Kölner Jugendforscher„Wir beobachten in NRW eher einen Rückgang von Jugendgewalt“

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Clemens Kroneberg, Professor für Soziologie an der Uni Köln

  • Kommt es zu Gewalt unter Jugendlichen, glauben viele Menschen, dass die heute viel brutaler ist als früher.
  • Doch Gefühl und Wirklichkeit stimmen nur sehr begrenzt überein, sagt der Kölner Jugendforscher Clemens Kroneberg.

Köln – Herr Kroneberg, im April haben Jugendliche einen Obdachlosen in Weidenpesch brutal attackiert und lebensgefährlich verletzt. In Mülheim an der Ruhr sollen im Juli fünf Verdächtige im Kindes- und Jugendalter eine 18-Jährige vergewaltigt haben, gegen einen 15-jährigen Jungen erging ein Haftbefehl. Sie erforschen Freundschaft und Gewalt im Jugendalter – hat Jugendgewalt zugenommen?

In den vergangenen zehn Jahren beobachten wir in Nordrhein-Westfalen eher einen Rückgang von Jugendgewalt. Zum Beispiel hat die Anzahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren bei Körperverletzungen um mehr als 25 Prozent abgenommen.

Dieser Trend findet sich in fast allen westlichen Industriegesellschaften – auch wenn es immer wieder zu vorübergehenden Anstiegen kommt. Das liegt häufig an der Sensibilisierung der Bevölkerung und der daraus resultierenden höheren Anzeigebereitschaft.

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Wodurch erklärt sich der Rückgang?

Ein Grund ist sicherlich der Wertewandel innerhalb unserer Gesellschaft. Physische Gewalt war noch in der Nachkriegszeit ein akzeptiertes Erziehungsmittel, wurde aber gesellschaftlich und rechtlich immer stärker geächtet. Darüber hinaus gibt es Einflussfaktoren, die weniger bekannt sind – wie die Umweltgifte, denen frühere Generationen stärker ausgesetzt waren und die zu mehr Gewalt beigetragen haben.

Zur Person

Clemens Kroneberg

Clemens Kroneberg

Clemens Kroneberg ist Professor für Soziologie an der Uni Köln und leitet unter anderem seit 2013 das Forschungsprojekt „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“. Kroneberg lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Köln.

Studien haben gezeigt, dass das gesetzliche Verbot bleihaltigen Benzins in vielen Ländern rund 20 Jahre später zu einem signifikanten Rückgang an Gewalttaten geführt hat. Das liegt daran, dass Blei die Gehirnentwicklung beeinträchtigt und zu höherer Impulsivität führt.

Man hat dennoch den Eindruck, dass sich die Qualität der Jugendgewalt verändert hat, dass sie brutaler geworden ist.

Es gibt vereinzelt Umfragen unter Sanitätern, Polizeibeamten und Lehrern, die ergeben, dass diese Berufsgruppen den Eindruck haben, die Intensität habe sich gesteigert und sie seien auch vermehrt selbst Ziel von Übergriffen. Um das wissenschaftlich beurteilen zu können, fehlen allerdings belastbare Daten.

Hat das Internet Einfluss auf die Art der Gewalt Jugendlicher?

Gerade psychische Gewalt findet heute häufig online statt, in Chaträumen und Social-Media-Gruppen – Stichwort Cybermobbing. Es bedeutet für Betroffene eine allgegenwärtige Gefährdungslage, die den Tätern noch mehr Macht über die Opfer gibt. Wer früher in der Schule gemobbt wurde, hatte wenigstens zu Hause einen Schutzraum – und seine Ruhe.

Gibt es Persönlichkeitsmerkmale oder Charaktereigenschaften, die Gewaltbereitschaft begünstigen?

Generell gilt: Wer sich leicht provozieren lässt und impulsiv ist, also wenig Selbstkontrolle hat, tendiert eher zu Gewalt. Dasselbe ist der Fall, wenn ein junger Mensch über wenig Empathie verfügt und Gewalt in bestimmten Situationen als gerechtfertigt ansieht. Gewalttätiges Verhalten wird auch häufig durch Alkohol, andere Drogen und Gruppendynamiken begünstigt.

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Ist Jugendgewalt eine Jungensache, oder ist das ein Klischee?

Jungen sind klar überrepräsentiert. In Deutschland ist der Anteil der männlichen Gewalttäter unter 15 Jahren etwa doppelt so hoch wie der weiblicher. Was nicht bedeutet, dass es keine jungen Gewalttäterinnen gäbe und vereinzelt auch Mädchengangs, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist.

Inwiefern hat das Elternhaus Einfluss auf gewalttätiges Verhalten von Kindern?

Jungen und Mädchen, die Gewalt in der Familie erfahren, sind stärker gefährdet, gewaltbereit zu sein als andere Gleichaltrige. Auch Erziehungsstile haben einen Einfluss. Je besser die Bindung zwischen Eltern und Kindern ist und je informierter die Eltern darüber sind, wo und mit wem ihre Kinder Zeit verbringen, desto weniger tendieren die Jugendlichen zu Gewalt.

Juegndkriminalität: Zahlen und Fakten

Ab wann spricht man von Gewalt? Körperliche Verletzungen, Bedrohungen aber auch soziale Ausgrenzung, Hänseleien oder verbale Attacken, kurz: Mobbing, zählen zu gewalttätigem Verhalten. Der Psychologe Dan Olweus beschreibt Gewalttätigkeit unter Gleichaltrigen so: Ein junger Mensch ist Gewalt ausgesetzt, wenn er wiederholt und über eine längere Zeit absichtlichen Verletzungen eines oder mehrerer anderer Kinder oder Jugendlicher ausgesetzt ist – und wenn dabei die Kräfte ungleich verteilt sind.

Um welche Delikte handelt es sich dabei? 2018 verdächtigte die Polizei insgesamt 175714 Kinder und Jugendliche bis 25 Jahre einer Gewaltstraftat (Gefährliche/schwere Körperverletzung: 144161; Raub: 26172; Vergewaltigung/sexuelle Nötigung/sexueller Übergriff im besonders schweren Fall: 8047; Totschlag/ Tötung auf Verlangen: 1982; Mord: 853; Erpresserischer Menschenraub: 165; Körperverletzung mit Todesfolge: 93; Geiselnahme: 54). Nach dem Jugendstrafrecht wurden im Jahr 2017 59668 junge Menschen verurteilt, die zum Tatzeitpunkt zwischen 14 und 18 Jahren alt waren. Im Bereich der Gewaltkriminalität liegt der jugendliche Anteil seit 1998 statistisch bei rund 21 Prozent.

Wer sind die Opfer? 10500 der registrierten Opfer waren unter 14 Jahren, 23 00 zwischen 14 und 18 Jahren, 26500 zwischen 18 und 21 Jahren. Jungen sind etwa doppelt so häufig gefährdet, Opfer einer Jugendgewalttat zu werden – abgesehen von Sexualdelikten. 2018 wurde etwa jeder fünfte 15- und 16-jährige Teenager Opfer, nur eine von fünf Taten wurde angezeigt. (kro)

Quellen: Polizei. Kriminalstatistik 2018

Eine enge Bindung zu den Eltern ist also ein großer Schutzfaktor – und viel bedeutender als die soziale Herkunft. Gewalt, Vernachlässigung und mangelnde Eltern-Kind-Bindung kommen in allen sozialen Schichten vor. Das ist keine Minderheitenfrage.

Wie viel macht der vermeintlich falsche oder richtige Umgang aus?

Gerade im Jugendalter geht es stark um soziale Anerkennung. Einige Cliquen akzeptieren Gewalt eher als andere, fordern sie sogar ein. So wird Gewalt zu einem Mittel, soziale Anerkennung zu erheischen. Auch in manchen Schulklassen ist Gewalt stärker akzeptiert.

Unsere Studie „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ hat gezeigt, dass dann sogar Mitschüler, die Gewalt eigentlich ablehnen, bereit sind, auf Provokationen mit Gewalt zu reagieren. Wahrscheinlich wollen sie sich wehrhaft zeigen, um nicht dauerhaft zum Opfer zu werden.

Wie können Schulen helfen, dass weniger Schüler gewalttätig werden?

Es sollte für alle Schulen ein zentrales Anliegen sein, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt klar abgelehnt wird. Wichtig ist es, gewaltfreie Strategien zur Lösung von Konflikten einzuüben. Pädagogen, Eltern und Schulleitung sollten in engem Kontakt stehen und sich permanent austauschen, um auf Gewalttaten schnell und professionell reagieren zu können.

Wie sollte die Prävention von Gewalttätigkeit im Jugendalter idealerweise aussehen?

Es ist wichtig, potenzielle Mehrfach- und Intensivtätertäter frühzeitig zu identifizieren – und ihnen Hilfen anzubieten. Dabei sollten Polizei, Schulen, Jugendämter und die freien Träger der Jugend- und Kinderhilfe möglichst gut kooperieren – wie zum Beispiel im Kölner Haus des Jugendrechts.

Auch bei dem landesweiten Präventionsprogramm „Kurve kriegen“ geht es um einen intensiven Informationsaustausch zwischen den Institutionen und um auf die Probleme des Einzelnen zugeschnittene Lösungen.

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Nach Gewalttaten, wie sie in Weidenpesch und Mülheim an der Ruhr verübt wurden, wird in Teilen der Bevölkerung immer wieder der Ruf nach Verschärfung des Jugendstrafrechts, nach härteren und früheren Strafen laut.

Das ist eine verständliche Reaktion. Die Forschung hat allerdings gezeigt: Härtere Strafen wirken nur begrenzt abschreckend. Oft werden Gewalttaten von Jugendlichen begannen, die in diesen Situationen gerade nicht die möglichen Folgen ihres Handelns berücksichtigen – sei es, weil sie impulsiv oder im Rausch handeln oder ohnehin wenig zu verlieren haben.

Vor allem kann Jugendarrest dazu führen, dass sich der Kontakt zu anderen straffällig gewordenen Jugendlichen verstärkt, was eine positive Prognose eher verschlechtert.

Schulministerin Yvonne Gebauer hat im Mai einen Zehn-Punkte-Plan gegen Schulgewalt vorgestellt. Inwiefern hilft er, Gewalt in Klassenräumen zu verhindern?

Die vorgeschlagenen Maßnahmen, wie Fortbildungen für Lehr- und Fachkräfte oder die Stärkung der schulpsychologischen Dienste, sind zweifelsohne sinnvoll. Entscheidend ist natürlich, wie konsequent und professionell sie umgesetzt werden.

Generell ist das Niveau der registrierten Straftaten an Schulen in NRW, nach einem Anstieg von etwa fünf Prozent im Jahr 2017, im vergangenen Jahr um fast zehn Prozent zurückgegangen.

Das zeigt: Schulen in NRW haben kein alarmierendes Gewaltproblem. Trotzdem sollte die Landesregierung an ihrem Plan festhalten, um mögliche Opfer zu schützen. Darüber hinaus geht es aber auch um die Freiheit von physischer, nicht staatlich legitimierter Gewalt. Dieser Wert der Gewaltfreiheit zählt zu den Grundfesten unserer Gesellschaft und sollte daher gerade in Schulen hochgehalten und vorgelebt werden.

Wie können wir, wie kann sich jeder Einzelne stark machen für weniger Gewalt unter Kindern und Jugendlichen?

Insbesondere Jugendliche untereinander müssen bezüglich des Schulklimas an einem Strang ziehen. Was bedeutet, dass es an ihrer Schule kein feierndes Publikum gibt, wenn ein Schüler oder eine Schülerin einen oder eine andere fertig macht. Und: Es sollten andere Eigenschaften als Gewaltbereitschaft als mutig gelten!

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