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Unterwegs auf PatrouillenbootWie die Ukraine Russlands Vormacht im Schwarzen Meer trotzt

Lesezeit 8 Minuten
ARCHIV - 22.02.2024, Ukraine, Odessa: Ein Frachter läuft am frühen Morgen aus dem Hafen von Odessa auf das Schwarze Meer aus. (zu dpa: «USA: Russland und Ukraine wollen zivile Schifffahrt absichern») Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Ein Frachter läuft am frühen Morgen aus dem Hafen von Odessa auf das Schwarze Meer aus (Archivbild). Die Ukraine hält der russischen Marine einiges entgegen. 

Keine Flotte, kaum Ressourcen – dennoch hält die Ukraine Russlands Marine in Schach. Auf dem Schwarzen Meer gelingt Kiew ein überraschender Erfolg.

Nur 20 Minuten haben die Marinesoldaten bei Luftalarm Zeit, sich auf ihrem Patrouillenboot einzufinden und aus dem Hafen von Odessa auszulaufen. Die Besatzung um Kapitän Mykhailo ist Teil der Luftabwehr der ukrainischen Metropole, die mehrfach in der Woche mit Drohnen oder Raketen angegriffen wird. In dieser Nacht sind es mehr als 20 Shahed-Drohnen iranischen Ursprungs, die Russland übers Schwarze Meer nach Odessa geschickt hat.

Je näher die Drohnen ihrem Ziel kommen, desto lauter ertönt das bedrohliche Surren der Drohnenpropeller. Ein Geräusch, das auch die Reporter aus Deutschland nervös macht. Dann erschüttern über mehr als eine Stunde hinweg immer wieder schwere Explosionen die Stadt. Nach Angaben der ukrainischen Behörden werden mindestens zwei Menschen getötet und 15 weitere verletzt.

„Wir haben einige der Drohnen getroffen, aber ich weiß nicht, ob wir sie zerstört haben“, sagt der Kapitän später. „Für mich sind diese Angriffe sehr persönlich.“ Er stammt selbst aus Odessa, hier leben auch seine Ehefrau und seine Eltern. Nach nur drei Stunden Schlaf läuft Mykhailos Mannschaft am Vormittag erneut zu einer Patrouille aus.

Strenge Sicherheitsvorkehrungen für Reporter auf Patrouillenboot der Ukraine

Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng. Die Reporter müssen die Ortungsdienste ihrer Handys ausschalten und die Geräte in den Flugmodus versetzen. Soldaten dürfen nur mit Vornamen, der Name des Bootes und dessen Rumpfnummer gar nicht genannt werden. Insignien auf Uniformen müssen auf Fotos ebenso unkenntlich gemacht werden wie Details der Küste, aus denen die Russen Rückschlüsse für Angriffe ziehen könnten.

Neben der Luftabwehr hat Mykhailos Mannschaft eine weitere wichtige Aufgabe: Seeminen aufzuspüren und zu zerstören, damit Frachtschiffe Odessa erreichen können. Marinesprecher Dmytro Pletenchuk sagt, man wisse von rund 400 Stück, die Russland gelegt habe. Als besonders gefährlich gelten frei schwimmende Minen, die sich unberechenbar mit Strömung und Wellen bewegen.

Russland blockiert ukrainische Schwarzmeer-Häfen

Für die Ukraine, aber auch für die Welternährung sind offene Schifffahrtswege im Schwarzen Meer von gewaltiger Bedeutung. Vor dem russischen Überfall im Februar 2022 hat die Ukraine rund 90 Prozent ihrer Im- und Exporte darüber abgewickelt. Danach blockiert Russland die ukrainischen Häfen monatelang. Befürchtet werden damals Hungersnöte im Globalen Süden: Viele Länder Afrikas und des Nahen Ostens sind auf ukrainisches Getreide angewiesen.

Die Russen haben sich verhalten wie Piraten
Schwarzmeer-Experte Dmytro Barinov

„Niemals zuvor in der Geschichte hat ein Land ein ganzes Meer blockiert“, sagt Schwarzmeer-Experte Dmytro Barinov, der damals Vizechef der ukrainischen Hafenbehörde gewesen ist. „Die Russen haben sich verhalten wie Piraten.“ Unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei wird im Juli 2022 zwar ein Getreideabkommen ausgehandelt, das der Ukraine Exporte erlaubt. Nur ein Jahr später kündigt Russland es aber wieder auf. Moskau droht zugleich damit, alle Schiffe, die ukrainische Schwarzmeerhäfen anlaufen, als potenzielle militärische Ziele einzustufen. „Russland hat versucht, die ganze Welt zu erpressen“, sagt Barinov.

„Größter Erfolg der ukrainischen Verteidigung“

Trotz der russischen Drohung gelingt es der Ukraine, den Schiffsverkehr über das Schwarze Meer wieder zu ermöglichen. Die Frachter nehmen eine Route entlang der Küsten der Nato-Staaten Bulgarien und Rumänien. Ein weiterer Faktor: Die militärische Abschreckung durch die Ukraine - was umso bemerkenswerter ist, als dass das Land keine größeren Kriegsschiffe im Schwarzen Meer hat. Unter anderem durch den Einsatz von Seedrohnen und Raketen fügt die Ukraine der berüchtigten russischen Schwarzmeerflotte dennoch so schweren Schaden zu, dass die meisten der verbliebenen Schiffe im sicheren russischen Hafen von Novorossiysk Schutz suchen.

„Das ist nach meiner Einschätzung der größte Erfolg der ukrainischen Verteidigungskräfte“, sagt Marinesprecher Pletenchuk. „Wir kontrollieren den Großteil des Schwarzen Meeres.“ Kapitän Mykhailo will zwar nicht von einem Sieg der Ukraine im Schwarzen Meer sprechen. „Aber ich kann sagen, dass es ein echter Erfolg ist. Wir ermöglichen unserer Wirtschaft, zu arbeiten.“ Russische Kriegsschiffe hätten einst nur rund 20 Kilometer vor der ukrainischen Küste gelegen. „Jetzt haben die Russen Angst, ihre Häfen zu verlassen.“

Odessa leidet unter russischen Angriffen

Im Hafen von Odessa erinnern zerstörte Gebäude daran, dass Russland weiterhin aus der Luft angreift. Unübersehbar ist dort aber zugleich, dass der internationale Frachtverkehr läuft, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau als vor dem russischen Überfall. Lastwagen fahren über das weiträumig abgeriegelte Gelände, auf das Journalisten nur mit Ausnahmegenehmigung der Marine kommen. Lokomotiven ziehen Güterwaggons mit der ukrainischen Aufschrift „Getreide“ zu den Kais, auf denen sich gigantische Kräne drehen. Auf einem davon ist in großen Lettern „Kranbau Eberswalde“ zu lesen.

Im vergangenen März sind nach Angaben der Regierung in Kiew bei russischem Raketenbeschuss vier syrische Seeleute auf einem Getreidefrachter im Hafen getötet worden. Die Frachtschiffe, die gerade im Hafen liegen, haben offenbar ihre Transponder ausgeschaltet, um ihre Position zu verschleiern und nicht zum Ziel russischer Angriffe zu werden. Auf Echtzeit-Tracking-Plattformen wie VesselFinder.com oder MarineTraffic.com wird als ihr Ziel jeweils nicht Odessa, sondern der rumänische Schwarzmeerhafen Sulina angegeben. Unter den Schiffen ist eines unter liberianischer Flagge, andere sind etwa in Guinea-Bissaus oder Togo registriert. Vor der Küste liegen zahlreiche weitere Frachter, die auf die Einfahrt warten.

Ukrainisches Patrouillenboot wurde von den USA genutzt

Mykhailos Patrouillenboot passiert bei der Ausfahrt einen Leuchtturm, an dessen Fuß eine Maschinengewehrstellung mit Sandsäcken geschützt ist. Der Kapitän nimmt Kurs nach Süden, vorbei an Hotels und Apartmentkomplexen, an Stränden und dem Vergnügungsviertel Arkadia. In der Ferne glitzern die goldenen Kuppeln einer orthodoxen Kirche in der Sonne. Mykhailo ist erst 26 Jahre alt, seit er volljährig ist, dient er in der Marine. „Schon mein Großvater und mein Vater waren beim Militär“, sagt er auf der Brücke, dem Kommandostand des Bootes. „Das ist das Schicksal meines Lebens.“

Am Frontfenster der Brücke lehnt eine Ikone, die den heiligen Nikolaus von Myra zeigt, er ist Schutzpatron unter anderem der Seefahrer. Zwar mag der Dienst auf dem Patrouillenboot weniger gefährlich sein als der im Schützengraben an der Front, Beistand können die Marinesoldaten trotzdem gebrauchen: Erst wenige Tage zuvor seien sie von einer russischen Seedrohne angegriffen worden, sagt Mykhailo.

ARCHIV - 21.03.2025, Ukraine, Odessa: Städtische Arbeiter räumen auf, nachdem russische Drohnen während des nächtlichen Angriffs Geschäfte getroffen haben. (zu dpa: «Was die US-Gespräche mit Kiew und Moskau in Riad bringen») Foto: Michael Shtekel/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Zerstörungen in Odessa (Archivbild vom März 2025)

Fast alle Beschriftungen an Bord sind auf Englisch, das 1986 gebaute graue Patrouillenboot der sogenannten Island-Klasse wurde einst von der US-Küstenwache genutzt. 2019 überließen es die USA der Ukraine. Am Heck und an den Seiten ist es mit Maschinengewehren bewaffnet. Den Bug dominiert eine Bordkanone, mit der die Besatzung Seeminen aus dem Wasser sprengt oder Drohnen jagt. Ein Haufen an Geschosshülsen unter dem Geschütz deutet darauf hin, wie häufig es zum Einsatz kommt.

Die Kanone gehört nicht zur Originalausstattung. Sie stammt aus den 1970ern und ist damit älter als jeder in der Mannschaft, das genaue Baujahr weiß niemand an Bord. Die kyrillische Beschriftung verrät: Das Geschütz kommt noch aus der Sowjetunion. Es ist ein Beispiel für das Improvisationstalent der ukrainischen Truppen, die sich seit drei Jahren mit Waffen unterschiedlichster Herkunft und Bauart gegen die russischen Angreifer verteidigen.

Machtverhältnisse auf dem Schlachtfeld

Zwar gelingt es der Ukraine bis heute, sich gegen die Besatzer zur Wehr zu setzen. Eine Erfolgsgeschichte wie die auf dem Schwarzen Meer ist an Land aber nicht absehbar, im Gegenteil. Die russischen Truppen rücken besonders im Osten langsam, aber stetig vor. Das ursprüngliche Maximalziel der Regierung in Kiew ist es gewesen, die Russen aus allen besetzten Gebieten zu vertreiben – inklusive der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. Mykhailo hält das angesichts der Machtverhältnisse auf dem Schlachtfeld nicht für realistisch. „Das ist nur meine persönliche Meinung, aber ich sehe nicht, wie uns das gelingen sollte.“

Die Krim gehört zur Ukraine
Kapitän Mykhailo

US-Präsident Donald Trump hat kürzlich eine mögliche Anerkennung der 2014 von Kremlchef Wladimir Putin völkerrechtswidrig annektierten Krim ins Spiel gebracht. Das wäre eine Kehrtwende der Politik seiner ersten Amtszeit, als die USA die Annexion ablehnten und sich verpflichteten, „diese Politik beizubehalten, bis die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist“. Mykhailo meint dazu: „Ich kann nicht sagen, dass mich das glücklich macht. Die Krim gehört zur Ukraine.“ Letztlich müssten über Fragen von solcher Tragweite aber andere als er entscheiden. „Ich bin Soldat und befolge Befehle.“

Zwangsrekrutierungen: Die Ukraine hat zu wenig Soldaten

Auch Yurii ist Soldat, der 30-Jährige ist einer der Bordschützen unter Mykhailos Kommando. Anders als der Kapitän ist er nicht freiwillig bei der Marine, sondern einem der Trupps in die Fänge geraten, die Männer im wehrfähigen Alter auf der Straße stoppen und zwangsrekrutieren. Das umstrittene und oftmals gewaltsame Vorgehen demonstriert, welche Ausmaße der Truppenmangel bei den ukrainischen Streitkräften inzwischen angenommen hat.

Der Soldat wider Willen ist froh, dass er immerhin nicht als Infanterist an die Front geschickt worden ist. Yurii hat als Kellner im Hotel Nemo gearbeitet, einem Luxus-Strandresort in Odessa, an dem auch die heutige Patrouille vorbeiführt. Auf seinem Handy zeigt er Fotos von einem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der mit Hotelpersonal posiert. „Hier an Bord ist es zwar weniger komfortabel als in meinem Hoteljob“, sagt Yurii. „Aber es ist komfortabler, als sich ständig vor den Rekrutierungstrupps zu verstecken. Und die Besatzung ist großartig.“

Yurii sagt, für ihn wäre es inakzeptabel, die Krim an Russland abzutreten. „Ich habe Verwandtschaft und Besitz auf der Krim.“ Auch andere Ukrainer dächten wie er. Selbst wenn Russland auf absehbare Zeit die Kontrolle über die Halbinsel behalte, so ist Yurii überzeugt: „Wir werden sie uns irgendwann zurückholen.“ Das werde womöglich erst im nächsten Jahrzehnt geschehen. „Aber am Ende wird die Krim zur Ukraine gehören.“ (Mitarbeit: Yurii Shyvala)