Angst vor dem GAUKeiner weiß, wie es mit Saporischschja weitergeht

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Das Kernkraftwerk Saporischschja ist aus einer Entfernung von etwa zwanzig Kilometern zu sehen.

  • Die Menschen im südukrainischen Nikopol werden fast jede Nacht von russischen Truppen beschossen.
  • Ihre größte Sorge aber gilt dem nahen AKW Saporischschja.
  • Ausgerechnet ein Erfolg der Ukraine auf dem Schlachtfeld könnte die Gefahr einer Atomkatastrophe drastisch erhöhen.

Nikopol/Saporischschja – Wenn das Verwaltungsgebäude in Nikopol nach dem russischen Beschuss noch Glas statt Sperrholz in den Fenstern hätte, könnte Yevhen Yevtushenko von seiner Arbeitsstätte aus das Atomkraftwerk Saporischschja sehen. Der Chef der Kriegsverwaltung der südukrainischen Stadt muss das AKW allerdings gar nicht vor Augen haben, um an die nukleare Bedrohung erinnert zu werden – sie ist allgegenwärtig. „Ich mache mir sehr große Sorgen“, sagt der 44-Jährige. „Und ich würde empfehlen, dass sich alle Menschen in Europa sehr große Sorgen machen.“ Im schlimmsten Fall, fürchten die Ukrainerinnen und Ukrainer, könnte im größten Atomkraftwerk Europas infolge des russischen Angriffskriegs ein GAU drohen, der vielleicht schlimmer sein könnte als in Tschernobyl.

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Eine Karte der ukrainischen Atomkraftwerke.

Das AKW liegt gut zehn Kilometer südöstlich von Yevtushenkos Arbeitsplatz, am gegenüberliegenden Ufer des Kachowkaer Stausees. Auf dieser Seite am Unterlauf des Flusses Dnipro haben die russischen Besatzer die Kontrolle. Sie beschießen Nikopol nachts mit Artillerie und Raketen. Yevtushenko sagt, ukrainische Truppen würden prinzipiell Ziele am anderen Ufer beschießen, nicht aber in der Umgebung des AKW – das habe der Generalstab explizit untersagt. Russland wirft der Ukraine dennoch vor, das eigene AKW ins Visier zu nehmen. Die Situation ist aber auch unabhängig vom Beschuss bedrohlich – und könnte bald dramatisch eskalieren.

AKW ist runtergefahren, die Lage trotzdem „prekär“

Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, schätzt die Sicherheitslage in dem Atomkraftwerk als „prekär“ ein. Die sechs Reaktoren wurden wegen der Gefechte heruntergefahren. Das AKW braucht aber Strom für die Kühlung der Brennelemente und für den Betrieb wichtiger Sicherheitssysteme. Nur noch eine von früher vier externen Stromleitungen zur Versorgung des Kraftwerks existiert noch. In den vergangenen Wochen brach nach IAEA-Angaben auch diese fragile Verbindung mehrfach zusammen. Das Atomkraftwerk war dann stets auf seine 20 Notfallgeneratoren angewiesen.

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„Die Dieselgeneratoren sind die letzte Stufe vor der Katastrophe“, sagt Dmytro Orlov. Der 37-Jährige ist der Bürgermeister der Stadt Enerhoda, in dessen unmittelbarer Umgebung das AKW liegt – das Kraftwerk hat seinen Namen von der rund 50 Kilometer entfernten Regionalhauptstadt Saporischschja entliehen. Orlov sagt, dass die Notfallgeneratoren gleich mehrfach zum Einsatz hätten kommen müssen, habe es in der fast 40-jährigen Geschichte des AKW nie zuvor gegeben.

Ukrainische Kriegserfolge könnten zum Problem werden

Orlov ist Ende April aus seiner besetzten Stadt nach Saporischschja geflohen. Sein Stellvertreter sei zuvor von den Russen verschleppt worden, sagt der Bürgermeister. Unter der Besatzung habe er nicht mehr arbeiten können, er wirft den russischen Soldaten Folter und Plünderungen vor. 53.000 Menschen hätten vor dem Einmarsch der Invasionstruppen Anfang März in Enerhoda gelebt, heute seien es noch rund 15.000. Vor allem ältere Menschen seien nicht geflohen, auch die wenigen Einwohnerinnen und Einwohner, die mit den Russen sympathisierten, seien geblieben. Anderen Ukrainern würden die Besatzer die Ausreise aus Enerhoda inzwischen verwehren – auch den Angestellten des Atomkraftwerks Saporischschja.

Die Versorgung der Sicherheitssysteme des Atomkraftwerks mit Strom ist nur eine Schwierigkeit. Ein weiteres Problem könnte bald noch wesentlich dringlicher werden, und das hängt ausgerechnet mit den Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld zusammen.

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Eine Karte, die die Lage um die umkämpfte Stadt Cherson zeigt.

Cherson liegt rund 180 Kilometer Luftlinie entfernt von dem Atomkraftwerk am Dnipro, es ist die einzige ukrainische Regionalhauptstadt, die die Russen seit Kriegsbeginn erobern konnten. Eine Gegenoffensive der Ukrainer setzt die Besatzer dort derzeit mächtig unter Druck. Die Regierung in Kiew befürchtet, die russischen Streitkräfte könnten bei einem Rückzug aus Cherson in Richtung Osten einen flussaufwärts gelegenen Staudamm zerstören – mit möglicherweise katastrophalen Konsequenzen auch für das AKW Saporischschja.

Dammsprengung: Gefahr für Menschen und das AKW

Das Institut für Kriegsstudien (ISW) in der US-Hauptstadt Washington analysierte kürzlich: „Die russischen Streitkräfte werden wahrscheinlich versuchen, den Staudamm des Wasserkraftwerks Kachowka zu sprengen, um ihren Rückzug zu decken.“ Die Besatzer würden damit zugleich den Vormarsch ukrainischer Truppen ausbremsen. „Die russischen Streitkräfte werden mit ziemlicher Sicherheit die Ukraine für den Angriff auf den Staudamm verantwortlich machen“, schrieb das Institut – was aber absolut unglaubwürdig sei: Die Regierung in Kiew habe keinerlei Interesse an der Sprengung, „die 80 ukrainische Städte überfluten und Hunderttausende von Menschen vertreiben könnte“.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt, eine Sprengung des Damms könnte nicht nur die Wasserversorgung eines Großteils der Südukraine unterbrechen, sondern wäre auch eine ernste Gefahr für das flussaufwärts gelegene AKW Saporischschja, das das Wasser aus dem Stausee für die Kühlung der Reaktoren braucht. AKW-Mitarbeiter Dmytro sagt zu diesem Szenario: „Ganz sicher macht mir das Sorgen.“

Der 43 Jahre alte Elektroingenieur, der nur mit Vornamen zitiert werden möchte, hat fast sein halbes Leben lang im AKW gearbeitet, zuletzt in dessen Management. Sollte das Atomkraftwerk kein Kühlwasser mehr aus dem Stausee bekommen, sei ein GAU wahrscheinlich, sagt er. „Ich persönlich würde die Gefahr einer Kernschmelze dann auf 80 Prozent schätzen.“

4300 von 6700 Mitarbeiter abgesetzt

Dmytro ist Ende April ebenfalls von Enerhoda nach Saporischschja geflohen. Mit seinen Kollegen vor Ort sei er über Handy oder Messengerdiensten in Kontakt, sagt er. Sie stünden unter großem psychologischen Druck. „Das ist in so einer gefährlichen Anlage nicht gut.“ Die Besatzer würden die Angestellten dazu drängen, Arbeitsverträge mit dem russischen Atomkonzern Rosatom zu unterzeichnen. „Die meisten lehnen das ab, weil es illegal ist – sie arbeiten in der Ukraine.“ Der ukrainische Kernkraftwerksbetreiber Enerhoatom teilte kürzlich mit, von den 6700 Mitarbeitern des AKW hätten sich 4300 auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet abgesetzt. Nur ein Bruchteil der Verbliebenen habe bei Rosatom unterschrieben.

Dmytro sagt, er habe fast sein gesamtes Berufsleben auf verschiedensten Positionen im Atomkraftwerk Saporischschja verbracht und kenne die Abläufe dort genau. Das verbliebene Personal reiche aus, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Sollte es aber aus externen Gründen – etwa wegen des Ausfalls der Kühlung – zur Kernschmelze kommen, könnte dies schlimme Folgen haben.

Bürgermeister Orlov glaubt: „Die Folgen würden nicht nur unsere Stadt und unser Land betreffen, sondern ein viel größeres Gebiet.“ Im Atomkraftwerk Tschernobyl, das ebenfalls in der Ukraine liegt, sei es im April 1986 in einem Reaktor zur Kernschmelze gekommen. „Hier haben wir sechs.“

Vorbereitungen für den Ernstfall

Yevtushenko von der Kriegsverwaltung in Nikopol sagt: „Wir können einfach nicht voraussagen, was die Russen machen werden.“ Er ist von der Regierung eingesetzt worden und arbeitet parallel zum gewählten Bürgermeister, er ist vor allem für Sicherheitsthemen verantwortlich – und plant für den Ernstfall. Die verbliebenen 30.000 der einst 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner würden innerhalb von 24 Stunden evakuiert, sagt er. „Wir haben schon Jodtabletten an alle verteilt.“ Gasmasken für jeden Bewohner und jede Bewohnerin seien im Lager.

Yevtushenko legt im Interview eine Faustvoll Schrapnell-Teile auf den Tisch – ein Bruchteil von denen, die in den vergangenen Monaten sein Verwaltungsgebäude getroffen haben. Seit Juli werde Nikopol fast jede Nacht beschossen, obwohl es dort keine militärischen Stellungen gebe, sagt der Mann, der einen langen Vollbart im Gesicht und eine Pistole am Gürtel trägt. „Das ist Terror gegen die Zivilbevölkerung.“

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Einer von Yevtushenkos Mitarbeitern hat die Reporter aus Deutschland am Checkpoint außerhalb Nikopols in Empfang genommen. Wenn man russische Artillerie höre, habe man ungefähr fünf Sekunden bis zum Einschlag, sagt er. Bis dahin solle man idealerweise Schutz in einem Gebäude gesucht haben. Als kurz darauf Artilleriealarm ausgelöst wird, geht das Leben auf der Straße aber einfach weiter – die Menschen in Nikopol haben sich an den Kriegszustand gewöhnt.

Auf dem kleinen Markt gegenüber des „Parks des Sieges“ wird der Handel keine Sekunde unterbrochen, als die Sirenen losheulen. Karolina Savchuk kommt gerade vom Markt und ist aufgebracht. In ihrer Nachbarschaft seien schon mehrere russische Granaten aus Enerhoda eingeschlagen. „Jede Nacht greifen sie uns an“, schimpft die Krankenschwester (59). „Russland ist ein Terrorstaat.“ Ludmyla Khomenko sagt, sie wache nachts bei jeder Detonation auf. Die 49 Jahre alte Schuhverkäuferin glaubt, mit dem Beschuss der Zivilbevölkerung versuchten die Russen, die Regierung in Kiew zu Verhandlungen zu zwingen. „Das wird definitiv nicht funktionieren. Der Krieg kann nur mit unserem Sieg enden.“ Was sie über die Gefahr einer Kernschmelze im nahen Atomkraftwerk denkt? „Das ist, was mir an diesem Krieg die meiste Angst macht.“

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