„Da wollte jemand töten“, glaubt Michael Müller. Unbekannte setzten das Haus des SPD-Politikers im thüringischen Waltershausen in Flammen.
Nach BrandanschlagSPD-Politiker: „Jetzt lege ich ein Messer auf mein Nachtschränkchen“
Michael Müller ist längst mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Als der Reporter aus Berlin eintrifft, ist der SPD-Kommunalpolitiker gemeinsam mit dem handwerklich ebenfalls versierten SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Andreas Hellmund dabei, eine Spanplatte vor die Eingangstür zu setzen. Sie muss halten, bis die teilweise verkohlte Tür selbst ersetzt werden kann – irgendwann später also. Als wir in die Küche kommen, liegt auf dem Tisch in Müllers schönem Holzhaus im thüringischen Waltershausen-Schnepfenthal ein Ordner mit Versicherungsunterlagen.
Es geht um die Regulierung des materiellen Schadens, den der oder die Brandstifter in der Nacht zum Montag voriger Woche hinterlassen haben. Unterdessen berichtet Müller, dass er vier Stunden lang bei der Polizei saß. Dort geht eine Sonderkommission der Brandstiftung auf den Grund. Der Verdacht: Mordversuch.
Der 46-Jährige ist besorgt. „Wenn wir weiter so miteinander umgehen, dann brennen noch mehr Häuser, nicht nur meins“, sagt er am Küchentisch bei Kaffee und Gebäck. Andererseits, das hatte Müller schon am Telefon angekündigt, will er rasch „zur Normalität zurückkehren“.
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Es stellt sich nur die Frage, ob das so ohne Weiteres möglich ist. „Ich habe das Haus bisher nie abgeschlossen, nie“, sagt Müller. „Jetzt schließe ich zweimal ab und lege ein Messer auf mein Nachtschränkchen. Ich will aber keine Angst in meinem eigenen Haus haben.“
In der besagten Nacht, in der Müller gar nicht dort war und es an eine ihm unbekannte Familie aus Dresden vermietet hatte, hatten sich Unbekannte dem Haus genähert. Sie entzündeten mit Brandbeschleunigern den Eingang und setzten auch den Tank des Autos der Gastfamilie, die mit einem Teenager und einem Baby angereist war, in Flammen. Die hörte Geräusche und wachte rechtzeitig auf. Müller kehrte auf der Stelle zurück und muss sich seither fragen, wie es weiter geht.
Die Antwort ist auch deshalb schwierig, weil die dringende Mutmaßung im Raum steht, dass der Brandanschlag mit den politischen Aktivitäten des einheimischen Mannes zusammenhängt. In der rund 10.000 Einwohner zählenden Stadt, in der sich die Zustimmung für die AfD in manchen Ortsteilen der 50-Prozent-Marke nähert, zählt Müller zum 41-köpfigen SPD-Ortsverein. 2021 hat er für den Bundestag kandidiert. Und nachdem ein AfD-Vertreter seinerzeit das Rennen machte, gründete er mit anderen die Initiative „Buntes Waltershausen“.
Die wiederum hat im Zuge der bundesweiten Proteste gegen den erstarkenden Rechtsextremismus am 2. Februar eine eigene Demo veranstaltet. Rund 200 Menschen kamen – und später die Brandstifter zu Müllers Haus.
Angriffe auf Politiker sind Alltag geworden
Solche Angriffe sind längst Alltag geworden – und, was noch grausamer ist, die Gewöhnung daran. Das gilt für Thüringen. An das Wahlkreisbüro von Landtagspräsidentin Birgit Pommer (Linke) werden fast zeitgleich Hakenkreuze geschmiert.
Zuvor werden die Scheiben mehrerer SPD-Büros in Suhl eingeworfen, darunter das des Bundestagsabgeordneten und Biathlon-Olympiasiegers Frank Ullrich. Am 9. Januar beschmieren Unbekannte das Wahlkreisbüro der Linken-Bundestagsabgeordneten Susanne Hennig-Wellsow mit blauer Farbe und Fäkalien. Das Fenster hinterlassen sie kotbeschmiert, Kothaufen liegen vor dem Büro. In der Nacht zum 31. Dezember beschädigen Unbekannte die Fenster eines Grünen-Wahlkreisbüros in Weimar.
„Der Angriff reiht sich ein in eine Serie von Anschlägen auf grüne Wahlkreisbüros im ganzen Land, stellt für Weimar jedoch eine neue Stufe der Eskalation dar“, teilt Janek Bevendorff, Vorstandsmitglied der örtlichen Grünen, mit.
Auch bundesweit häufen sich Attacken
Die Angriffe im Freistaat sind lediglich ein kleiner Teil des Gesamtbildes. Allein in den vergangenen Monaten haben Unbekannte bundesweit mehrfach Abgeordneten- und Parteibüros besonders der Grünen angegriffen. In der Nacht zum 18. Februar zerstören sie die Schaufensterscheibe der Geschäftsstelle der Ökopartei in Porta Westfalica (Nordrhein-Westfalen). Anschließend werfen sie einen Brandsatz in das Parteibüro. Er verursacht bloß einen geringen Sachschaden. Der Staatsschutz der Polizei Bielefeld ermittelt.
Einen Tag vorher werden im Kreis Viersen am Niederrhein Parteibüros von SPD, Grünen und FDP mit Farbe beschmiert und Flugblättern beklebt. An einem Grünen-Büro in der Stadt Kempen findet sich anschließend die Parole „Deutschland zuerst“.
Am 5. Dezember 2023 fällt dem Mitarbeiter eines SPD-Wahlkreisbüros im brandenburgischen Eberswalde ein Loch in der Fensterscheibe auf, er findet eine Stahlkugel. Die Polizei geht davon aus, dass Unbekannte das Büro mit einer Zwille beschossen haben. Am Abend des 27. Dezember fliegen im oberfränkischen Bayreuth Steine in die Fenster des Büros eines Grünen-Landtagsabgeordneten. Es ist die zweite Attacke binnen eines Monats. Bereits Anfang Dezember zerstören Unbekannte die Schaufensterscheibe durch einen Steinwurf.
Laut einer Aufstellung der Bundesregierung gab es von 2019 bis 2023 bundesweit mehr als 2400 Anschläge auf Parteigebäude und -einrichtungen. Im vergangenen Jahr ist besonders die Zahl der Angriffe auf Grünen-Büros stark angestiegen: Es sind mindestens 224.
In Nordrhein-Westfalen gelingt den Behörden immerhin ein Ermittlungserfolg in einem besonders schweren Fall: Im Juli 2022 war ein Sprengstoffanschlag auf eine Geschäftsstelle der Linken in der Ruhrgebietsstadt Oberhausen verübt worden. Nicht nur das Büro wurde verwüstet, die Druckwelle der Explosion beschädigte sogar gegenüberliegende Geschäfte. Nachdem die Ermittlungen zwischenzeitlich erfolglos eingestellt wurden, kann die Polizei Anfang Februar einen Mann und eine Frau als Tatverdächtige festnehmen. Berichten zufolge handelt es sich um Rechtsextreme.
Die Lage ist besser als die Stimmung
Der Angriff von Waltershausen, der wegen der offenkundigen Tötungsabsicht und eines Privathauses als Zielscheibe besonders gravierend ist, steht mithin nicht allein. Und doch steht jede Geschichte für sich – so wie jene von Michael Müller und Andreas Hellmund, die nun überaus friedlich zusammensitzen, während die Sonne hoch über dem Thüringer Wald so schön in Müllers Küche hereinscheint, dass man Feindseligkeiten in dieser idyllischen Einfamilienhaussiedlung für fast unmöglich halten würde.
Eigentlich gilt für die Kleinstadt, was für viele Orte des Landes gilt: Die Lage ist besser als die Stimmung. So gibt es dort neben viel schöner Natur und zahlreichen Kulturstädten wie Erfurt, Eisenach oder Gotha in der Nähe auch mehrere Industriebetriebe, darunter die Firma Sealable Solutions. Sie produziert Dichtungen für die Industrie sowie den Gleis- und Tunnelbau und gilt als so vorbildlich, dass Kanzler Olaf Scholz ihr im vorigen August einen Besuch abstattete.
Überdies wird Waltershausen seit fast 35 Jahren von demselben Mann regiert: dem CDU-Bürgermeister Michael Brychcy, der im November 1989 ins Amt kam. Das beweist zumindest eine gewisse Stabilität.
„Wir haben eigentlich keine Probleme“, sagt Michael Müller mit seinem sonnigen Gemüt und der sanften Stimme und meint das gesamte Land. „Wir könnten die Herausforderungen, die wir haben, sachlich und in Ruhe besprechen und dann Lösungen finden. Wenn eine Lösung nicht gut war, nehmen wir halt eine andere. Wir müssen uns da nicht an die Kehle gehen.“
Die Stimmung hat sich krass verschlechtert
Doch die Polarisierung ist eben trotz allem selbst hier spürbar. So hatte sich der besagte Bürgermeister Brychcy im vergangenen Juni für eine Zusammenarbeit mit der AfD in Sachfragen ausgesprochen. Dem folgte ein offener Protestbrief, den unter anderem Müller unterschrieb.
Als Konsequenz rief nach dem Brandanschlag zwar der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rolf Mützenich, bei Müller an. SPD-Chefin Saskia Esken kam persönlich vorbei, der sehr engagierte SPD-Landesvorsitzende und Innenminister Georg Maier sogar mehrfach. Allein: Brychcy meldete sich nicht. Das deutet auf Spaltung hin.
Zudem gab es in einer örtlichen Facebook-Gruppe nach der Attacke Kommentare, die Hellmund als „kruder Müll“ bezeichnet. Einer schrieb dem Sinne nach: Ohne die Ampelregierung wäre das nicht passiert.
Gerade im letzten halben Jahr, sagen die beiden SPD-Leute, habe sich die Stimmung noch einmal krass verschlechtert – sprich: ungefähr seit dem politischen Streit über das Heizungsgesetz –, sodass sie sich fragen: „Was ist denn in Deutschland los?“ Bereits vor längerer Zeit gab es einen Aufkleber am örtlichen Parteibüro, auf dem „Volksverräter“ stand. Und ein verdächtiges Päckchen.
Michael Müller – der mit seinem grauen Haar und seinem grauen T-Shirt dasitzt, als könne er kein Wässerchen trüben – schwankt jetzt hin und her. „Ich hatte schon Bedenken vor der Demo“, sagt er. „Denn ich finde die Stimmung gerade emotional ganz schön aufgeladen und sehr belastend. Ich dachte, ich bin allein, und hatte natürlich Angst: Wie kommt das an?“
Neuerdings muss er davon ausgehen, dass einer aus dem rechtsextremen Lager die Demonstration zum Anlass für den Anschlag nahm – nicht zuletzt, um deutschlandweit Angst und Schrecken zu verbreiten. „Da wollte jemand töten“, sagt Müller. Und dass er seit der Tat ein allgemeines Schweigen wahrnehme. „Ich finde dieses Schweigen sehr interessant.“
Müller will trotz allem weiter kandidieren
Müller erinnert schließlich an eine Freundin, die nach Freiburg im Breisgau gezogen ist, weil sie die feindselige Stimmung nicht mehr ertrug. „Ich bin doch nicht der Einzige, der dieses Unwohlsein hat“, sagt der Angegriffene und fährt fort: „Wir verlieren alles, woran sich jetzt alle klammern. Da müssen wir nicht mal Krieg haben.“
Trotzdem hat er sich wieder gefangen. Im ersten Schockmoment hatte Michael Müller erwogen, auf die Kandidatur für die Wahl zum Stadtrat im Mai zu verzichten. Mittlerweile ist er einen Schritt weiter. „Jetzt erst recht“, sagt Müller, kurz bevor wir uns verabschieden. Sogar beim Bürgermeister will er sich noch bedanken für den nächtlichen Feuerwehreinsatz und die Betreuung der Dresdner Familie. „Da fällt mir kein Zacken aus der Krone.“
Am nahegelegenen Bahnhof stehen unterdessen zwei Jugendliche. Von dem Brandanschlag hätten sie bei Facebook erfahren, sagen die Jungs und schauen skeptisch. Auf die Frage, ob sie von der vorangegangenen Kundgebung gegen den Rechtsextremismus gehört hätten, antwortet einer: „Das brauch ich nicht.“ Der andere ergänzt: „Sobald man nicht ins System passt, ist man rechtsextrem.“
Dann fährt der Zug aus Waltershausen ab.