„Aber ich verzweifle nicht”

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"Ich tue immer so gewiss, dabei kann mich alles umwerfen." Unterwegs mit Elke Heidenreich auf dem Weihnachtsmarkt.

"Ich tue immer so gewiss, dabei kann mich alles umwerfen." Unterwegs mit Elke Heidenreich auf dem Weihnachtsmarkt.

Ein Gang durch die Stadt als Weg zum Gespräch. Dieser Gedanke steht im Zentrum einer Serie, mit der wir in loser Folge Zeitgenossen vorstellen.

Ein Blick die Treppe hinunter zum Alter Markt. Glühweingerötete Gesichter. Aufgeregte Kinder. Großeltern, die verwöhnen dürfen. Vertraute Düfte: Diese vorweihnachtliche Mischung von Bratwurst, Waffeln, Glühwein und Gewürzen, gelegentlich auch Parfüm. Wir tauchen ein in das erleuchtete Gewirr am Fuß der Treppe.

„Warum wollen Sie auf einen Weihnachtsmarkt“, frage ich Elke Heidenreich. „Diesen mag ich. Aber es gibt zu viele in Köln. Und so viele hässliche. Der Hässlichste ist auf dem Rudolfplatz. Nur Kunstgewerbe, da kommen mir die Tränen in die Augen. Dann die Touristenfalle am Dom. Der Dritthässlichste ist auf dem Neumarkt.“ Sie hält inne: „Die werden alle böse auf mich sein.“ Sie zögert, aber nur einen kurzen Moment: „Egal. Auf einen Weihnachtsmarkt gehören Kerzen, Christbaumschmuck, Krippenfiguren, kleine nette Geschenke, vielleicht aus Wolle, aber bestimmt nicht Handtaschen und Pantoffeln. Und auch nicht solche Bilder.“ Sie zeigt auf den Stand hinter ihr. Die Verkäuferin ist mit ihrem Handy beschäftigt. „Ein bisschen Musik, aber kein Gedudel. Dann gefällt es mir.“ Sie zieht mich zu einem anderen Stand mit kleinen Glasfiguren: „Das ist schön. Weihnachten beginnt in Deutschland zu früh. Am ersten Advent war früher das erste Lichtlein. Dann begann die Weihnachtsvorbereitung. Advent, Ankunft in der Zeit.“

Elke Heidenreich entscheidet: „Jetzt trinken wir Glühwein. Das gehört zum Weihnachtsmarkt.“ Und nimmt sich doch sofort wieder zurück: „Oder? Ich will Ihnen nichts aufdrängen.“ Der Glühwein ist weniger süß als befürchtet. Was macht sie Heiligabend? „Nachmittags gehe ich mit meinem Mann - wir leben getrennt - durch die Stadt. Wir kehren ein, wo geöffnet ist, trinken hier und da ein Gläschen Champagner. Lassen das Jahr Revue passieren. Und schenken uns kleine Sachen. Dann geht jeder nach Haus. Er zu Weib und Kindern. Ich zu meinen Katzen.“ - „Wie viele?“ - „Früher fünf, jetzt zwei.“ - „Merken Ihre Katzen, dass Weihnachten ist?“ - „Ich verstecke ihnen ein paar leckere Sachen. Auf der Treppe und überall im Haus. Weil ich ihnen so gerne zusehe, wie sie erstaunt sind, stehen bleiben und fressen.“

„Hallo Frau Heidenreich“, ruft eine Frau, die ihrem kleinen Hund vor dem Bauch hält wie ein Baby. „Ist das Ihr Jesuskindlein?“ fragt Elke Heidenreich. Sie freut sich, wenn Menschen sie ansprechen und sogar um Buchtipps bitten. Vor allem Frauen wünschen sich für den Urlaub gute Tipps, damit ihre Männer etwas beschäftigt sind und ihnen ein wenig Ruhe lassen.

Wir entfliehen dem Trubel des Weihnachtsmarktes und setzen uns in ein Restaurant. Sie isst alles außer Fische. Alle Gerichte aus dem Wasser lösen allergische Reaktionen aus. Auch hier Flüstern: „Das ist doch die Heidenreich.“ Offene Ansprache. Aufmerksamkeit. Zuspruch. Elke Heidenreich ist ein Mensch, den andere gerne anfassen.

„Was verbinden Sie mit Weihnachten?“ - „Weihnachten wurde ich von meinen Pflegeeltern zur Mutter nach Hause geschickt. Die glaubte überhaupt nicht an Gott und sagte immer: Von jemandem, an den ich nicht glaube, feiere ich auch keinen Geburtstag. Es gab keinen Baum, kein Weihnachten. Das war schwer für ein Kind.“ - „Und heute?“ - „Heute lebe ich ähnlich. Kann ich darüber lachen.“ Sie lacht aber nicht. „Haben Sie einen Tannenbaum?“ - „Nöö, das ist mir nicht wichtig. Ich habe ja auch keine Kinder. Für wen soll ich das machen?“ - „Für Sie selbst.“ - „Ich brauche keine strahlenden Augen und keinen Lichterglanz. Ich spiele Klavier und zünde mir einige Kerzen an. Weihnachten ist Ruhe, Besinnung, Frieden, das Weihnachtsoratorium von Bach: Jauchzet, frohlocket.“

Sie schüttet mir Wein nach und singt: „Zion streckt ihre Hände aus. Doch da ist niemand, der sie tröstet.“ - „Kein Gott?“ - „Mein Pflegevater war Pfarrer. Ich habe seine Predigten gerne gehört. Und geglaubt. Dann habe ich Religionswissenschaften studiert. Um zu erkennen, was die Welt im Innern zusammenhält. Und fühlte: Da ist nichts. Wir sind allein. Wir sind allein gekommen. Wir gehen allein. Das ewige Leben sagt mir nichts. Ich bin nicht gläubig. Seitdem spielt Weihnachten für mich keine Rolle mehr. Das könnte ich entbehren.“

„Können Sie auch den Dom entbehren?“ - „Für mich ist der Dom, sind unsere Kirchen wunderbare Stätten der Kultur. Was würde uns an Musik und Architektur und Malerei fehlen, wenn es das nicht gäbe? Ich will es gar nicht abschaffen. Für mich spielt der Mann in Rom überhaupt keine Rolle. Und der Mann da oben“, einen Augenblick lang zögert sie, „eigentlich auch nicht. Vielleicht falte ich in der Todesstunde die Hände und komme irgendwo an. Aber da ist niemand, der uns lenkt. Wir müssen da allein durch. Wir haben nur diese eine Chance zu leben. Zwei Drittel sind bei mir schon herum. Mehr. Drei Viertel. Ich denke darüber nach, was wir aus unserem Leben machen können.“

Mir klingt das alles so gewiss. „Ich tue immer so gewiss“, antwortet sie, „dabei kann mich alles umwerfen. Ich sage heute nein, nie. Und morgen mache ich es doch. Aber mit Gott hadere ich sehr. Weil ich ihm als Kind und Studentin so nahe war. Und ihn nirgends wieder finde.“ - „Wo haben Sie ihn verloren?“ - „Ich traue mich kaum, es zu sagen, weil es so albern klingt: Bei Krieg und Folter, KZ, Chile, Pol Pot, Saddam. Wie böse sind wir Menschen doch, wenn wir sein Ebenbild sind. Einen solchen Gott will ich nicht haben. Oder nehmen Sie Jesus, ein gefolterter Mensch. Das ist mir zu bitter. Da geht es mir wie Christa Wolf in ihrem Buch »Kein Ort. Nirgends«. Ich muss durch die Schlucht. Also muss ich über das Seil gehen. Ich kann es. Ich brauche keine schützende Hand mehr.“ - „Und als Sie an Krebs erkrankten?“ - „Da habe ich nicht gefragt: Lieber Gott, warum ich? Eher umgekehrt: Als es mir gut ging, fragte ich, warum trifft es die anderen? Ich war oft krank, mit 23 Jahren wurde ein Lungenflügel entfernt. Viele dachten, ich verzweifle. Aber ich verzweifle nicht. Der Krebs greift um sich. Es wird dauernd gestorben. Jede vierte Frau hat Brustkrebs. Wir leben in einer Welt des Schreckens. Nun hat ein Schrecken mich erwischt. Auch ich habe Angst und weine und liege im Bett und fürchte mich. Aber ich lebe. Ich glaube, dass ich es packe. Wollen Sie noch mein Schäfchen sehen?“

Ich will. Aber zuvor erhält der Restaurantchef das gewünschte Autogramm, für seine Frau und ihn, persönlich mit Namen. Auch der Kellner lobt ihre Sendung „Lesen!“.

Für Elke Heidenreich sind die Feuilletons für die Intellektuellen da. Sie will die Verkäuferin bei Stüssgen für Bücher gewinnen. Das scheint ihr zu gelingen. „Es ist ein ganz dämliches Schäfchen“, sagt sie, „ich besuche es seit über 30 Jahren.“ Fast hastig überqueren wir den lauten Weihnachtsmarkt am Dom. Nur einmal bleibt sie stehen und zeigt auf den Dom: „Kennen Sie den Blick von der Rheinseite mit dem Baum? Das ist der schönste.“

Die elektrischen Glastüren öffnen sich und geben den Weg frei für die Ruhe des Doms. Die Unruhe des Weihnachtsmarktes bleibt hinter den sich lautlos schließenden Türen zurück. Weihrauch. Elke Heidenreich führt mich durchs Domschiff, links vorbei am Altar, der im Dunkeln liegt. Mit einem übergroßen Adventskranz. Sie zeigt auf die Decke im linken Seitenschiff vor der Orgel: „Da ist es. Die Farben sind etwas kitschig.“ Das Schäfchen trägt einen rotgrünen Kranz. Die anderen Figuren halten Abstand zu ihm. Auf dem Fell eine Art Fleck. Eine Wunde? „Es ist mein Schäfchen“, sagt Elke Heidenreich noch einmal, „es ist so einsam, so schutzlos.“

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