Heilsames GiftGeheilt durch Botox

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Der Pianist Leon Fleischer hat mit Botox eine Bewegungsstörung in seiner rechten Hand behoben. (BILD: JOANNE SAVIO/SONY-BMG)

Der Pianist Leon Fleischer hat mit Botox eine Bewegungsstörung in seiner rechten Hand behoben. (BILD: JOANNE SAVIO/SONY-BMG)

Es war der Beginn eines jahrzehntelangen Alptraums für den jungen, hoch gelobten Pianisten Leon Fleisher: Mitten in den Vorbereitungen zu einer großen Tournee begannen sich 1963 die Finger seiner rechten Hand zu verkrampfen. Kein Training, keine Behandlung half, 40 Jahre lang konnte Fleisher nur mit der linken Hand spielen. Die Diagnose: Dystonie, eine nervlich bedingte Bewegungsstörung, an der allein in Deutschland 160 000 Menschen aller Altersstufen leiden. Über neue Ansätze in der Therapie tauschen sich derzeit in Hamburg Experten beim Europäischen Dystonie-Kongress aus.

Seit Jahrzehnten probieren Neurologen die unterschiedlichsten Präparate und Verfahren aus, um Dystonikern zu helfen. „Die meisten Hoffnungen ruhen auf der Behandlung mit Botulinumtoxin, das in die verkrampften Körperstellen injiziert wird“, erklärt Denis Nowak, Leiter der Sprechstunde für Bewegungsstörungen an der Uni Köln.

Botulinumtoxin, besser bekannt unter dem Markennamen Botox, gilt als Wunderwaffe im Kampf gegen Falten. Doch nahezu unbemerkt hat sich das Gift vom Faltenkiller zur Allzweckwaffe gegen ernste Erkrankungen gemausert. Neurologen und Urologen, Hautärzte und Fachleute für Sprach-, Stimm- und Schluckstörungen injizieren es schon heute in zuckende Lider, krampfende Stimmritzen, bei stark schwitzenden Achseln, Händen und Füßen oder Blasenproblemen. Glaubt man den Angaben der Pharmaindustrie, könnte Botox zu einem Allheilmittel wie Aspirin aufsteigen.

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Eines der giftigesten natürlich vorkommenden Gifte

Die Sache hat allerdings einen Haken: Die Experten streiten seit Jahren darüber, wie gefährlich Botox wirklich ist. Schließlich handelt es sich um die giftigste natürlich vorkommende Substanz. Zwei Kilogramm davon könnten die gesamte Menschheit dahinraffen. Vor allem Behörden und Institutionen warnen vor einem bedenkenlosen Gebrauch. Die europäischen und amerikanischen Arzneimittelbehörden EMEA und FDA berichten von Nebenwirkungen und sogar von Todesfällen im Zusammenhang mit Botox-Injektionen.

„Und das ist nur die Spitze des Eisberges“, vermutet Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des pharmakritischen Arzneitelegramms. Hierzulande zählte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) von 1994 bis August 2008 210 Zwischenfälle, darunter fünf mit tödlichem Verlauf. „In keinem dieser Fälle ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Anwendung von Botulinumtoxin sicher erwiesen“, schreibt das Bfarm. Dieser Schluss deckt sich mit den Erfahrungen vieler Kliniker. Sie halten Botox - richtig angewendet - für sicher. „Man muss ein paar Regeln beachten, wenn man Botulinumtoxin spritzt“, erklärt Neurologe Nowak. „Es ist wie Kochen: Langsam tastet man sich an die richtige Dosis heran.“

Also sollten Ärzte bei den ersten drei, vier Sitzungen weniger Stoff als notwendig spritzen, drei Monate bis zur nächsten Injektion warten und nie ein Gefäß erwischen. „Trifft man eine Vene, kann das für den Patienten tödlich enden“, sagt Nowak. Denn einmal gespritzt, ist die Wirkung des Giftes für eine gewisse Zeit unumkehrbar. In glatter Muskulatur wie der der Blase wirkt es zehn Monate und länger; bei Muskeln, die wir wie auf der Stirn willkürlich bewegen können, maximal ein halbes Jahr.

Das Nervengift Botulinumtoxin verhindert, dass aus den Nervenenden der Botenstoff Acetylcholin austritt und den nachgeschalteten Muskel erregt. So lähmt das Gift Drüsen und Muskeln; im schlimmsten Fall die, die zum Atmen, Schlucken und Sprechen notwendig sind. Eiweiße schalten die Nervenzellen zeitweilig ab. Innerhalb von acht Wochen beginnen sich die Neuronen zu berappeln; nach drei bis acht Monaten ist alles wieder wie vor der Behandlung. Dann muss nachgespritzt werden.

Botox hilft sogar bei Zähneknirschen

So überschaubar die Wirkweise von Botox ist, so unterschiedlich sind die Anwendungen. Momentan laufen an die 90 Studien zu den verschiedensten Indikationen. Sie reichen von A wie Analfissur bis Z wie Zähneknirschen. Sogar für Volksleiden wie Spannungskopfschmerzen und Migräne, für Asthma und Heuschnupfen erwarten die Pharma-Unternehmen in den nächsten Jahren Zulassungen. Für die Hersteller sind diese Krankheiten lukrativ - chronische Leiden, die jeden treffen können.

Schon jetzt scheint aber klar, dass auch zukünftig das Geschäft mit der Schönheit das lukrativste ist. So ließ das Pharmaunternehmen Merz - seit 2005 mit dem Präparat Xeomin auf dem Markt - vernehmen, dass man trotz aller medizinischen Indikationen die Ästhetik als den Markt der Zukunft sieht. Entsprechende Zulassungsstudien laufen.

Für Faltenhasser kann die immer wieder notwendige Spritze aber durchaus gefährlich werden: Während bei der medizinischen Anwendung klar geregelt ist, wer Botox spritzen darf - nämlich nur der jeweilige Facharzt - muss man kein Mediziner sein, um Falten und Runzeln mit dem Nervengift zu glätten. Becker-Büser warnt deshalb vor Angeboten in Urlaubshotels und Schönheitsinstituten. Dort werde oft mehr Wert auf eine entspannte Atmosphäre gelegt als auf seriöse Infos zu den Risiken.

Leon Fleisher gewann durch die Botox-Injektionen eines Neurologen die Kontrolle über seine rechte Hand wieder. Am 3. Oktober gab er ein umjubeltes Konzert zu seinem 80. Geburtstag - beidhändig.

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