„Eiseskälte und Ablehnung“Betroffener kritisiert Lücken im Missbrauchsgutachten

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Michael Schenk Grönert

Michael Schenk, Priester der altkatholischen Kirche 

  • Im November 2020 machte Michael Schenk seine Erfahrungen von Missbrauch im Erzbistum Köln im „Kölner Stadt-Anzeiger“ öffentlich.
  • Er kritisiert das neue Missbrauchsgutachten, denn wesentliche Aspekte seines Falls werden aus seiner Sicht nicht berücksichtigt.
  • Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeigt Schenks Sicht und dokumentiert den „Aktenvorgang 223“ im Original.

Köln – Anfang offen, Ende offen, und dazwischen viele Lücken. So hat Michael Schenk den „Aktenvorgang 223“ im Gutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke zum Umgang des Erzbistums Köln mit Fällen sexualisierter Gewalt gelesen (siehe Dokumentation am Artikelende). Der „Betroffene“, von dem hier die Rede ist, ist Schenk selbst. 2020 machte er im „Kölner Stadt-Anzeiger“ seinen Fall öffentlich. Wie er ihn jetzt im Gercke-Gutachten wiederfindet, ist für Schenk der Beweis, dass die rein juristische Überprüfung auf ein „rechtmäßiges Handeln“ der Bistumsverantwortlichen wenig mit Gerechtigkeit zu tun hat und vielleicht noch weniger mit Wahrheit.

Wesentliche Teile von Schenks Fall fehlen im Gutachten

So hätten die Gutachter wesentliche Teile seines Falles unberücksichtigt gelassen, die für die Bewertung aber unerlässlich seien: So habe ein übergriffiges Verhalten seines vorgesetzten Pfarrers gegenüber ihm als jungem Kaplan das Kindheitstrauma des Missbrauchs überhaupt erst wieder aufleben lassen. Kardinal Joachim Meisner, der sich gern als „Erster Seelsorger“ seiner Priester inszenierte, habe sich ihm gegenüber genau gegenteilig verhalten: „Als ich mich ihm in meiner Not anvertraute und ihm in der andeutenden Form, in der es mir damals möglich war, von Übergriffen durch Männer sprach, wischte er das mit der Bemerkung weg, »da steht man doch drüber.«“

Bei der Erwähnung der Suspendierung vom Priesteramt bleibe gänzlich unerwähnt, dass diese Strafe während eines offiziell gewährten Krankenjahrs und laufender Trauma-Therapien verhängt wurde. „Die Eiseskälte und die Ablehnung, die mir von Kardinal Meisner entgegenschlugen, findet sich im Gutachten auch nicht ansatzweise wieder. Das war aber seine Art, auf das Thema Missbrauch zu reagieren. Er konnte damit einfach nicht umgehen.“

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Schenk 2

Michael Schenk vor dem Erzbischöflichem Haus in Köln

Dass die Suspendierung, die Schenk seelisch und materiell buchstäblich ins Bodenlose fallen ließ, nach Ansicht von Kirchenrechtlern rechtswidrig war, ist dem Gutachten ebenfalls kein Wort wert. Obwohl Kardinal Rainer Woelki Schenk in einem persönlichen Gespräch 2020 zusicherte, er solle zu seinem Recht kommen, verweigert das Bistum bis heute eine externe Prüfung. Zur Begutachtung wurde der Fall nach 18 Jahren dem gleichen Kirchenrichter vorgelegt, der für Kardinal Meisner Schenks Suspendierung vorbereitet hatte.

„Aktenvorgang 223“

Eine besonders gravierende Lücke hat Schenk im „Aktenvorgang 223“ bei der Erwähnung des „fachpsychologischen Gutachtens“ ausfindig gemacht. Der vom Bistum herangezogene Professor Max Steller beurteilte Schenks Darstellung als Scheinerinnerungen „allein nach Aktenlage, ohne mich je gesprochen oder gesehen zu haben“. Das Bistum selbst räumt ein, dass dieses Vorgehen nicht mehr heutigen Standards entspreche.

Am Ende seines Gutachtens legte Steller eine eigene Befragung Schenks durch das Bistum nahe, die dessen Angaben als nicht realitätsbasiert erweisen könnte: Je detaillierter Schenk die Missbrauchsvergehen schildern würde, desto wahrscheinlicher wäre es, dass diese sich so nicht zugetragen hätten. Ob ein solches Vorgehen zu verantworten sei, liege im Ermessen des Bistums. Als Schenk dies dem Gutachten entnahm, das er erst auf Druck seiner Anwältin ausgehändigt bekam, sei ihm klar gewesen: „Jetzt haben sie mich in der Falle. Je mehr ich jetzt noch sage, desto schlimmer wird es für mich.“

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Also sagte Schenk, der 2008 zur altkatholischen Kirche übertrat und dort als Pfarrer wirkt, dem Bistum jahrelang gar nichts mehr. Nach einer erneuten Intervention 2019 wurde er dann ein Jahr später als Opfer sexuellen Missbrauchs anerkannt. Das Erzbistum machte sich sogar auf die Suche nach weiteren Betroffenen.

Längst kein Abschluss für Schenk

Für abgeschlossen hält Schenk seinen Fall dennoch nicht. „Folgt man dem Wortlaut des Gutachtens, dann hängt alles in der Luft. Wo ist die Verantwortung des Erzbistums? Wo die Opferfürsorge? Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Als er am Dienstag Kardinal Woelki von einem Gesprächsangebot an alle Betroffenen reden hörte, habe es ihn „gewürgt“.

Zwar habe Woelki ihn 2020 nach mehrmaligem Drängen einmal empfangen, aber bis auf kurze Momente von Nähe sei er ihm „wie aus der Ferne“ begegnet, „nüchtern, distanziert, fast kalt“, sagt Schenk. Er habe Woelki „als Abbild seines Meisters Meisner“ erlebt. „Und wenn ich höre, dass die Opfer zu Gesprächen nach Köln gebeten werden, während die Täter von Bistumsvertretern vor Ort aufgesucht werden sollen, dann ist das doch in einem sprechenden Zeichen die Pervertierung der angeblich leitenden Opferperspektive.“

Auf der Suche nach dem „Selbstverständnis“ der Kirche, an dem das Handeln der Verantwortlichen zu messen sei, habe er im Gutachten wenig gefunden, sagt Schenk abschließend. Dabei wäre das im Grunde gar nicht so schwierig anzugeben: „Meine Eltern haben mir das Wort Jesu beigebracht: »Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen«. Da haben manche einfachen Gläubigen mehr verstanden als die Kirchenoberen.“

Im Wortlaut: Aktenvorgang 223 im Gercke-Gutachten

Der Betroffene war bis zum Jahr 2002 Priester im Dienst des Erzbistums Köln. Im Jahr 2002 bat er um die Entlassung aus dem priesterlichen Dienst. Nach mehrfacher Aufforderung zum priesterlichen Gehorsam zurückzukehren, wurde der Betroffene vom Priesterdienst suspendiert. In seinen Gesprächen mit Erzbischof Dr. Meisner hatte er bereits erste Andeutungen über einen sexuellen Missbrauch gemacht. Inwieweit Erzbischof Dr. Meisner zu diesem Zeitpunkt über das später angezeigte Verhalten im Bilde war, konnte anhand der Akten nicht festgestellt werden.

Im Jahr 2004 wandte sich der Betroffene an die Ansprechperson für Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln. Er gab an, in den 1970er-Jahren im Alter von drei bis fünf Jahren durch drei Beschuldigte sexuell missbraucht worden zu sein. Der Betroffene konnte allerdings nur zwei der Beschuldigten namentlich benennen. Einer der beiden war bereits 1999 verstorben.

Da der Betroffene angegeben hatte sich erst im Rahmen einer länger dauernden Therapie an die Missbrauchsgeschehnisse erinnert zu haben, verlangte das Erzbistum Köln die Einreichung der Therapieunterlagen. Diese wurden mit dem Einverständnis des Betroffenen einem Fachpsychologen zur Begutachtung übergeben. Dieser kam zu dem Ergebnis, es sei in hohem Maße wahrscheinlich, dass die vom Betroffenen erlebten Vorstellungen tatsächlich Scheinerinnerungen seien. Im Rahmen der Begründung verwies der Gutachter insbesondere darauf, dass es sowohl an einer wissenschaftlichen Qualifikation als auch an einer wissenschaftlichen Herangehensweise der behandelnden Therapeuten fehle.

Das im Anschluss an die Begutachtung avisierte Gespräch zwischen dem Betroffenen und Vertretern des Erzbistums kam nach Aushändigung des Gutachtens an die Rechtsanwältin des Betroffenen nicht mehr zustande. Eine weitere Bearbeitung ist nicht dokumentiert.

Im Jahr 2019 wandte sich der Betroffene erneut an das Erzbistum Köln und legte zahlreiche weitere ärztliche Bescheinigungen und Stellungnahmen zum Nachweis der Tatsache vor, dass es sich in seinem Fall um erlebnisbasierte Erinnerungen handele.

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