„Gegenoffensive erst am Anfang“Russland will zweites Charkiw-Desaster verhindern

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Ukrainische Soldaten stehen auf einem zerstörten russischen Panzer in der Region Charkiw.

Charkiw – Fluchtartig hatten sich russische Soldaten in Charkiw zurückgezogen, nachdem sie von der Ukraine regelrecht überrannt wurden. In zwei Regionen könnte sich dies schon bald wiederholen – und Russland will diesmal nicht unvorbereitet sein.

Nach der erfolgreichen Blitzoffensive der Ukraine im nordöstlichen Charkiw stehen die russischen Streitkräfte massiv unter Druck. An der Front im Osten versucht Russland am Fluss Oskil die Verteidigungslinie zu halten, während an der Südküste die russischen Truppen nach und nach von der Versorgung abgeschnitten werden. Dort wollen die Russen ein zweites Desaster wie in Charkiw mit allen Mitteln verhindern.

„Die Gegenoffensive ist erst am Anfang“

Überrascht vom Angriff in der Region Charkiw hatten russische Soldaten panikartig die Flucht ergriffen und schweres Kriegsgerät zurückgelassen. Die Russen würden die Ukraine besser mit Waffen ausstatten als der Westen, unkte man in Militärkreisen. Eine Verteidigungslinie nach der anderen hatte die Ukraine eingerissen. Die neue Front verläuft in Charkiw am 472 Kilometer langen Fluss Oskil von Norden nach Süden.

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„Der Fluss Oskil stellt selber ein so großes Hindernis dar, dass die Ukraine ihn nur schwer überqueren kann“, erklärt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Bisher kontrollieren sie nur das linke Ufer. Doch der Leiter des ukrainischen Gebiets Luhansk, Serhiy Haidai, berichtet, dass Soldaten an einer Stelle den Fluss überquert haben sollen. Ob es sich um einen neuen großen Vorstoß handelt, werden die nächsten Tage zeigen, so Reisner im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Ein Rückzug der russischen Truppen ist dort noch nicht erkennbar“, stellt er klar.

„Die Gegenoffensive ist erst am Anfang“, erklärt der Militärexperte Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). „Die weiteren Fortschritte hängen massiv davon ab, wie gut die Ukraine ihre Truppen an der Frontlinie mit Nachschub versorgen kann.“ Im Osten und im Süden der Ukraine seien die Soldaten auf weitere Munition und Sprit angewiesen.

Russland versucht nun, die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte zu verlangsamen, heißt es im Lagebericht des Militär-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW). Vereinzelt zögen sich die Soldaten auf leichter zu verteidigende Positionen zurück. Einen russischen Angriff auf die zurückeroberte Stadt Kupjansk hätte die Ukraine abgewehrt.

Selenskyj will Mariupol und Krim zurückerobern

Während die Ukraine im Osten nach und nach weitere Gebiete erobert, kommt sie im Süden deutlich schwieriger voran, erklärt Militärexperte Mölling. Dort hält Russland viele Truppen, deren Nachschubwege die Ukraine weiter zerstört. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuletzt die Rückeroberung von Mariupol, Melitopol, Cherson und der Krim angekündigt. „Denn die gesamte Ukraine muss frei sein“, so Selenskyj. Die Hafenstadt Mariupol war wochenlang umkämpft, die Krim wurde von Russland bereits 2014 völkerrechtswidrig annektiert.

Militärexperte Mölling glaubt, dass diese Ankündigung Selenskyjs auch eine Finte sein könnte, um russische Soldaten in die Flucht zu schlagen, die Kampfkraft und Moral zu schwächen und dann leichter angreifen zu können. Schnelle Erfolge erwartet er nicht. „Die Rückeroberung der Krim wird nicht in diesem Herbst oder im Frühjahr beendet sein, das wird sich wahrscheinlich noch zwei Jahre hinziehen.“

Oberst Reisner spricht ebenfalls von einer „großen Herausforderung“, Mariupol, Melitopol und Saporischschja zurückzugewinnen. „Die ukrainischen Streitkräfte versuchen, auf der Erfolgswelle weitere Eroberungen zu verbuchen, und der Vorstoß in Richtung Melitopol ist sehr verlockend, weil die Landbrücke zur Krim unterbrochen wäre.“ Reisner beobachtet, dass die Ukraine in Saporischschja Kräfte zusammenzieht, mit denen sie in Richtung Süden nach Melitopol vorstoßen könnte. Dann wären die von Russland besetzten Gebiete geteilt, in einen Ostbereich mit dem Donbass und einen Westsüdbereich mit Saporischschja, Cherson und der Krim. „Wenn dieser Vorstoß gelingt, könnte die Ukraine die Brücke zur Krim angreifen und die russischen Truppen dort von der Versorgung abschneiden.“

Charkiw-Desaster in Saporischschja?

Aus Reisners Sicht könnte es in Saporischschja zu einer ähnlichen Situation wie in Charkiw kommen: „Die Ukraine erzielt einen Durchbruch und es entsteht eine Eigendynamik, bei der russische Soldaten flüchten.“ Doch sicher sei dieser Fall keineswegs. Die Offensive könne auch an der ersten Verteidigungslinie scheitern.

Laut ISW-Lagebericht versuche die russische Militärführung in Cherson nun Lehren aus dem überhasteten Abzug in Charkiw zu ziehen und konzentriert ihre Truppen. In den vergangenen Tagen wurden bereits Rückzugsrouten vorbereitet. „Die russischen Streitkräfte haben einen kontrollierten Rückzug aus dem westlichen Gebiet Chersons vorgenommen, um eine chaotische Flucht wie in Charkiw zu verhindern.“ Nun halte sich zum Beispiel die 1. Gardepanzerarmee, eine hochgerüstete Profieinheit der russischen Armee, in einem sehr kleinen Gebiet auf. Die russische Führung, so die Einschätzung von Experte Mölling, sei sehr verunsichert und Selenskyjs Ankündigung könne dazu führen, dass Teile der russischen Verbände die Flucht ergreifen.

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An der Grenze zwischen Cherson und der Krim sollen russische Streitkräfte bereits Zivilisten und Zivilistinnen gezwungen haben, die Stellungen der russischen Armee zu befestigen. Unabhängig überprüfen lässt sich dies nicht. Das ISW geht davon aus, dass russische Streitkräfte in Erwartung ukrainischer Angriffe südlich des Flusses Dnipr Verteidigungsanlagen aufbauen.

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