroffenen Maßnahmen ausreichen?

Das „Fahren auf Sicht“ ist schon selbst das Scheitern. Man kann in einer Pandemie nicht auf Sicht fahren. Das haben wir jetzt doch vier Monate lange erlebt. Und indem wir jetzt schon wieder nicht den nächsten Sommer und Herbst planen, drehen wir schon die nächste Schleife des Versagens. Wir bereiten uns nicht vor. Wir wiederholen nur die längst bekannten Fehler.

Markus Gabriel

Markus Gabriel (r.)

Der richtige Weg...

... hätte so ausgesehen: Mit dem Scheitern des Wellenbrecher-Lockdowns hätte man das Ziel umdefinieren müssen. Offenhalten, was sich überhaupt nur offenhalten lässt – und das mit lokal differenzierten Maßnahmen, bei denen man die Bürgerinnen und Bürger mitnimmt, die höchst kreativ sind und sein wollen. Ich nenne ein Beispiel: Wir hätten schon den ganzen Winter über mit Schnelltests arbeiten können, um Kultur und Gastronomie möglichst sicher offenzuhalten. Die Schließung der Friseurläden, die fast überall außer in Deutschland den ganzen Winter über geöffnet waren, war immer Unsinn.

Differenzierte Maßnahmen kann kein Spitzenpolitiker verfügen, weil er nicht weiß, was vor Ort gerade los ist. Wie gesagt, die Politik ist nicht allmächtig und allwissend, und das ist auch gut so, wir sind in einer Demokratie. Wir brauchen mehr proaktives bürgerliches Engagement, Kooperation zwischen allen Ebenen der Gesellschaft, die betroffen sind.

Und woran würden Sie dann den Erfolg dieses Vorgehens messen wollen? Auch an den Inzidenzzahlen?

Das Starren auf die Infektionszahlen ist ein Fehler, ein Inzidenzwahn. Kriterium muss die Belastbarkeit des Gesundheitssystems sein sowie die Frage, wer wie krank ist. Natürlich korreliert das mit den Infektionszahlen, und natürlich sterben viel zu viele Menschen. Aber die Rettung von Leben ist nicht im Allgemeinen die Aufgabe des Staats. Sonst müssten wir Autos und Alkohol verbieten. Der Staat schützt und stärkt das Gesundheitssystem, er stellt die Infrastruktur zur Verfügung, um auf diese Weise möglichst große Spielräume der Freiheit zu ermöglichen.

Wenn Sie von „Inzidenzwahn“ sprechen – meinen Sie damit die Vertreter der „No Covid“-Initiative? Die will ja mit den Inzidenzen gegen Null kommen, um das Risiko eines erneuten exponentiellen Anstiegs der Infektionszahlen zu vermeiden und damit genau das zu verhindern, was Sie gesagt haben: die Überlastung des Gesundheitssystems.

„No Covid“ ist leider unrealistisch. Wir waren schon einmal im Keller mit den Inzidenzen, das hat die zweite Welle nicht verhindert. Und wenn wir rote und grüne Zonen einführen, zwischen denen die Bewegungsfreiheit unterbunden werden soll, wie etwa in Italien, möchte ich mal ganz konkret wissen, wie das bei uns gehen soll. Wenn Köln mit hohen Inzidenzen aufwartet, die Nachbarschaft aber nicht – kommt dann die Bundeswehr und sperrt die Rheinbrücken?

Ich möchte betonen, dass jede Langzeitstrategie, die erheblich mehr Freiheit ermöglicht, besser ist, als dasjenige, was wir den Winter über gesehen haben. „No Covid“ ist zwar eine Langzeitstrategie, nur keine, die den Fakten entspricht, weil wir zu lange nicht auf die niedrigen Zahlen kommen, warum auch immer. In Wahrheit weiß das keiner, es ist aber so.

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Aber nicht eine der bereits geltenden Kontaktbeschränkungen kann von der Staatsmacht rigoros durchgesetzt werden. Es geht doch immer um die Annahme einer einsichtigen, freiwilligen Regelbefolgung.

Der Fortschritt an „No Covid“ ist das Angebot einer Langzeit-Strategie. Das begrüße ich. Aber die Papiere, die ich kenne, lassen sich auf die Aussage reduzieren: Es wäre das Beste, wenn wir keine Infektionen hätten. Das stimmt zwar, aber dafür brauche ich keine Wissenschaft. „No Covid“ funktioniert jetzt nicht, weil die Ziele zu ehrgeizig sind. Angenommen, wir bräuchten bis Juni, um im Lockdown die Inzidenz unter 10 auf 100.000 zu drücken, dann wäre das einfach zu lang. Wegen der Kollateralschäden unvertretbar. Das berücksichtigt „No Covid“ nicht angemessen.

Epidemiologisch gilt doch: 14 Tage Isolation machen dem Virus den Garaus. Keine neuen Wirte, keine Ausbreitung. Ende.

Theoretisch richtig, aber für eine ganze Gesellschaft mitten in Europa praktisch ausgeschlossen. Wir sind nicht in einer epidemiologischen Simulation. Zumal die andersartigen Schäden, die durch die fortwährenden Kontaktbeschränkungen schon jetzt entstanden sind, überhand nehmen. Wir wollen die Überforderung der Intensivmedizin verhindern, überfordern aber die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das ist ein Widerspruch.

Als wir zuletzt miteinander sprachen, monierten Sie, dass den Virologen und Epidemiologen Fragen gestellt würden, die sie nicht beantworten könnten – insbesondere die Frage, wie wir als Gesellschaft aus der Krise kommen. Hat sich das geändert?

Im Grunde nicht. Ich glaube, man muss den Medizinern die Modellhoheit entziehen. Sie können aus ihrer Expertise nichts zu den demokratischen und sozialen Kosten etwa eines Konzepts sagen, das die Inzidenzen unter zehn bringen will. Echte interdisziplinäre Arbeit bestünde darin, dass wir bessere, realitätshaltige Modelle entwickeln, die nicht nur nach abstrakten Kriterien der Mobilität arbeiten. Es fehlen weiterhin empirische Studien, die uns zeigen, wie man sich wo infiziert. Wir müssen den Faktor Mensch und Lebenswelt endlich berücksichtigen, alles andere ist ein offensichtlicher Irrweg.

Was ist denn so falsch an einer Inzidenz unter zehn?

Wenn Sie sich erinnern: Die hatten wir im Sommer 2020 schon einmal erreicht. Das hat die zweite Welle nicht verhindern können. Also müsste sich doch jetzt alles um die Frage drehen, wie eine dritte Welle zu verhindern wäre, selbst wenn es gelänge, die Inzidenz so weit zu drücken.

Also wie?

Indem wir uns auf die dritte Welle vorbereiten mit noch besseren Hygienekonzepten und diese dann auch in der Wirklichkeit testen, also nicht noch ein Lockdown als Präventivmaßnahme, die das Problem der Kollateralschäden nicht löst. Wollen wir der nächsten Welle ernsthaft mit einem weiteren viermonatigen Lockdown begegnen? Das wäre dann schon Staatsversagen, denn der Ausnahmezustand darf kein Dauerzustand werden. Das hat ja jetzt schon irrwitzige Auswüchse.

Woran denken Sie?

Ich war dieser Tage für einen Außentermin in meiner Heimatstadt Sinzig und musste zur Toilette. Es gab in ganz Sinzig keine Möglichkeit, nicht mal an der Tankstelle. Ich finde, das kratzt mindestens so sehr an die Würde wie aus der Form geratene Frisuren. Nach einem Jahr einseitigen Sicherheitsdenkens ist es dringend an der Zeit, Freiheitsdenken zu fordern, das heißt mit Bürgersinn und Eigenverantwortung die kreativen Hygienekonzepte, die entwickelt wurden, endlich umzusetzen, also: modern vorzugehen und nicht vormodern, was übrigens viele andere Staaten auch machen. Deutschland ist global gesehen unteres Mittelfeld, Kreisliga der Pandemiebekämpfung. Kurzum: Gesundheitssystem stärken durch Investitionen, einfache Schnelltests für alle, Hygienekonzepte, moderne digitale Lösungen.

Wie gehen Sie als Philosoph eigentlich damit um, dass dieses Virus dem Menschen immer einen Schritt voraus zu sein scheint? Seine neueste Kriegslist: die Mutanten.

Das ist eine echte Herausforderung. Die Mutationen waren zwar erwartbar, aber nicht berechenbar. Wir müssen davon ausgehen, dass Viren hochintelligent sind, überaus anpassungsfähig, uns Menschen durch die schnellen Veränderungen im Erbgut evolutionsbiologisch haushoch überlegen.

Es gibt Leute, die sagen, Viren erfüllten bestimmte Definitionen von Leben nicht.

Pech für die Definitionen! Mit einem mechanistischen Verständnis des Virus und seiner Verbreitungswege unterschätzen wir seine – ich nenne es mal – Cleverness.

Wie kann der Mensch seine Nachteile gegenüber dem Virus ausgleichen?

Indem das intelligente Lebewesen Mensch seinen intelligenten Gegner auf eine Weise in die Enge treibt und dort trifft, wo er angreifbar ist. Ich mache das Bild mal ein wenig konkreter: Wir müssen das Virus aus den Alten- und Pflegeheimen heraustreiben und für jeden Menschen Alltagstests anbieten (und zwar kostenlos). Damit würden wir der viralen Intelligenz unsere menschliche Intelligenz entgegensetzen. Ein undifferenzierter Lockdown dagegen ist keine intelligente Methode – und dementsprechend auch erfolgsarm, wie wir seit Monaten sehen.

Sie haben die Empfehlung des Deutschen Ethikrats kritisiert, Geimpften keine Privilegien einzuräumen, zumindest solange nicht geklärt ist, ob sie weiter infektiös sind. Warum?

Es geht nicht um Privilegien, das ist falsch! Es geht um die Aufhebung einer Deprivilegierung. Die Einschränkung darf nicht gelten, wo Geimpfte nur Geimpfte treffen. In einer Gruppe von Geimpften ist „das Biest unter Kontrolle“ oder die Wahrscheinlichkeit einer Neuinfektion zumindest so gering, dass sie keine weitere massive Einschränkung von Grundrechten, wie etwa Berufsverbote, rechtfertigt. Andernfalls könnten wir die Grundrechte vergessen und die Demokratie dicht machen. Das heißt also: 20, 50 oder 15.000 Geimpfte können alles miteinander tun, wonach ihnen der Sinn steht. Sich umarmen, küssen, tanzen, feiern – ganz egal, und das geschieht übrigens längst in vielen Länder, Spanien etwa oder Israel.

Fragen wir doch einmal die, die bisher dem größten Risiko ausgesetzt waren und am meisten zu leiden hatten, was sie sich wünschen: die älteren Menschen, die jetzt bald durchgängig geimpft sind. Ihnen Gastronomie, Konzerte, Theater für Geimpfte möglichst bald wieder zu öffnen, ist ein Stück Ausgleich für die vorangegangenen Einschränkungen und Belastungen. Das ist Solidarität und nicht die undifferenzierte Freiheitsbeschränkung aller.

Dann hätten wir eine Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Ungeimpften. Sehen Sie da nicht die Gefahr einer weiteren Entsolidarisierung?

Solidarität bedeutet, sich von Herzen mit denen zu freuen, die ihre Grundrechte schon wieder voll genießen dürfen. Zumal das – wie gesagt – zunächst die Gruppe derer betrifft, die in der Pandemie bisher die größten Opfer gebracht haben. Solidarität besteht darin, den Gesundheitsminister zu bestürmen, noch schneller noch mehr Impfstoff bereitzustellen. Die Warnung vor einer Zweiklassengesellschaft, die dadurch entstünde, dass ein Teil der Bevölkerung die Grundrechte schon wieder vollumfänglich genießen kann, ist eine Neid-Diskussion. Neid aber ist das Gegenteil von Solidarität. Neid gehört auch nicht zu den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats. Sonst müsste man mit einem Schlag den guten alten Kommunismus einführen und gleiche Gehälter für den Ministerpräsidenten von Bayern und die Münchner Pfleger fordern, denen wir auf jeden Fall statt Applaus bessere Arbeitsbedingungen schulden.

Ist da das Plädoyer für eine Impfpflicht herauszuhören?

Sobald genügend Impfstoff vorhanden und auch für die unter 16-Jährigen in hinreichender Qualität vorhanden ist, sehe ich nichts, was gegen eine gut durchdachte Impfpflicht spricht mit dem Ziel, eine Durchimpfung von etwa 80 Prozent der Bevölkerung zu erreichen und diese Pandemie damit wirklich im Griff zu haben.

Nichts, was dagegen spricht? Das Recht auf Selbstbestimmung oder körperliche Unversehrtheit zum Beispiel.

Eine Impfpflicht ist ein wesentlich geringerer Eingriff in die Grundrechtsarchitektur dieser Republik als ein bereits viermonatiger Lockdown. Wer letzteres für demokratisch vertretbar und politisch umsetzbar hält, der kann nicht mehr rational gegen eine Impfpflicht sein. Zur körperlichen Unversehrtheit würden übrigens auch modernere, schonendere Testverfahren gehören. Der sadistische Stab tief in die Nase bei symptomlosen Menschen kratzt an der Menschenwürde und grenzt an Körperverletzung, weil wir längst bessere Alternativen haben. Testen beim Eintritt ins Theater – bin ich unbedingt dafür. Aber dann bitte Spucktests, die in China längst gang und gäbe sind. Als ich Freunden in Hongkong erzählte, wie Tests bei uns in Deutschland ablaufen, waren die vollkommen entsetzt. Für die Debatte über die körperliche Unversehrtheit und das Impfen heißt das: Piks in den Arm ist besser als Stab in die Nase.

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