Tödliche Schüsse in Dortmund„Einsatz ist nicht verhältnismäßig abgelaufen“

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Polizistinnen und  Polizisten bei dem Einsatz in Dortmund, bei dem ein 16-Jähriger erschossen wurde.

Dortmund – Carsten Dombert ist dieser Tage ein gefragter Mann. Wochenlang hatte der Oberstaatsanwalt alle Medienanfragen zu den Todesschüssen auf einen 16-jährigen Flüchtling aus dem Senegal am 8. August auf dem Gelände einer Dortmunder Jugendhilfeeinrichtung durch einen Polizeikommissar mit dem Hinweis auf die laufenden Ermittlungen abgeblockt. Einen Tag, nachdem der Landtag durch einen Bericht seiner Behörde über den Stand der Nachforschungen unterrichtet wurde, brach Dombert sein Schweigen.

Inzwischen ermitteln die Dortmunder Strafverfolger gegen fünf der zwölf eingesetzten Kräfte. Ein Polizist wurde am Freitag suspendiert, zudem wurde bekannt, dass der Polizeieinsatz mit den tödlichen Schüssen aufgezeichnet worden ist. „Wir haben eine Tonaufnahme“, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt Carsten Dombert dem „Kölner Stadt-Anzeiger” am Freitag. Der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung, der den Notruf gewählt hatte und in der Nähe des Einsatzes blieb, sei während der ganzen Zeit in der Leitung geblieben.

Gegen den Schützen prüft die Staatsanwaltschaft nun, ob nicht auch ein Totschlagsverfahren in Frage kommt. „Allerdings“, so schränkt der Behördensprecher ein, „handelt es sich eher um eine Formalie. In solchen Fällen wird dieser Tatvorwurf stets mitgeprüft. Ein Ergebnis wird erst mit dem Abschluss der Ermittlungen vorliegen.“

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Einsatzkräfte sollen nicht angemessen reagiert haben

Derzeit steht gegen den Polizeikommissar der Verdacht der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge im Raum. Gegen vier weitere Beamte, darunter den Einsatzleiter, laufen Verfahren wegen Körperverletzung im Amt beziehungsweise der Anstiftung. „Aus unserer Sicht“, führt der Oberstaatsanwalt aus, „ist der Einsatz gegen den psychisch auffälligen jungen Mann nicht verhältnismäßig abgelaufen.“ Demnach reagierten die Einsatzkräfte nicht angemessen auf den Suizidversuch des Mouhamed D.

Zunächst wurden die Beamten zur Jugendwohngruppe gerufen, weil der junge Flüchtling sich ein großes Messer vor den Bauch hielt. Als Versuche scheiterten, den Jugendlichen anzusprechen, eskalierte die Lage. Zunächst ordnete der Dienstgruppenleiter den Einsatz von Reizgas an. Mouhamed D. sprang daraufhin auf und näherte sich den Beamten.

Zweifel an der zunächst geschilderten Situation

Das weitere Geschehen scheint sich den Angaben Domberts zufolge allerdings anders abgespielt zu haben, als anfangs angenommen. Zunächst hieß es, der Asylbewerber sei auf die Beamten mit dem Messer zugelaufen. Nach zwei erfolglosen Attacken mit Elektroschockern habe der Angreifer nur zwei bis drei Meter vor den Beamten gestanden, hieß es. Offenbar in Nothilfe habe der 29-jährige Sicherungsschütze eine Maschinenpistole sechs Mal auf Mouhamed D. abgefeuert.

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Kerzen erinnern an den 16-jährigen Jugendlichen, der von der Polizei Dortmund getötet wurde.

Zeugenaussagen von Betreuern und weitere Nachforschungen lassen die Staatsanwaltschaft und die Todesermittler der polizeilichen Partnerbehörde in Recklinghausen jetzt an dieser Version zweifeln. „Es ist fraglich, ob es diese Bedrohungslage überhaupt gab“, erklärt Oberstaatsanwalt Dombert.

Wie hat der Jugendliche das Messer gehalten?

So scheint es unterschiedliche Angaben zu geben, wie Mouhamed D. das Messer hielt. Wollte er tatsächlich mit der Stichwaffe die Polizisten attackieren oder immer noch sich selbst? Befand er sich wirklich ganz in der Nähe der Einsatzkräfte? Wo waren die Beamten postiert? Handelten sie so, wie es die Einsatzvorschriften vorsahen?

Die Staatsanwaltschaft hat beim Innenministerium Material zur Einsatztaktik angefordert, um sich ein Bild zu machen. Auch wurde mit Drohnen der gesamte Tatort vermessen, um den Ablauf rekonstruieren zu können. „Doch da sind wir noch nicht am Ende“, räumte Dombert ein.

Einsatz lässt sich besser rekonstruieren als gedacht

Ferner sollen Akustikexperten des Bundeskriminalamts ein Gutachten erstellen, um den Ablauf des Einsatzes chronologisch zu dokumentieren. Wie jetzt bekannt wurde, lässt ich der umstrittene Einsatz offenbar besser rekonstruieren als bislang gedacht. „Wir haben eine Tonaufnahme“, sagte Dombert. Der Betreuer der Jugendhilfeeinrichtung, der den Notruf gewählt hatte und in der Nähe des Einsatzes blieb, sei während der ganzen Zeit in der Leitung geblieben.  

Auf dem Band seien der Betreuer und der Polizeibeamte in der Leitstelle zu hören. Im Hintergrund höre man auch Menschen sprechen und Knallgeräusche. 

Bislang gilt die Unschuldsvermutung

Die Ermittlungen in dem Fall werden noch wohl einige Wochen in Anspruch nehmen. Zur Frage einer Anklage wollte sich Dombert nicht äußern. „Nach wie vor gilt für alle Beamten die Unschuldsvermutung.“ Überdies wies er jegliche Kritik zurück, wonach die Polizei in Recklinghausen wegen zu großer Nähe zu den Kollegen in Dortmund nicht ordentlich ermittelt habe. „Das ist kompletter Unfug, alle Beamten bis hin zur Polizeipräsidentin arbeiten mit großem Nachdruck an dem Fall.“

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Nach der Ausweitung der Ermittlungen ist der Todesschütze jetzt nach Auskunft der Dortmunder Polizei suspendiert worden. Vier andere Beteiligte wurden intern versetzt.  

SPD sieht Reul in der politischen Mitverantwortung

Ibrahim Yetim, Innenexperte der SPD im Landtag, sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, die Ausweitungen der Ermittlungen überraschten ihn nicht. Es sei „besorgniserregend, dass die Beamten in dieser Situation überhaupt auf die Idee gekommen sind, eine Maschinenpistole aus dem Kofferraum zu holen“, so Yetim. „Durch die Null-Toleranz-Strategie von Herbert Reul sehen sich Polizisten offenbar befugt, überhart durchzugreifen, sagte der SPD-Politiker“. Daher trage auch der Innenminister „eine politische Mitverantwortung“ für die Eskalation.

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Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen.

„Die Beamten hatten es hier mit einem psychisch kranken Jugendlichen zu tun, und nicht mit einem Islamisten mit einem Sprengstoffgürtel, so Yetim.

Auch Marc Lürbke, innenpolitscher Sprecher der FDP, kritisierte Innenminister Reul. „Der Bericht des Innenministers öffnet Tür und Tor für Stimmungsmache, weil die entscheidenden Fragen offen bleiben“, so der FDP-Politiker. Reuls „Salamitaktik“ bei der Aufklärung wirke „wie ein Brandbeschleuniger“ für die öffentliche Diskussion. Durch die „Häppchenstrategie“ bringe sich die schwarz-grüne Landesregierung „immer mehr selbst in Bedrängnis“.

CDU und Gewerkschaft warnen vor Vorverurteilung

Michale Maatz, Vize-Chef der Gewerkschaft der Polizei in NRW sieht das anders. Er sagte gegenüber unserer Zeitung, Ermittlungen wegen Köperverletzung im Amt könnten vorkommen, wenn bei Einsätzen körperlicher Zwang im Spiel war. „Die Untersuchung von Vorwürfen gegen die Polizei ist ein Routinevorgang. Das heißt aber nicht, dass sich die Beamten tatsächlich falsch verhalten haben. Auch im Fall Dortmund sind Vorverurteilungen vollkommen unangebracht. Bis zum Abschluss der Ermittlungen gilt die Unschuldsvermutung“, so Maatz.

Gregor Golland, Innenexperte der CDU, sieht das ähnlich. „Ich warne vor Vorverurteilungen und Generalverdächtigungen gegenüber unserer Polizei, die jeden Tag auch unter schwierigen Bedingungen für unsere Sicherheit sorgt“, so der Landtagsabgeordnete. „Die unabhängige Staatsanwaltschaft ermittelt noch - und bewiesenes Fehlverhalten einzelner wird in unserem Rechtsstaat konsequent geahndet.“ Am Donnerstag kommt der Justizausschuss des Landtags zu einer Sondersitzung zu dem Vorgang zusammen.

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