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Serienmord-PozessAngeklagter Pfleger hält Wutrede vor Gericht in Aachen

Lesezeit 8 Minuten
Der angeklagte Krankenpfleger hält sich einen Aktenordner vor sein Gesicht, während er von Justizangestellten zu seinem Platz gebracht wird.

Der angeklagte Krankenpfleger hält sich einen Aktenordner vor sein Gesicht, während er von Justizangestellten zu seinem Platz gebracht wird.

Verstörende Gedächtnisverluste der Zeugen und eine ahnungslose Chefärtin: 

Alle anderen sind schuld, nur er nicht. Der Angeklagte im Saal 9 des Landgerichts Aachen kann seine Wut oft nur mühsam bändigen. Etwa eine Stunde trägt er Erinnerungen vor, die er sich nach seiner Festnahme am 17. Juli vergangenen Jahres notiert hat. Vor allem geht es um angeblich schlechte Ärzte, schlampige Kolleginnen und die Polizei, die ihn unter Druck gesetzt und ihm lange Zeit einen Anwalt vorenthalten habe. Das alles nur, um ihn zu einer Aussage zu drängen, die „verworren“ und für ihn „nicht nachvollziehbar“ protokolliert worden sei.

Eine einzige große Verschwörung, die Welt. „Viele Leute wollen ihre Schuld jetzt auf mich schieben“, ruft Ulrich S. am vergangenen Freitag aufgebracht. Am zehnten Verhandlungstag gegen ihn hat er sich zu einer Aussage bereit erklärt.

Neun mutmaßlich ermordete Patienten und 34 Mordversuche

Es sind monströse Vorwürfe, die gegen den 44-Jährigen erhoben werden. Er soll auf der Palliativstation des Rhein-Maas-Klinikums in Würselen neun Menschen ermordet haben. Und es in 34 weiteren Fällen versucht haben. Laut Staatsanwaltschaft hat er den Patienten im Nachtdienst zu hohe Dosen des Beruhigungsmittel Midazolam verabreicht. Eigenmächtig, ohne ärztliche Anordnung, damit er eine ruhige Schicht hat.

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Wohlgemerkt, zur Anklage gebracht wurden lediglich jene Ermittlungen der Polizei, bei denen das Geschehen von Dezember 2023 bis zum Mai 2024 untersucht wurde. Weitere Ermittlungen stehen noch an. Etwa 15 Jahre hat der frühere Zollbeamte als Krankenpfleger gearbeitet, etwa neun davon bei den Kliniken der Stadt Köln.

Es ist nicht nur befremdlich, was er vor Gericht zu erzählen hat. Auch wie er es macht, ist bemerkenswert. Einmal lacht er, als er nach einigen Zwischenbemerkungen ohne die Hilfe seiner Anwältin die Zeile nicht mehr findet, an der er in seinem Erinnerungsprotokoll angelangt war. „Lange Rede, kein Sinn“, sagt er flapsig an anderer Stelle, als ob er sich mit Kumpels in der Kneipe unterhalten würde.

Wutausbrüche im Zeugenstand

Dann aber ist es auch immer wieder plötzlich vorbei mit der vermeintlichen Coolness. Er berichtet von „kapitalen Fehlern“ der Kolleginnen, die mit den Vorwürfen gegen ihn teilweise aber rein gar nichts zu tun haben. Eine Ärztin in Rufbereitschaft habe ihn im Nachtdienst mit „Hasstiraden“ überzogen, nur weil er sie kontaktiert habe, nachdem eine Patientin gefallen sei und sich die Schulter gebrochen habe.

An einem anderen Tag sei eine Infusion für einen Patienten nicht aufgedreht worden. „Aus Faulheit, damit ich das im Nachdienst machen musste“, herrscht der 44-Jährige. Er hätte zudem gesehen, wie ein Kollege im Dienst geschlafen statt gearbeitet oder TV geguckt habe. Exorbitant große Mengen von Midazolam, wie später in den Klinikbüchern aufgefallen ist, habe er nur „bedarfsgerecht“ geordert, um angesichts eventueller Lieferengpässe für Vorrat zu sorgen. Zudem habe er den Eindruck gehabt, dass einige junge Kollegen auch „nicht mit der nötigen Weitsicht“ bestellt hätten.

Exorbitante Mengen Beruhigungsmittel geordert

Diese Bestellmengen brachten den Fall erst ins Rollen. Drei Schwestern hatten im Mai 2024 eine Woche lang vor und nach den Nachtdiensten von Ulrich S. die Bestände gezählt und dabei ihren Aussagen nach festgestellt, dass extrem große Mengen verbraucht und nachgeliefert wurden. Zahlreiche große Ampullen, die auf der Station nur wenige Male im Jahr verwendet würden, seien dann leer im Abfall gefunden worden.

Ach was, widerspricht S. bei seinem Vortrag. Je länger dieser dauert, desto mehr Zwischenbemerkungen macht er und weicht vom vorbereiteten Manuskript ab. Er glaube, dass die von den Ärzten angeordneten Dosen von Schmerzmitteln oft zu gering waren. Darüber sei auch im Kollegenkreis gesprochen worden. Jedenfalls habe er häufig den Eindruck gehabt, dass ihm Patienten übergeben wurden, denen zu wenig oder zu spät Schmerzmittel verabreicht wurden.

„Ich habe keine Medikamente verabreicht, um zu töten, sondern um Schmerzen zu lindern“

„Ich denke, dass auf mein Erscheinen im Nachtdienst gewartet wurde, damit ich das entscheide“, sagt er am Freitag. „Ich habe keine Medikamente verabreicht, um zu töten, sondern um Schmerzen zu lindern.“ Auch ein Kollege habe das getan, ergänzt er. Und man fragt sich unweigerlich, ob das ein Versuch sein soll, den Verdacht auf jemand anderen zu lenken.

Dieser Pfleger habe einem Patienten einmal sogar unfassbare 60 statt der üblichen 2,5 Milligramm Midazolam gegeben, behauptet S.. Der Kollege habe das dann mit den Worten kommentiert, er habe es doch nur gut gemeint. „Ja, dann war der Patient anschließend plötzlich tot“, ergänzt S. und klingt gleichgültig und ungerührt. Aber dann, in Richtung seiner Anwältin, wirkt er plötzlich gereizt: „Hätte ich das jetzt nicht sagen dürfen? Ach, sonst kümmert sich doch keiner.“

Verdacht auf einen Kollegen gelenkt

Als wenn das noch nicht gereicht hätte. Gegen Ende seines Vortrages hält es der mutmaßliche Serienmörder auch noch für relevant zu erwähnen, dass ihn „am meisten aufrege“, dass seine innige Beziehung zu seinen Hunden in der Öffentlichkeit verzerrt dargestellt werde. Die Tiere, die er sich auf die seitlichen Flanken seines Oberkörpers hat tätowieren lassen, würden auch in seinem Bett schlafen, hatte es geheißen.

Der Richter beendet den Prozesstag wenig später. Er lässt nur noch wissen, dass er vom Angeklagten demnächst hören möchte, was genau er von seiner umfangreichen polizeilichen Aussage widerrufen wolle, die man als Teilgeständnis werten könnte. „Ich bin halt ein Gutmensch“ und „Eigentlich hätte ich für meine Arbeit das Bundesverdienstkreuz verdient“, hat der Angeklagte nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ damals unter anderem gesagt.

Eine ahnungslose Chefärztin

Ob ihm seine Aussage vor Gericht nutzen wird, scheint fraglich. Er ist jedoch bei weitem nicht der Einzige, bei dessen Auftritt man ins Grübeln gerät, ob Krankenhäuser ein sicherer Ort sind.

Da ist etwa die ahnungslose Chefärztin. Sie wolle „bis heute nicht wahrhaben, was da passiert ist“, hat die Medizinerin vor Gericht gesagt. Erst im Nachgang habe sie beispielsweise erfahren, dass Patienten nach den Schichten von Ulrich S. oft kaum erweckbar gewesen seien. Umso unfassbarer mache dies für sie, dass es jeden Tag eine Teambesprechung mit allen Pflegern und Ärzten gegeben habe und auch dabei nie etwas in dieser Richtung zur Sprache gekommen sei. Dass jede Menge Beruhigungsmittel bestellt wurden, sei schon deshalb nicht aufgefallen, weil Medikamente im Klinikalltag von verschiedenen Ärzten freigegeben werden. „Keiner hat den ganzen Überblick.“

Klinik-Apotheker bemerkte nicht, das ungewöhnlich viele Beruhigungsmittel bestellt wurden

Den hatte auch der Apotheker der Klinik nicht. Der promovierte Pharmazeut antwortet auf Nachfragen, dass die Bestellungen der Stationen lediglich „auf Plausibilität“ geprüft würden. Man schaue, ob das Medikament zur Station passe und ob die jeweils bestellte Menge im üblichen Rahmen liege. Dies allerdings immer nur für jede einzelne Bestellung, nicht etwa in der Gesamtschau für wiederholte Anforderungen.

Zur Erläuterung, wie die „Aachener Zeitung“ auflistet: Allein zwischen Anfang 2024 und Mai 2024 wurden „sage und schreibe“ 230 große Ampullen à 15 Milligramm Wirkstoff Midazolam bestellt, habe es vor Gericht geheißen. Das sind pro Ampulle sechs der üblichen Einzeldosen von 2,5 Milligramm. Eine Menge, die normalerweise auf der Neun-Betten-Station nahezu nie an einem Tag gebraucht wurde. Von einem Medikament, das in der Klinik nur als letzte Möglichkeit gilt, wenn zuvor nichts anderes den Patienten mehr Erleichterung verschaffen konnte.

Patienten war nach Nachdiensten des Beschuldigten „schwer erweckbar“

Verstörend wirkte im Laufe des Verfahrens oft auch das Aussageverhaltens des Pflegepersonals, deren Aussagen für den Angeklagten über Freiheit oder lebenslange Haft mitentscheiden können. Immer wieder gab es überraschende Erinnerungslücken. Und Angaben, die so gar nicht übereinstimmten mit dem, was die Betroffenen vor einigen Monaten bei ihren polizeilichen Vernehmungen gesagt hatten.

Am neunten Verhandlungstag beispielsweise werden zwei Pflegerinnen vernommen. Es sei morgens aufgefallen, dass reihenweise Patienten „schwer erweckbar waren und eine erhöhte Schläfrigkeit hatten“, wenn Ulrich S. im Nachtdienst gewesen sei, hatte die eine bei der Polizei angegeben. „Und in deiner Schicht sterben auch auffallend viele Patienten“, habe sie sogar einmal zum Angeklagten gesagt. „Uli“ habe gelacht und erwidert: „Ja, ja, ich bringe die hier alle um.“ Was sie damals wiederum für einen Scherz gehalten habe.

Richter muss Zeugen immer wieder frühere Aussagen „vorhalten“

Daran aber kann die 30-Jährige sich erst erinnern, nachdem der Richter sie mehrfach danach fragt. Ihr die Sätze letztlich wortwörtlich aus dem Polizeiprotokoll vorliest. Ähnlich ist es bei der zweiten Zeugin. Die hatte seinerzeit zu Protokoll gegeben, dass Ulrich S. unter anderem folgendes gesagt habe: „Ich spritz denen was, dann habe ich meine Ruhe nachts, da habe ich keinen Bock drauf.“ Oder auch: „Das sind alles Zombies, die sind doch sowieso zum Sterben hier.“

Von sich aus erzählt die Pflegerin im Gerichtssaal aber nichts davon. Auch nicht, als der Vorsitzende immer wieder fragt, was Ulrich S. denn so gesagt habe. Aus Sorge, sich selbst zu belasten, weil sie womöglich viel früher hätte einschreiten können? Erst als der Richter ihr „vorhält“, was sie seinerzeit bei der Polizei ausgesagt hat, kommt langsam die Erinnerung.

Ein Verhalten, dass nicht nur dem renommierten Palliativgutacher Matthias Thöns aufstößt, der den Prozess als Sachverständiger begleitet. „Ich wundere mich, dass hier so viele Zeugen sitzen, die sich nicht mehr erinnern“, unterbricht er die Zeugin sichtlich genervt.

Richter: „Es ist kaum nachzuvollziehen, was wir hier hören“

Er habe vor 25 Jahren mal im Dienst ein schlimmes Erlebnis gehabt, da könne er sich heute noch an jedes Detail erinnern. Und angesichts solcher krassen Aussagen, wie sie Ulrich S. getätigt haben soll, verstehe er nicht, dass man sich an so etwas nach ein paar Monaten nicht mehr erinnern kann. Eine Sichtweise, die wohl auch der Vorsitzende Richter teilt. Zum wiederkehrenden Gedächtnisverlust vieler Zeugen sagt er: „Es ist kaum nachzuvollziehen, was wir hier hören.“