Als WGs experimentell warenKölnerin erzählt, wie Wohngemeinschaften ihr Leben prägten

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Beatrix Novy

Beatrix Novy

Köln – Natürlich schaue sie nach oben, wenn sie in der Lindenstraße vorbeikommt. Wie man das eben so tut, wenn man vor dem Haus steht, in dem man Jahre gelebt hat – spannende, glückliche, prägende Jahre, 1971 im studentenbewegten Köln. Da gehörte die damals 21-jährige Germanistikstudentin Beatrix Novy zu den vielen jungen Leuten, die in der Wohngemeinschaft in der Lindenstraße aus- und eingingen.

Und tatsächlich gibt es in dem längst sanierten Gründerzeithaus auch 50 Jahre später noch Klingelschilder mit mehr als vier Namen – immer noch Wohngemeinschaften. „Damals standen in Köln viele Altbauwohnungen leer“, erzählt die langjährige Journalistin und Radiomoderatorin. „Die wollte niemand. Vermutlich wäre die Wohngemeinschaftsbewegung der 60er und 70er Jahre ohne diesen billigen Wohnraum nicht entstanden“, glaubt Novy.

100 Bewohner befragt — weitere Gesprächspartner gesucht

Auch Dieter Korczak kam damals in die Lindenstraße. Für seine Doktorarbeit am Forschungsinstitut für Soziologie der Universität Köln befragte er 100 Mitglieder der damals experimentellen Wohn- und Lebensform. Über viele Jahre, Umzüge und Ortswechsel hinweg hat der heute in Berlin lebende Soziologe die Tonbänder seiner Interviews aufgehoben. „Sie sind für mich ein wertvolles persönliches Zeitdokument.“

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Jetzt ist er auf der Suche nach den Gesprächspartner von damals, um sie nochmals zu befragen. Wie hat sich die WG-Erfahrung auf das Leben der Personen ausgewirkt? Was haben sie aus dieser Zeit mitgenommen? Wie leben sie heute? „Ich verspreche mir auch einige Antworten auf die Wohnprobleme der heutigen Zeit.“

Große Tischgesellschaften und Hakeleien ums Putzen

Beatrix Novy hat Korczak in Köln getroffen. „Für mich waren es prägende Jahre, in denen es darum ging, selbst ein aktiver, experimentierender Teil der gesellschaftlichen Veränderung zu sein“, erzählt sie. „Wir waren ein Zentrum der Sozialistischen Kollektive. In der Lindenstraße tagten Arbeitsgruppen, es wurde über Themen wie Dritte Welt, Kulturindustrie, Emanzipation, Politökonomie diskutiert. Es wurden Flugblätter verfasst, die wir an der Uni verteilten.“

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Und dazu kam: Das offene Haus, die Gastlichkeit, große Tischgesellschaften. Natürlich habe es auch die Hakeleien gegeben, ums Geld, ums Putzen, um die Wurst im Kühlschrank. „Es gab eine unglaublich hohe Fluktuation von Freunden, Partnern. Verglichen damit wirkt das Leben danach wie ein langer ruhiger Fluss.“

Lebensform prägte die Berufslaufbahn

Wie alle anderen WG’s starteten die Lindenstraßler mit Verve und hohen Ansprüchen in die neue Lebensform. „Mein Freund und späterer Mann Klaus Novy hat immer gewarnt, wir sollten uns nicht überfordern. Und er hatte Recht.“ Aber die WG-Erfahrung prägte die Berufslaufbahn. Klaus Novy wurde ein renommierter Verfechter des genossenschaftlichen Bauens, Frau Bea moderierte später die WDR-Fernsehsendung „Wohnräume“.

Gemeinsam mit Freunden kauften sie ein Haus in Klettenberg, das sie auch nach dem Tod ihres Mannes bis heute mit Gleichgesinnten bewohnt. „Das Gesellige, das Leben im Rudel, das habe ich nie mehr aufgegeben. Und unsere Kinder haben es geliebt und leben es heute.“

WG als finanzierbare Alternative

1979 lebten 0,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in einer Wohngemeinschaft, so Dieter Korczak. 2020 sind es 6,8 Prozent, rund 4,8 Millionen Menschen. Längst sind WG’s keine politischen Aktionsgemeinschaften mehr, sondern finanzierbare Alternativen. Beatrix Novy rät zu: „In der WG lernt man, ob man will oder nicht, Kompromisse zu suchen und zu finden. Das bleibt für das ganze Leben wichtig.“

Dieter Korzak sucht nach ehemaligen Interviewpartner und bittet sie, ihn zu kontaktieren: wohngemeinschaft@gp-f.com

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