„Grüne Reaktoren“Mehr EU-Länder setzen auf Atomkraft – Deutschland wird Außenseiter

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Atromkraftwerk

Dampf steigt auf vom Atomkraftwerk Grohnde in Niedersachsen.

Paris/Berlin – Kann es sein, dass die EU demnächst Atomreaktoren als grüne Technologie im Sinne ihrer neuen Klimapolitik einordnet? In Deutschland schütteln sich viele schon angesichts dieser Fragestellung. Grüne Reaktoren? Geht es noch grotesker?

Svenja Schulze zum Beispiel, sozialdemokratische Umweltministerin in Berlin, dreht den Daumen nach unten. Ein Zurück zu Atomkraft sei eine Scheinlösung: „Wir setzen uns dafür ein, dass die Atomenergie nicht als nachhaltig eingestuft wird.“

Was aber, wenn genau das trotzdem geschieht?

Sven Giegold, für die Grünen im Europaparlament, fürchtet, dass es so kommen könnte. Und dass es nicht mehr lange dauert. Das, warnt Giegold, sei dann „der Super-GAU für Europas Energiewende“. Frankreich und die Osteuropäer seien drauf und dran, vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Folgen, sagt Giegold, wären auf dem Feld der Finanzen schnell spürbar: „Das Ergebnis wäre eine Entwertung aller neuen Finanzprodukte, die den Green Deal in Europa voranbringen sollten.“

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Was aber gehört zum Green Deal dazu? Und wer definiert das?

Das Problem der Deutschen ist: Viele Europäer wollen die Atomkraft tatsächlich zu einem Teil der künftigen Klimapolitik machen, und zwar völlig reinen Herzens. Nicht nur in Frankreich finden viele, dass Kernenergie die Erneuerbaren gut ergänzen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde: Strom aus Reaktoren sei erstens billig zu haben und verursache zweitens kein Kohlendioxid.

„Da kommt eine fette neue Debatte auf uns zu“, orakelt ein Insider mit Zugang zur höchsten EU-Führungsebene. „Und zwar auf alle Europäer, auch auf die, die eigentlich von Atomkraft nie wieder etwa s hören wollen.“

Grüne Atomkraft? Beamte in Brüssel holen angesichts dieser Frage erst mal tief Luft – und sagen dann wenig. Denn in hochrangigen diskreten Runden wird genau diese Frage gerade hin und her gewendet, mit extremer Vorsicht. Die EU-Kommission sucht, wie so oft, trotz aller Schwierigkeiten nach Wegen, die 27 Staaten zusammenzuhalten.

Kommission muss Atomkraft einordnen

Taxonomie ist das Schlüsselwort. Eine Klassifizierung steht an, mit Konsequenzen für Investoren und künftige Geldströme. Ordnet die Kommission die Atomkraft als grün ein, also passend zum „Green Deal“, den ihre Präsidentin Ursula von der Leyen verkündet hat, so könnte dies Milliarden für den Nuklearsektor aus privaten und öffentlichen Kassen locker machen.

Aber wie grün ist Atomkraft wirklich? Einerseits schont sie tatsächlich das Klima. Wer es ernst meint mit der Kohlendioxidsenkung, muss sacken lassen, dass die atomkritischen Deutschen zwar viel von Klimaschutz reden, aber mit 8,4 Tonnen Kohlendioxid pro Kopf deutlich mehr das Klima schädigen als die atomverliebten Franzosen, die es bei 4,97 Tonnen belassen.

Andererseits: Die Endlagerpro bleme sind nicht gelöst. Und auch die Debatte um Restrisiken beim Reaktorbetrieb werden sich nie ganz vom Tisch wischen lassen.

Vor einer schlichten Einstufung der Atomkraft als „grün“ scheinen die Brüsseler bereits zurückzuschrecken. Lieber wäre den Leuten rund um von der Leyen eine Lösung, die die Dinge in der Schwebe hält und dennoch das eigentlich Unvereinbare zusammenbringt. In Brüssel hat man Erfahrung mit so etwas. „Solution belgique“ nennt man eine Lösung der etwas unscharfen Art.

Technologien des Übergangs

Gedacht wird jetzt an eine Einstufung der Atomkraft in eine neue, vielleicht graugrün markierte, Kategorie – der man bei dieser Gelegenheit auch gleich das politisch ebenfalls umstrittene Erdgas zuordnen könnte: Technologien des Übergangs.

Bei den Grünen sind manche jetzt doppelt entsetzt. „Wahnsinn“, sei das, schimpft der grüne Europaabgeordnete Bas Eickhout aus den Niederlanden. „Da versteht man, warum Leute zynisch werden.“ Doch ungerührt hantieren Brüsseler Routiniers dieser Tage in ihren Hinterzimmern mit thematisch und juristisch weit voneinander entfernten Elementen einer großen energiepolitischen Paketlösung. Wenn die Atomfreunde, mit Frankreich und Polen an der Spitze, es schaffen, eine positive Einordnung der Kernkraft in die EU-Taxonomie hinein zu verhandeln, könnten sie im Gegenzug den Deutschen freie Hand geben, ihre Gaspipeline Nord Stream 2 nach Herzenslust aufzudrehen.

Eine Unansehnlichkeit wöge die andere auf. Einen Schönheitspreis bekäme keiner der Beteiligten. Aber immerhin kämen dann alle schon mal ein kleines Stück voran, jeder auf seine Art.

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Von der Leyen zeigt sich inzwischen schon öffentlich bei ersten Biegeübungen zur Quadratur des Kreises. „Wir brauchen mehr erneuerbare Energien“, schrieb sie in einem Tweet. „Wir brauchen auch eine stabile Quelle, Kernkraft, und während des Übergangs Gas.“ Das klingt wie eine Formel für neue Harmonie. In Wahrheit aber streben vor allem die EU-Führungsmächte Berlin und Paris energiepolitisch auseinander wie noch nie.

„Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft“

„Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft“, sagt Emmanuel Macron. Als der französische Präsident am 12. Oktober sein Programm „Frankreich 2030“ vorstellte, nannte er zehn wichtige Ziele, die es zu erreichen gelte. Oberste Priorität, als „Ziel eins“, hat für ihn die Förderung „kleiner, innovativer Kernreaktoren“. Auf diesem Feld, orakelt Macron, müsse Frankreich „das Spiel ganz neu eröffnen“.

Berlin reagiert mit stummer Verwunderung. Gegen Paris will in Zeiten, in denen man sich gerade mehr Unabhängigkeit Europas von China und den USA wünscht, niemand etwas sagen. Das sehen auch die künftigen Ampelkoalitionäre so – und schweigen.

Ein guter Bekannter des angehenden neuen Kanzlers Olaf Scholz ist der Pariser Minister für Finanzen und Wirtschaft, Bruno Le Maire. Die beiden haben sich oft getroffen und vieles erreicht, bei der globalen Mindeststeuer etwa und bei den EU-Finanzpaketen. Die Kernkraft aber treibt die beiden auseinander. Scholz hat die Grünen im Boot, Le Maire ist ein glühender Atomfreund. Im Oktober trommelte der Franzose Fachkollegen aus weiteren atomfreundlichen EU-Staaten zusammen, um einen gemeinsamen Vorstoß nach Brüssel zu senden: „Spätestens Ende 2021“ müsse bitteschön die Atomkraft in die EU-Taxonomie aufgenommen werden.

Mit billigem Strom gegen Le Pen

Was den Deutschen als seltsamer nuklearer Eifer ihrer Nachbarn erscheint, ist aus Sicht der Franzosen nur logisch. Die Deutschen mit ihrem höheren Kohlendioxidausstoß erscheinen ihnen nun mal nicht als Vorbild. Zudem würden die deutschen Strompreise in Frankreich eine Revolution auslösen.

Im April 2022 will Macron als Präsident wiedergewählt werden. Wie schnell höhere Energiepreise die Stimmung in Frankreich verderben können, hat er bei den Gelbwesten-Protesten im Winter 2018/19 gelernt. Damals wollte Macron zu Zwecken des Klimaschutzes 7 Cent auf den Liter Diesel aufschlagen. Als auf den Champs-Elysees Barrikaden loderten, ließ er davon ab.

Die gesamtgesellschaftlichen Befindlichkeiten in Deutschland und Frankreich unterscheiden sich. Deutsche Umweltpolitiker preisen die sogenannte Lenkungswirkung teurer Energie: Der Einzelne, das schwingt da mit, soll sich im Zweifel fügen, nur so gelinge das große Ganze. Viele Bundesbürger sehen es tatsächlich so und bitten die Obrigkeit laut Umfragen etwa bei Tempolimit und CO2-Zuschlägen sogar um noch mehr Strenge.

In Frankreich dagegen rumort es stärker von unten her, ganz diffus, ohne dass die Unzufriedenen Anspruch erheben auf besondere intellektuelle Brillanz. Macron weiß Bescheid. Dieser Tage lässt er gerade jedem geringverdienenden Franzosen „zur pauschalen Abgeltung gestiegener Energiepreise“, einmalig 100 Euro überweisen. Lenkungswirkung? Macron will vor allem, dass eine Lenkung der Wähler nach ganz rechts, in Richtung Marine Le Pen, verhindert wird.

Hinzu kommt noch etwas anderes, Größeres. Macron empfindet sich als wichtigsten Politiker Europas. Seit dem Austritt der Briten ist er der einzige EU-Staatschef, der über Atomwaffen gebietet. Und nach dem Abschied Merkels wird er es sein, der auch auf der innereuropäischen Klaviatur der Macht wie kein Zweiter zu spielen versteht.

Die Liste von Staaten, die Macron bereits zusammengetrommelt hat zur Unterstützung seines Pro-Atom-Kurses, ist lang. Nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Osteuropa sind dabei (Polen, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien) sondern auch Europäer aus dem hohen Norden (Finnland) und vom Mittelmeer: Griechenland, Malta und Zypern.

Entscheidung steht bevor

Die Regierung in Athen erklärt, sie selbst verzichte auf Atomkraft wegen häufiger Erdbeben in ihrer Region, jedoch sei es Griechenland wichtig, „dass andere Länder an der Nutzung nuklearer Techniken nicht gehindert werden“. Vorausgegangen war in diesem Sommer eine nie dagewesene Annäherung von Frankreich und Griechenland auf dem militärischen Feld. Niemand aus dem EU-Establishment will Macron vor dessen Wahlen im April in die Quere kommen: „Der hat jetzt einfach ein paar Wünsche frei“, heißt es im Umfeld der Kommissionspräsidentin.

Gilt das auch für das Timing? Der Grüne Giegold fürchtet eine EU-Entscheidung übers Nukleare schon in den nächsten Tagen – „noch bevor eine neue Bundesregierung ihre Arbeit aufnimmt und diese Pläne stoppen könnte“.

Stoppen könnte Berlin einen Taxonomievorschlag der Kommission nur, wenn die Deutschen dagegen eine sogenannte qualifizierte Mehrheit zusammentrommeln. Können sie das? Und wollen sie das? Scholz würde sich dann als neuer Kanzler in einer ersten Amtshandlung gegen Paris stellen.

Verlockender wäre es, den Zug durchrauschen zu lassen – und achselzuckend von einer neuen Lage zu sprechen, die sich leider nicht mehr ändern lasse: Alles eine Altlast der Ära Angela Merkel.

Ist ein solches Drehbuch schon besprochen worden? Fest steht nur, dass Merkel und Macron in der Nacht zum Donnerstag im Weinort Beaune lange zusammensaßen, es gab Burgunder. Die neue nukleare Spaltung Europas, zumindest darin stimmen Berlin und Paris offenbar überein, soll nicht mit einem Knall verbunden sein, sondern leise ablaufen, avec élégance.

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