Viele Kinder erkranktIst eine „Immunschuld“ die Ursache für die RSV-Welle?

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Etwa jedes vierte Kind hat derzeit eine neu aufgetretene Atemwegserkrankung

Etwa jedes vierte Kind hat derzeit eine neu aufgetretene Atemwegserkrankung.

Das Immunsystem wurde während der Pandemie nicht ausreichend trainiert, deshalb werden jetzt viele Atemwegsinfekte nachgeholt. Diese „Immunschuld“ wird häufig als Ursache für die RSV-Welle bei Kindern diskutiert. Ist das Immunsystem aus der Übung? Ein Faktencheck.

Gerade gibt es so viele akute Atemwegserkrankungen wie schon lange nicht mehr. Allein vergangene Woche hatten etwa 9,5 Millionen Menschen in Deutschland Symptome wie Fieber, Husten oder Halsschmerzen, wie die Arbeitsgemeinschaft Influenza des Robert Koch-Instituts (RKI) in ihrem Wochenbericht mitteilt. Schuld daran ist nicht mehr nur das Coronavirus, sondern auch andere virale Erreger wie Rhino-, Influenza- und Respiratorische Synzytialviren, kurz RSV.

Auffällig: die Ansteckungsraten bei den Null- bis Vierjährigen

Die Jüngeren trifft es dabei besonders häufig. Etwa jedes vierte Kind hat derzeit eine neu aufgetretene Atemwegserkrankung – ein größerer Anteil als zur gleichen Zeit vor der Corona-Pandemie. Auffällig sind vor allem die Ansteckungsraten bei den Null- bis Vierjährigen: Sie sind derzeit besonders häufig krank – hauptsächlich, weil sie sich mit RSV infizieren und das teilweise so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Das erhöht wiederum die Belastung in den personell ohnehin schon geschwächten Kinderklinken.

Angesichts des hohen Krankenstandes werden nun die Rufe nach einer Maskenpflicht wieder lauter. Das sei „der übliche Reflex der Politik“, so nennt es Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Dabei ist die Maskenpflicht der zurückliegenden zwei Jahre ja ein wichtiger Grund für die aktuelle Krise.“ Die Corona-Schutzmaßnahmen wie Masken, Abstand und verstärkte Handhygiene hätten dazu geführt, dass die Immunsysteme nicht ausreichend trainiert wurden.

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Das Immunsystem ist unvorbereitet

Was Fischbach hier beschreibt, haben französische Forschende 2021 unter dem Begriff „Immunschuld“ zusammengefasst. Gemeint ist damit, dass das Immunsystem unvorbereitet ist, wenn es nicht regelmäßig mit Krankheitserregern konfrontiert wird. Wie ein Muskel, der ständig trainiert werden muss. Demzufolge hätten die Corona-Schutzmaßnahmen, die bis zuletzt fast alle Infektionen mit Atemwegserregern verhindert haben, das Immunsystem derart geschwächt, dass es nun im Zuge der Lockerungen zu vermehrten Erkrankungen kommt.

„Immunsystemtraining, so ein Quatsch“, meint dagegen der Allgemeinmediziner Marc Hanefeld auf Twitter. Die Aussage von BVKJ-Präsident Fischbach bezeichnete er als „Schwachsinn“. Und nicht nur Hanefeld ist dieser Meinung: „Das hat Heilpraktikerniveau“, pflichtete ihm Alexander Eichholtz, stellvertretender Vorsitzender des Klinikpersonalrats der Berliner Charité, bei.

Doch wer hat nun recht? Gibt es eine pandemiebedingte „Immunschuld“, die für die vielen akuten Atemwegserkrankungen ursächlich ist? Ist das Immunsystem einfach untrainiert? Oder muss es gar nicht regelmäßig Krankheitserreger bekämpfen, um gesund zu sein?

Die Corona-Schutzmaßnahmen sind tatsächlich nicht unschuldig, wenn es um die aktuellen Atemwegserkrankungen geht. Insofern hat BVKJ-Präsident Fischbach recht, wenn er sagt, dass unter anderem die Maskenpflicht ein Grund für die aktuelle Krise sei.

Zuletzt gab es keine großen Grippewellen

Feststeht: Die Maßnahmen haben in den vergangenen drei Jahren Infektionen mit Atemwegserregern nahezu vollständig verhindert. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass es keine großen Grippewellen wie in den Jahren vor der Pandemie gegeben hat. In der Saison 2019/2020 hatte das RKI noch rund 191.000 Grippefälle registriert, 2020/2021 – mit Beginn der Pandemie – waren es nur noch 753. Eine Saison später gerade einmal knapp 22.000 Fälle. Ein ähnlicher Rückgang trat auch bei den anderen Atemwegserkrankungen ein.

Dass die Corona-Maßnahmen Influenza-, Rhino- oder RS‑Viren abgeschirmt haben, bedeutet gleichzeitig, dass die Menschen mit ihnen weniger in Kontakt gekommen sind. Das Immunsystem von Kindern, die während der Pandemie geboren wurden, kennt die Erreger sogar noch gar nicht. Normalerweise machen 90 Prozent von ihnen in den ersten zwei Lebensjahren beispielsweise eine RSV-Infektion durch, 50 Prozent sogar zweimal. Nun haben sie ihre erste Begegnung mit dem Virus erst im Kindergartenalter. Mehrere Infektionsjahrgänge sind also ausgefallen.

Ohne Maskenpflicht wären Krankheitserreger weiter zirkuliert

Ohne die Maskenpflicht und Abstandsregelungen wären die Krankheitserreger im saisonalen Rhythmus, zeitgleich mit Corona, weiter zirkuliert – im Sommer weniger, im Winter mehr. Zahlreiche Menschen hätten sich angesteckt, wären erkrankt und hätten Antikörper gebildet. Das Immunsystem hätte auf diese Weise ein Update bekommen. Dieser Boostereffekt ist aber in den vergangenen Jahren ausgeblieben.

Was nicht nur auf Corona zutrifft, sondern auch auf andere Atemwegserreger: Die durch eine Ansteckung entstandenen Antikörper nehmen mit der Zeit wieder ab. Das heißt, jemand, der sich beispielsweise im November 2019, also vor der Pandemie, zuletzt mit einem Influenzavirus infiziert hat, hat inzwischen weniger Antikörper gegen den Erreger als kurz nach der Infektion. Da weitere Ansteckungen und damit ein Immunupdate durch die Corona-Maßnahmen verhindert wurden, sind die Menschen in Deutschland immunologisch naiver geworden.

Das ist der Grund, warum es jetzt wieder unzählige Ansteckungen mit den Krankheitserregern gibt. Die Lockerungen ermöglichen es den Viren, sich wieder ungehindert zu verbreiten, die Menschen kommen wieder mit ihnen in Kontakt. Kinder, die bisher von Erregern wie RSV verschont geblieben sind, erkranken jetzt zum ersten Mal, andere infizieren sich zum zweiten oder dritten Mal.

Isabella Eckerle stellte mit Blick auf die aktuelle RSV-Welle folgenden Vergleich an: „Das kann man sich vielleicht vorstellen. Wie wenn man jetzt zwei Jahre lang keine Kinder einschulen würde, dann hätte man plötzlich sehr große erste Klassen, weil man einfach zwei Jahre lang keine erste Klasse hatte“, sagte die Leiterin des Zentrums für neuartige Viruserkrankungen an der Universitätsklinik Genf (Schweiz) gegenüber dem WDR-Wissenschaftsmagazin „Quarks“.

Je älter das Kind, desto milder kann der Infekt verlaufen

Dass sich Kinder nun später mit RSV infizieren, müsse nicht unbedingt von Nachteil sein. „Es ist eigentlich besser, wenn Kinder ihre erste Infektion später im Leben bekommen, weil das Virus ist besonders gefährlich für kleine Kinder, vor allem für Frühgeborene aber auch für Babys unter einem Jahr“, erklärte Eckerle. Infizieren sie sich erst in einem höheren Alter, ist ihr Immunsystem schon weiter entwickelt, Infekte könnten milder verlaufen.

So die Theorie. Ob das auch in der Praxis so ist, ist noch unklar. Es mangele noch an entsprechenden Daten, merkte Carsten Watzl, Leiter des Forschungsbereichs Immunologie am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund, im Gespräch mit dem RND an.

Die vielen Atemwegserkrankungen sind nun aber kein Indiz dafür, dass das Immunsystem während der Pandemie deutlich geschwächt oder gar geschädigt wurde. Auch wenn dass die gesunkenen Antikörperspiegel nahelegen. Diese bedeuten nicht, dass das Immunsystem die Atemwegserreger gar nicht mehr erkennt, also wieder bei Null startet. Denn bei vorherigen Infektionen haben sich in der Regel Gedächtniszellen gebildet, die sich die Merkmale der Erreger eingeprägt haben und, sobald diese wieder in den Körper eindringen, eine schnelle Immunantwort auslösen können.

Das Immunsystem muss nicht immer mit Infektionen konfrontiert sein, um gut zu funktionieren. Dass es nicht ausreichend trainiert wurde, ist tatsächlich falsch. Es braucht dieses „Training“ überhaupt nicht. „Es ist nicht so, dass wir jetzt generell ein schwächeres Immunsystem haben, weil wir zwei Jahre lang Maske getragen haben“, sagte Watzl.

Das Immunsystem ist kein Muskel, der ständig beansprucht werden muss
Deborah Dunn-Walters, Professorin für Immunologie

„Das Immunsystem ist kein Muskel, der ständig beansprucht werden muss, um in Form zu bleiben – im Gegenteil“, machte auch Deborah Dunn-Walters, Professorin für Immunologie an der University of Surrey, in der „Financial Times“ deutlich. Jede Infektion ist eine Mammutaufgabe für den Körper – selbst, wenn sie von harmlosen Erkältungsviren verursacht wird. Es besteht zudem immer die Gefahr, dass Atemwegserkrankungen schwer verlaufen, zum Beispiel mit Beschwerden wie Lungen- oder Herzmuskelentzündungen (wie sie bei Corona-Infekten auftreten können), oder dass sie sogar mit Langzeitfolgen einhergehen.

Insofern wäre es eigentlich besser, Infektionen zu meiden. Möglich sein wird das jedoch nicht. „Jegliche Infektionen zu verhindern, wäre irgendwann nicht mehr praktikabel“, sagte Immunologe Watzl.

Der Begriff „Immunschuld“ suggeriert ferner: Wer Infektionen umgeht, nimmt Rückstände beim „Immuntraining“ in Kauf, die früher oder später nachgeholt werden müssen. Auch diese Annahme ist falsch. „Es ist jetzt nicht so, dass man fünfmal im Jahr eine Erkältung kriegen muss“, sagte Virologin Eckerle, „und wenn ich zwei Jahre ausgesetzt habe, dann habe ich ein Jahr, wo ich mit 15 Erkältungen in den Schulden stehe und deswegen muss ich die alle in diesem Jahr bekommen. Das ist natürlich Quatsch.“

Die Welt ist nicht plötzlich keimfrei geworden

Ein „Infektionskonto“ gibt es nicht. Wer weniger krank ist, ist einfach weniger krank – und hat deshalb trotzdem ein gesundes Immunsystem. Auch mit weniger Infekten rostet es nicht ein. Der Mensch ist ständig Bakterien und Viren ausgesetzt, die von den Abwehrkräften des Immunsystem bekämpft werden müssen – was wir selbst mal mehr, mal weniger oder mal gar nicht merken. Daran haben selbst die Corona-Maßnahmen nichts geändert. „Unser Immunsystem hat sich auch in den vergangenen Jahren nicht unbedingt gelangweilt“, sagte Watzl. Die Welt ist schließlich durch die Maßnahmen nicht auf einmal keimfrei geworden.

Immunologe: RSV-Infektionen sind eher „eine Art Steuer“

Um es auf den Punkt zu bringen: Es gibt keine „Immunschuld“ in der Hinsicht, dass das Immunsystem während der Pandemie geschwächt wurde. Es gibt aber durchaus eine Immunitätslücke in der Gesellschaft – bedingt durch die Corona-Maßnahmen –, die nun dafür verantwortlich ist, dass es zu den vielen Atemwegsinfekten kommt. „Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass Infektionen tatsächlich einen Nutzen bringen oder eine Schuld darstellen, die bezahlt werden muss“, schrieb der US‑amerikanische T‑Zellforscher Anthony Leonardi Mitte Oktober in einem Blogbeitrag angesichts der RSV-Welle bei Kindern. „Sie sind eher eine Art Steuer, die wir die Kinder dafür zahlen lassen, dass unsere Zivilisation nicht weit genug entwickelt ist, um Viruserkrankungen zu verhindern, die jedes Jahr Tausende von Kindern ins Krankenhaus bringen.“

Um in Zukunft schwere RSV-Infektionen bei Kindern zu vermeiden, wäre es wohlgemerkt nicht die beste Strategie, sie so lange wie möglich hinauszuzögern. Sondern eigentlich bräuchte es eine Impfung gegen den Erreger. Daran werde momentan gearbeitet, sagte Immunologe Watzl. Eine passive Immunisierung mithilfe eines monoklonalen Antikörpers (Palivizumab) gibt es bereits. Besser wäre jedoch eine aktive Immunisierung.

Idee: Werdende Mütter gegen RSV impfen

So entwickeln Forschende derzeit einen Impfstoff, den die Kinder nach der Geburt erhalten – wie es etwa schon bei anderen Krankheiten wie Tetanus oder Hepatitis B gemacht wird. Ein anderer Ansatz ist wiederum, werdende Mütter gegen RSV zu impfen, die Antikörper über die Nabelschnur ans Baby weitergeben, sodass ein Nestschutz entsteht. Bisher entwickelt sich dieser nur, wenn sich die Mütter mit RSV infizieren und so Antikörper aufbauen.

Da sich Schwangere in den vergangenen Jahren ebenfalls mit Masken und anderen Maßnahmen vor dem Erreger geschützt haben, wird auch ein fehlender Nestschutz als Einflussfaktor für die aktuelle RSV-Welle diskutiert. Genau geklärt sei das aber noch nicht, sagte Watzl. Genauso bleiben Theorien, wonach vorherige Corona-Infektionen die Kinder anfälliger für RSV machen, wie es etwa eine Studie aus den USA nahegelegt, spekulativ.

Klar ist dagegen nach den vergangenen Pandemiejahren: Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsregelungen können in infektionsreichen Zeiten durchaus sinnvoll sein. „Jetzt nicht als Zwangsmaßnahmen, sondern auf freiwilliger Basis“, stellte Immunologe Watzl klar. „Wenn ich es schaffen würde, jeden Winter weniger Infekte zu haben, weil ich mich weiterhin an die Hygienemaßnahmen halte und freiwillig zum Beispiel in Bus und Bahn Maske trage, ist das für das Immunsystem auf jeden Fall nicht schädlich.“

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