Missbrauch in der KircheForscher kritisieren Woelki und Vorgehen im Kölner Bistum

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Rainer Maria Kardinal Woelki

Köln/Münster – Eine unabhängige Historiker-Kommission der Universität Münster zur Aufarbeitung des Missbrauchsskandals hat sich in scharfer Form gegen das Vorgehen der Kölner Bistumsleitung gewandt. „Wer Gerichtsfestigkeit verlangt, verhindert Aufklärung“, sagte der Studienleiter, Professor Thomas Großbölting, bei der Präsentation von Zwischenergebnissen einer vom Bistum Münster in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Arbeit. Das Gesamtergebnis soll im Frühjahr 2021 vorliegen. Es sei unmöglich, im Zuge der Aufarbeitung rückwirkend die Arbeit von Juristen und Gerichten nachzuholen, erklärte Großbölting. Der Ruf nach Gerichtsfestigkeit stehe einer „lebendigen, an den zeitgenössischen Akteuren orientierten und damit auch für die Prävention nützlichen Aufarbeitung im Weg“.

Im Erzbistum Köln hatte Kardinal Rainer Woelki ein bereits fertiggestelltes Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) Ende Oktober unter Verschluss nehmen lassen. Er begründet dies mit angeblichen Qualitätsmängeln und äußerungsrechtlichen Risiken bei der Nennung von Bistumsfunktionären, die für Vertuschung sexuellen Missbrauchs und Strafvereitelung verantwortlich waren. Ein Ersatzgutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke soll nun für die aus Kölner Sicht erforderliche Rechtssicherheit sorgen.

Studie soll nicht wieder Verschluss zum Opfer fallen

„Wir gehen davon aus, dass wir uns in unserer Studie regelkonform verhalten“, sagte Großbölting. Es würden dabei die gleichen Standards und Grundsätze angewandt wie in dem WSW-Gutachten für das Bistum Aachen, das im November veröffentlicht wurde.

Großbölting, der heute in Hamburg lehrt, hob im Kontrast zu Köln die Bereitschaft der Münsteraner Bistumsleitung zu Kooperation und voller Transparenz hervor. „Wir sind hier weit entfernt von den Vorgängen im Erzbistum Köln“, wo immer unklarer sei, „inwieweit der Aufklärungsimpuls von der Bistumsleitung unterstützt wird“, sagte der Wissenschaftler.

Sein Münsteraner Kollege Klaus Große Kracht forderte mehr Mut von den Bistümern. Das Äußerungsrecht, mit dessen Hilfe man sich gegen als falsch, einseitig oder diskreditierend empfundene Publikationen wehren kann, sei kein geeigneter Gradmesser, um feststellen, „was man sagen darf und was nicht“. Die Kirche mit ihrer Finanzkraft sollte ungeachtet etwaiger Rechtsstreitigkeiten „nach vorn gehen“, empfahl Große Kracht. Es gehe darum, die informationelle Selbstbestimmung von Tätern gegen das Aufklärungsinteresse abzuwägen. „Beides kann parallel funktionieren“, unterstrich Großbölting. Er richtete zugleich die Forderung an den Gesetzgeber, für mehr Rechtssicherheit auf dem Feld der Aufarbeitung zu sorgen.

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Mit Blick auf den Umgang der Münsteraner Bistumsleitungen mit Fällen sexuellen Missbrauchs zwischen 1945 und 2018 stellte das fünfköpfige Forscherteam um Großbölting anhand einer ersten Stichprobe von 49 aus etwa 200 Beschuldigten ein umfassendes „Leitungs- und Kontrollversagen“ fest. Anders als vom Bistum noch 2002 behauptet, hätten es die Verantwortlichen – Bischöfe, Generalvikare und Personalchefs – keineswegs nur mit Einzelfällen von sexuellem Missbrauch zu tun gehabt. Vielmehr seien „Intensiv- und Extremtäter“ zum Teil über Jahrzehnte in der Seelsorge belassen worden.

Gegen kirchliche Bestimmungen verstoßen

Damit hätten die Bischöfe Joseph Höffner (1906 bis 1987, seit 1969 Erzbischof von Köln), Heinrich Tenhumberg (1915 bis 1979) und Reinhard Lettmann (1933 bis 2013) auch klar gegen kirchenrechtliche Bestimmungen verstoßen. „Durch konsequentes Handeln hätten sie zahlreiche Taten verhindern können“, so der durchaus erschütternde Befund der Historiker. Es sei als „Misstrauensvotum“ des Vatikans zu werten, dass seit 2001 alle Fälle von sexuellem Missbrauch von den Bischöfen nach Rom gemeldet werden müssten.

Das Dringen Roms auf kirchenrechtliche Verfahren und eine etwaige kirchliche Strafverfolgung sei der Versuch, „Netzwerke, Seilschaften und Kumpaneien“ auf der Ebene der Bistümer aufzulösen. Die Wissenschaftler sind nach eigenen Angaben auch Täter-Netzwerken auf der Spur. In mindestens einem Fall gebe es Indizien für Komplizenschaft unter Sexualstraftätern im Klerikerstand. Für solche Verbindungen spreche „ein hohes implizites Wissen über Täter in klerikalen Zusammenhängen“, resultierend aus den engen Beziehungen unter den Priestern schon aus der Zeit ihrer gemeinsamen Ausbildung im Priesterseminar.

In ihrer Studie wollen die Historiker auch die Rolle „kirchennaher“ Ärzte und Psychotherapeuten beleuchten, die mit günstigen Prognosen nach der Begutachtung von Tätern zu deren Weiterverwendung in der Seelsorge beigetragen haben. Gleiches gilt für etwaige Nachlässigkeiten der staatlichen Ermittler bei der Verfolgung von Sexualstraftaten im Raum der Kirche.

Die Kirche habe noch in den 1950er und 1960er Jahren eine Art „hoheitlichen Schutz“ genossen, erläuterte Große Kracht. Das führte zu „Arrangements“ kirchlicher Würdenträger mit den staatlichen Behörden „im Rahmen einer Elitenverschmelzung“.

Um Vertuschung dingfest zu machen, dürfe man deshalb nicht nur auf die Kirchenleitung schauen, sondern müsse auch auf das „Umfeld“ blicken, aber auch auf die Gemeinden, in denen Täter und Opfer lebten. Von dort habe es ebenfalls Druck gegeben, von Strafanzeigen gegen Priester wegen sexuellen Missbrauchs abzusehen und deren Taten unter der Decke zu halten.

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