27 Mal Lymphknoten abtastenWie sich mein Leben als Hypochonder während Corona anfühlt

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Schauspieler Dany Boon als Romain Faubert im Kinofilm „Super-Hypochonder“.

  • Es ist nachgewiesen, dass sich die Hypochondrie in Krisenzeiten praktisch auflöst. Weil das reale Leid so präsent ist, dass es wenig Platz gibt für eingebildete Krankheiten.
  • Mit Corona ist das für unseren Autoren, der selbst Hypochonder ist, etwas anders: Sie trifft ihn im Kern seiner Ängste.
  • Er erzählt, wie sich sein Leben nun gestaltet, was die Angst mit seinem sozialen Umfeld macht und wann er sich einen Viren-Schutzanzug wünscht.

Köln – Ich habe eine App, die mir minütlich die Neuinfizierungen in aller Welt anzeigt. Ich lese alles über Pandemiekurven, präsymptomatische Übertragungen und wie man die Ansteckungsrate auf unter 1 halten kann. Wenn die Sache hier besser ausgeht als ich es mir ausmale, könnte ich mich wahrscheinlich als Wissenschaftsredakteur einstellen lassen. Oder zumindest als Pförtner beim Robert-Koch-Institut. Ich weiß jetzt alles über Viren. Gut, ein bisschen hatte ich mich auch schon vorher damit beschäftigt. Was damit zusammenhängt, dass ich in ständiger Furcht vor ihnen lebe: Ich bin nämlich Hypochonder mit dem besonderen Spezialgebiet der Erkältungsphobie.

Meine Frau findet, ich übertreibe ein bisschen. Man müsse auch nicht jede Milchtüte mit Desinfektionsspray absprühen. Oder gleich Schnappatmung bekommen, wenn ein Paket geliefert wird, von dem man nicht weiß, wer es angefasst hat. Aber in Fragen der Epidemiologie lasse ich mir ungern reinreden. Nicht von Demonstranten sogenannter Hygiene-Demos und schon gar nicht von meiner Frau. Eine gemeinsame Freundin hat ihr neulich, nachdem sie zusammen spazieren waren (ich hatte erfolglos versucht, es zu verbieten), ein Stück Kuchen für mich mitgegeben. Es war eingewickelt in Papier, auf das sie einen Kussmund mit ihrem Lippenstift hinterlassen hatte. Sicher gut gemeint, aber leider das falsche Zeichen. Natürlich habe ich den Kuchen sofort entsorgt.

Hypochonder Andreas Wenderoth

Andreas Wenderoth ist Hypochonder.

Es ist nachgewiesen, dass sich die Hypochondrie in besonderen Krisenzeiten, etwa bei Kriegen, praktisch auflöst. Weil das reale Leid so präsent ist, dass es wenig Platz gibt für eingebildete Krankheiten. Bei der Corona-Krise ist das ein bisschen anders: Sie trifft mich im Kern meiner Ängste. Denn sie bestätigt alle meine Befürchtungen auf erschreckende Weise. Ich weiß mich nun im Recht, wenn ich meine Mitmenschen als furchtbare Bedrohung betrachte. Anders als die Geheimdienste verstehe ich unter einem „Gefährder“ ja etwas völlig anderes: Wie viele Viren und Bakterien trägt ein Mensch in sich und warum gerade in meiner Gegenwart?

Mein persönlicher Shutdown

Gestern hat meine Frau mir die Zeitung auf den Frühstückstisch gelegt. Direkt neben meinen Teller. „Bist Du wahnsinnig?!“, habe ich sie angefahren. Später wollte sie mir einen Kuss geben (wieso das denn?), was aufgrund meines Mundschutzes zurzeit nicht ganz einfach ist. Sie findet, ich habe das mit dem Mindestabstand möglicherweise falsch verstanden. Er gelte nicht für Paare: „Wenn es der eine bekommt, hat es der andere doch sowieso“, sagt sie. Das soll mich beruhigen?

Buchtipp

Andreas Wenderoth: Nur weil ich Hypochonder bin, heißt das ja nicht, dass ich nichts habe – Eine Anamnese“, Fischer Taschenbuch, 272 Seiten, 14,99 Euro.

Mein persönlicher Shutdown begann bereits, als das Wort Corona noch niemand kannte, zumindest nicht in einem außeralkoholischen Zusammenhang. Die Ausgangssperre war für mich deshalb auch keine besondere Prüfung. Sie setzte nur allgemeingültig um, was ich sowieso immer tue. Niemand hat die Anordnungen zur sozialen Distanzierung so konsequent umgesetzt wie ich. Man könnte sagen: Ich bin Söders bester Junge. Selbstverständlich trage ich schon seit Jahren Atemschutzmasken, wenn ich in der Grippezeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss.

Vorrat an Desinfektionsmittel

Die Knappheit an Desinfektionsmitteln konnte mich nicht überraschen, denn ich war bestens vorbereitet. Meine Privatlager sind prall gefüllt, denn auch in vermeintlichen Friedenszeiten steht in jedem Raum der Wohnung mindestens ein Fläschchen. Nur bei den Atemmasken habe ich leider etwas spät reagiert. Den umfangreichsten Teil meiner Wohnung nimmt seit jeher die Hausapotheke ein. Würde man sie komplett entfernen, könnte man an ihrer Stelle mühelos einen Parkplatz errichten. Weil ich ein besonderes Verhältnis zu Krankheiten habe, fahre ich traditionell zur Winterzeit alle sozialen Kontakte herunter. Keine Essenseinladungen, kein Kino oder Theaterbesuche, dafür erarbeite ich Notfallprogramme für zuhause. Denn bereits unter Normalumständen führt jede Erkältung meiner Frau zum Ausnahmezustand, der zu sofortiger Trennung der Schlafzimmer und Ausarbeitung genauer Belegungspläne für Bad und Küche mündet.

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Wenn es stimmt, dass Gedanken Energie sind, dann sind die Gedanken eines Hypochonders Supernova-Explosionen. Im Moment taste ich meine Lymphknoten etwa 27 Mal am Tag ab. Denn man sollte schon wissen, wenn es mit einem bergab geht. Ein Gluckern im Magen, ein Ziehen im Hals, das Schlagen des Herzens – die Sinfonie des Körpers hält mich schon normalerweise gehörig auf Trab. Ich würde mich als guten Zuhörer bezeichnen und wenn mir irgendwas unregelmäßig erscheint oder gar weh tut, würde ich das niemals vernachlässigen. Meistens höre ich es ja bereits bevor es weh tut.

Vernunft gegen Angst

Im weitesten Sinne würde ich mich schon als „vernunftbegabt“ bezeichnen, allerdings hat die Vernunft bei mir einen schweren Stand: Sie muss sich nämlich gegen die Angst behaupten. In der Regel verliert sie das Duell. Das liegt daran, dass die Angst die besseren Waffen hat. Es ist so, als würde man einen Panzer gegen einen Reiter mit Pfeil und Bogen antreten lassen. Der Reiter hat eigentlich nur dann eine Chance, wenn dem Panzer das Benzin ausgeht. Oder alle Panzerinsassen so vollständig betrunken sind, dass sie ihn übersehen. Es müssen also schon relativ viele günstige Umstände zusammen kommen, damit der Reiter einigermaßen gesund davonkommt. Das in etwa ist die Situation, in der ich mich befinde. Normalerweise. Natürlich hat sich das Kräfteverhältnis im Moment nicht gerade zu meinen Gunsten verschoben.

Die Natur hat den Hypochonder sehr bewusst als Einzelgänger angelegt. Um andere nicht zu sehr zu belasten. Aber auch, weil er sich selbst in der Regel völlig ausreichend ist. Niemand hat so tiefes Verständnis für ihn und seine Befindlichkeiten wie er selbst. Niemand ist so verzeihend gegenüber seinen kleineren Schwächen wie er. Das kann dazu führen, dass es um ihn herum etwas einsam wird. Aber die Wahrheit ist: Man ist nie ganz allein. Noch nicht einmal im eigenen Körper. Auf jede Körperzelle kommt nämlich mindestens eine Bakterie. Addiere ich das mal eben mit dem Taschenrechner, gelange ich zu der erschütternden Zahl von mindestens 30 Billionen Bakterien, die sich in mir versammelt haben. Das ist so, als hätte ich gleichzeitig 4000 Mal mit der Weltbevölkerung zu tun. Von wegen Einsamkeit.

Das Leben mit meiner Frau

Meine Frau ist Rheinländerin. Sie kann den ganzen Abend mit vielen Menschen verbringen und freut sich schon am nächsten Tag auf das gemeinsame Frühstück mit ihnen. Ich dagegen weiß beim besten Willen nicht, was es am nächsten Tag noch zu besprechen gäbe. Alles ist doch dann bereits gesagt. Ich habe es keinesfalls als Verlust betrachtet, keine Menschen zu treffen.

Im Gegensatz zu mir ist meine Frau äußerst gesellig und prinzipiell eher sorglos, was Fragen der Virologie angeht. Während ich ständig introspektiv in mich hinein fühle, weiß sie noch nicht einmal, wann sie Fieber hat (und würde dem auch keinerlei Bedeutung zumessen). Stattdessen hat sie sich massiv beschränkt gefühlt ohne den Kontakt mit Freunden und Kollegen und fieberte geradezu unerträglich den Lockerungen entgegen. Und selbst im Shutdown ließ sie sich nicht davon abhalten, intensiv mit Nachbarn im Treppenhaus zu plaudern, während ich in solchen Momenten bis heute nur eines kenne: sofortige Flucht.

Zum Glück bin ich mit meiner Angst nicht allein. Täglich tausche ich mich mehrmals am Telefon mit meinem Hypochonder-Freund Hans aus, der als Herzphobiker die Notfallstationen der Krankenhäuser seit Jahren mit eingebildeten Herzinfarkten auf Trab hält. Hans betreibt die Sache noch ein bisschen gründlicher als ich. Er liest jede internationale Studie zur Corona-Forschung und sieht jede andere Meinung als seine eigene als Verharmlosung unwissender Schwachköpfe. Seinem Menschenbild (schon in besseren Zeiten desaströs) tut dies nicht gut. Aber er hat sich zu einem beispiellosen Akt der Selbstlosigkeit entschlossen: Neulich hat er mir nämlich angeboten, mir einen seiner insgesamt sechs (!) Viren-Schutzanzüge abzutreten, falls sich die Lage zuspitzen sollte.

Aufkommende Panik

Genau das ist gestern passiert. Eher zufällig bemerkte ich, wie sich meine Frau wiederholt räusperte, als sie mich außer Hörweite wähnte. Ich habe sie natürlich direkt gestellt. Wie immer hat sie zunächst alles bestritten, aber nach intensiver Befragung hat sie schließlich „irgendwas Raues im Hals“ zugegeben, das sie nicht zuordnen könne (ich kann es schon!). Heute Morgen läuft ihr dann auch noch die Nase. „Wahrscheinlich nur „ne Allergie…“, versucht sie mich zu beruhigen. Was ihr natürlich nicht gelingt. „Wie kannst du mir so etwas antun?“, frage ich vorwurfsvoll. Es ist schon recht egoistisch, sich ausgerechnet jetzt zu erkälten. Insbesondere in meiner Gegenwart.

In aufkommender Panik rufe ich den Menschen an, auf den ich mich in solchen Momenten am meisten verlassen kann. „Hans, es ist soweit“, sage ich. „Ich brauche einen von deinen Schutzanzügen...“ Ich weiß nicht, wie meine Frau es aufnehmen wird, aber ich denke, sie wird sich daran gewöhnen.

Der Artikel erschien zuerst in dem Schweizer Magazin „Reportagen“.

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