Sabotage und CyberkriegWie anfällig Deutschlands Versorgung wirklich ist

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Stromversorgung 171022

Braunkohlekraftwerk Niederaußem mit Stromleitungen 

  • Wird das deutsche Stromnetz angegriffen, kämpfen zuerst kranke und pflege­bedürftige Menschen um ihr Leben.
  • Aber auch bei Anschlägen auf die Trinkwasser­versorgung, auf staatliche Lebensmittel­vorräte oder Verwaltungen können enorme Schäden entstehen.
  • Ein Überblick über potenzielle Gefahren.

Berlin – Die Einschläge kommen näher. Oder nur die Angst davor? Fakt ist: Spätestens, seit die beiden Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee offenbar sabotiert wurden, wird auch in Deutschland offen über die Anfälligkeit unserer Versorgungsnetze, Kabel und Leitungen gesprochen. Kein Wunder, führten doch schon die Spuren eines groß angelegten Hackerangriffs auf den Bundestag im Jahr 2015 eindeutig nach Russland. Auch ist in der Ukraine seit den Kämpfen um die Vorherrschaft im Osten des Landes mehrfach das Stromnetz durch Cyberangriffe russischer Hacker ausgefallen.

Ende dieser Woche übernahm nun auch der General­bundes­anwalt die Ermittlungen im Fall der Sabotage an der Deutschen Bahn. Unbekannte hatten am vorigen Wochenende gezielt wichtige Kommunikations­kabel in Berlin und in Nordrhein-Westfalen zerstört und so den Bahnverkehr in ganz Nord­deutschland über mehrere Stunden stillgelegt, weil die Kommunikation zwischen den Leitstellen der Bahn unmöglich war. Der General­bundes­anwalt ist für Terrorakte zuständig.

Klar, dass inzwischen bei vielen deutschen Bürgern und auch Behörden die Nerven angespannt sind: Sind wir – etwa aus russischer Sicht – schon so sehr Kriegspartei, dass man auch hierzulande fürchten muss, dass Brücken in die Luft fliegen wie gerade auf der Krim? Kann es wirklich Zufall sein, dass in der wichtigen Pipeline Druschba, die russisches Öl über Polen nach Deutschland bringt, ausgerechnet jetzt ein Leck entdeckt wurde?

Selbst wenn Angst ein schlechter Ratgeber ist und man vor Panik nur warnen kann: Die Verletzlichkeit unserer Infrastruktur und die Anfälligkeit unserer Energieversorgung führen uns Pipelinelecks und Explosionen einmal mehr vor Augen. Bundes­innen­ministerin Nancy Faeser hat bereits gewarnt, man müsse sich auf Sabotageszenarien einstellen, die bis vor Kurzem kaum denkbar gewesen seien. Auch die EU‑Kommission ist dabei, ihre strategische Reserve an Gerät, Material und auch Medizin für den Fall von Katastrophen, Havarien und Blackouts auszubauen.

Doch wie verwundbar sind wir? Ein Überblick:

Energieversorgung

Über keinen anderen Bereich der kritischen Infrastruktur ist in diesem Jahr so viel geredet worden wie über die Energie. Das liegt an der großen Bedeutung, die Russland bisher für die Versorgung Deutschlands mit Gas, Kohle und Kraftstoffen hatte. Es liegt aber auch an der grundsätzlichen Verletzlichkeit des Sektors sowie an dessen Relevanz für das wirtschaftliche und alltägliche Leben: Ohne Strom gehen die sprichwörtlichen Lichter aus – und nicht nur die.

Ein landesweiter und länger andauernder Blackout gilt als eines der schlimmsten Katastrophen­szenarien überhaupt, weil sämtliche Bereiche der kritischen Infrastruktur Elektrizität brauchen: Trinkwasser­versorgung, Lebensmittel­kühlung, Bargeld­wirtschaft, Kassensysteme, Rechenzentren und medizinische Einrichtungen – ohne Strom würde kaum etwas davon funktionieren. Selbst der Verkehr käme früher oder später zum Erliegen, da auch Tankstellen elektrische Energie benötigen, um die Treibstoffe aus ihren unterirdischen Tanks zu pumpen.

Die Frage ist also, wie anfällig Deutschlands Strom­versorgung ist, die ja nicht nur aus Kraftwerken, Windrädern und Solarmodulen besteht, sondern vor allem aus vielen Tausend Kilometern Leitungen. Groß­kraft­werke sorgen selbst für ihren Schutz vor Anschlägen, vor allem bei Atom­kraft­werken sind die Standards hoch. Bei Übertragungs­leitungen hingegen ist der Schutz viel schwieriger, weshalb sie in der Vergangenheit mehrfach ins Visier von Straftätern geraten sind. Erst im Mai waren in Bayern mehrere Männer aus der sogenannten Prepperszene verhaftet worden, die geplant hatten, durch gezielte Anschläge auf Strommasten weite Teile Deutschlands von der Versorgung mit Elektrizität abzuschneiden. Auch die Kabel­anbindungen der großen Offshore-Windparks an das Festland gelten als potenzielle Anschlagsziele.

Cyberangriffe

Neben der Bedrohung durch physische Sabotageakte haben Sicherheits­behörden auch Sorge vor Cyberangriffen auf die Energie­versorgung. Darüber, wie hoch das Risiko letztlich ist, kursieren unterschiedliche Einschätzungen. Weil die Heterogenität der eingesetzten Systeme hoch ist, gilt ein deutschlandweiter Blackout durch Hackerattacken als wenig wahrscheinlich. Einzelne Teile aber könnten Cyberaggressoren sehr wohl lahmlegen. Davor hat auch Wirtschafts­minister Robert Habeck gewarnt. In der Debatte um eine mögliche Laufzeit­verlängerung der Atom­kraft­werke verwies der Vizekanzler wiederholt auf die Gefahr möglicher Cyberangriffe.

Und auch Behörden sind Teil der kritischen Infra­strukturen: Wenn Verwaltungen lahmgelegt werden, kann das schnell das Leben vieler Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld in Sachsen-Anhalt rief im Sommer 2021 sogar den Katastrophenfall aus, weil Kriminelle die Computer­systeme der Kreisverwaltung gekapert und verschlüsselt hatten. Nichts ging mehr. KFZ-Anmeldungen, Führerschein­ausstellungen, Eltern­geld­anträge – alles lag auf Eis. Die Schäden zu beheben und alle Systeme wieder zum Laufen zu bekommen dauerte Monate. Noch ein Jahr nach dem Angriff waren die Auswirkungen in der Kreisverwaltung zu spüren.

Hinter der Attacke steckten Cyber­kriminelle, die mit sogenannten Ransomware-Angriffen versuchen, Lösegeld zu erbeuten. Das ist längst ein Millionen­geschäft, zu den Opfern zählen Unternehmen, Krankenhäuser, öffentliche Einrichtungen und Verwaltungen, aber auch Privatpersonen. Gerade Unternehmen und Organisationen, die unzureichend auf solche Angriffe vorbereitet sind, haben häufig mit langfristigen Folgen zu kämpfen.

Genutzt werden derartige Mittel nicht nur von Kriminellen auf der Jagd nach dem großen Geld. Sicherheits­forschende und westliche Nachrichtendienste haben in den vergangenen Jahren mehrere Wellen gravierender Cyberangriffe zu russischen Geheimdiensten zurückverfolgen können. Spionage, Sabotage und Manipulation im digitalen Raum gehören besonders für die russischen Dienste längst zum viel genutzten Werkzeug. Dadurch können gezielt Unternehmen, staatliche Stellen oder Politiker angegriffen und beschädigt werden. Zudem tragen folgenschwere Cyberangriffe insbesondere auf Teile der kritischen Infrastruktur zur Verunsicherung der Bevölkerung bei.

Gesundheitswesen

Fällt der Strom aus, kämpfen zuerst jene um ihr Leben, die zu den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft zählen: kranke und pflegebedürftige Menschen. Wer in einem Kranken­haus liegt, hat dabei die besseren Aussichten: Jedes Kranken­haus muss über ein Notstrom­aggregat verfügen, das für mindestens 24 Stunden essenzielle Systeme aufrecht­erhält. Dazu zählen der Not‑OP-Betrieb und lebenserhaltene Maschinen auf der Intensivstation, zum Beispiel Beatmungsgeräte. Sollte das Aggregat ausfallen, springen interne Akkus der Geräte an, die meist mehrere Stunden halten.

Wer zu Hause gepflegt wird, ist oft gänzlich auf diese Notfall­batterien angewiesen. Schätzungen zufolge werden in Deutschland 30.000 Menschen zu Hause künstlich beatmet. Hinzu kommen rund 80.000 Dialysepatienten und ‑patientinnen, Millionen COPD‑Kranke. Ihr Leben hängt davon ab, dass regelmäßig Strom in Dialyse- und Sauerstoffgeräte fließt.

In der Altenpflege sieht es nicht viel besser aus: Auf eine RND‑Anfrage antwortete die Korian-Gruppe, einer der größten Pflege­heim­betreiber in Deutschland, dass nur wenige der 230 stationä­ren Einrichtungen über ein Notstrom­aggregat verfügten. „Wir vertrauen auf die politische Zusicherung, bei einem Stromausfall von THW und Feuerwehr Unterstützung zu erhalten.“

Da nur wenige Arztpraxen über ein Notstrom­aggregat verfügen, kommt bei es bei einem großflächigen Netzausfall auf die Kranken­häuser an: Sie müssen die hauseigenen Patienten versorgen und gleichzeitig all jene, die zu ihnen strömen. Zudem müssen sie die vorhandenen Medikamente und Insulinvorräte klug verwalten, da die Pharmaindustrie keinen Nachschub mehr liefern kann.

Wasserversorgung

Wer bei Wasserwerken nach dem Schutz ihrer Infrastruktur fragt, muss mit wortkargen Reaktionen rechnen. Die Befürchtungen sind groß, dass dabei ungewollt Hinweise für potenzielle Täter publik werden. Die Wasser­versorgung zählt zu den sensibelsten Infra­strukturen hierzulande. Attacken auf Leitungs­systeme etwa durch die Verseuchung mit Bakterien, können große Schäden anrichten und sind schwer zu bekämpfen, da sich die Bakterien im Leitungsnetz ausbreiten können.

Deshalb sind die Sicherheits­vorkehrungen immens, und der Standard bei Kontrolle des Trinkwassers ist einer der höchsten weltweit. Nach Angaben des Dachverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) würde eine Manipulation von Leitungen „anhand der Sensorik sofort registriert“ und Gegen­maßnahmen auslösen. Der BDEW macht aber darauf aufmerksam, dass besonderes Augenmerk auf der Schnittstelle von öffentlicher Wasserversorgung zu Privatanschlüssen – etwa in Mehr­familien­häusern – liegen müsse.

Hausbesitzer müssten Sicherheits­vorkehrungen treffen: „Es ist vor allem darauf zu achten, dass der Übergaberaum für den Hausanschluss für Unbefugte nicht zugänglich ist. Er sollte mit einer Sicherheitstür verschlossen gehalten werden.“

Lebensmittelversorgung

Korn, Reis, Hülsenfrüchte und Kondensmilch: Um die deutsche Bevölkerung im Ernstfall mit Nahrung versorgen zu können, hat die Bundesregierung eine zivile Notfallreserve sowie eine Bundesreserve Getreide aufgebaut. Die lange haltbaren und nährstoffreichen Lebensmittel werden in Hallen gelagert, die über die Republik verteilt sind.

Die Standorte sind streng geheim. Das soll sicherstellen, dass sich niemand unerlaubt Zutritt verschafft. Sollte das beispielsweise im Falle eines Datenlecks passieren, gäbe es noch die anderen Lagerhallen.

Hinzu kommt, dass sich Deutschland bei Lebensmitteln wie Kartoffeln, Fleisch, Zucker oder Milch selbst versorgen kann, wie aus Daten des Bundes­ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hervorgeht. Um den Bedarf an Obst, Gemüse und Eiern zu decken, braucht es allerdings Exporte. Und generell gilt, dass die Nahrungs­mittel­versorgung mit den anderen Sektoren der Krisen eng verzahnt ist: So ist sie beispiels­weise auf Transport oder Kommunikations­technologie angewiesen – eine Vulnerabilität, die es zu bedenken gilt.

Transport- und Verkehrsnetz

Das deutsche Schienennetz umfasst knapp 34.000 Kilometer. Die Sabotage des Zugfunks GSM‑R am vergangenen Wochenende zeigte eindrücklich, wie anfällig dieses Netz ist: Stundenlang musste der gesamte Zugverkehr in großen Teilen Norddeutschlands eingestellt werden, weil noch unbekannte Täter zwei Kabel durchschnitten hatten. Eines im westfälischen Herne und eines am Rande von Berlin.

Besondere Technik brauchten sie dafür nicht: Die Kabel liegen wie überall bei der Bahn in Schächten unter Betondeckeln neben den Gleisen. Was sie wissen mussten: Wo welche Leitungen liegen. Das System ist georedundant ausgeführt. Das bedeutet: Ein Kabel für das GSM‑R-Netz im Norden führt von Frankfurt am Main nach Hannover, eines von Berlin aus. Wird eins zerstört, wird die andere Leitung genutzt. Werden beide beschädigt, herrscht Funkstille.

Der Täterkreis ist unüberschaubar groß: Viele Stellen im DB‑Konzern und anderen Unternehmen sind mit dem Zugfunk beschäftigt. Für diesen Freitag war eine Krisensitzung des DB‑Aufsichtsrats angesetzt. Bahnchef Richard Lutz muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Deutschlands strategisch wichtigster Konzern in Sicherheitsfragen fahrlässig agiert habe. Eins ist jedenfalls klar: Die Infrastruktur ließe sich nur mit enormem Personalaufwand schützen. Personal, das die DB nicht mehr hat.

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