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„Allein sollte man nicht feiern gehen“Protokoll einer hitzigen Partynacht auf den Kölner Ringen

Lesezeit 18 Minuten
  • Raubüberfälle, ein tödlicher Messerstich und gezielte Angriffe auf Ordnungskräfte haben die Kölner Feierhotspots in den vergangenen Monaten in Verruf gebracht.
  • Warum zieht es trotzdem jedes Wochenende Tausende zum Feiern ins Zülpicher Viertel? Was passiert wirklich um 4 Uhr morgens auf den Ringen?
  • Ein siebenköpfiges Team des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat in der Nacht zum Samstag Polizei und Ordnungskräfte begleitet, mit Anwohnerinnen und Wirten gesprochen, Feiernde befragt und der AWB über die Schulter geschaut.

22.30 Uhr, Zülpicher Straße, Hillebrands. Yannick Dockx sitzt in seiner relativ leeren Bar und sagt: „Viele sind zu alt geworden für die Zülpicher.“ Vor allem draußen auf der Straße seien jetzt hauptsächlich junge Leute unterwegs, die gerade Abitur gemacht haben. Die wichtigste Sache habe sich aber nicht verändert, sagt er. „Die Leute tanzen noch. Manche haben es im Blut, manche im Bier.“

23.00 Uhr, Polizeiwache Stolkgasse. Polizei und Ordnungsamt treffen sich zur Opari-Einsatzbesprechung (Ordnungspartnerschaft Ringe). 30 Einsatzkräfte sitzen um einen Tisch, am Kopfende stehen Polizeiführerin Stefanie Lage und ihr Kollege Felix Sengespeik. Die Hauptkommissarin weist die Anwesenden kurz ein: Die Rockerlage in der Stadt sei derzeit „ruhig“, Auswüchse an den Feierhotspots, wie sie zuletzt häufig zu beobachten waren, sollen unterbunden werden. „Sowas wollen wir hier nicht“, sagt Lage und bittet ihre Kolleginnen und Kollegen, genau Buch zu führen über eventuell beschlagnahmte Waffen in den Waffenverbotszonen an den Ringen und im Zülpicher Viertel. Die Einsatzkräfte werden später für den Rest der Nacht noch von weiteren 30 Beamtinnen und Beamte einer Hundertschaft unterstützt.

23.10 Uhr, Zülpicher Straße, Kwartier. Besitzer Markus Vogt, der im Zülpicher Viertel noch eine weitere Kneipe führt, erkennt ein deutliches Problem fürs Viertel: „In den Lokalen haben wir noch ein dankbares Publikum. Aber das Problem ist die Straßenkultur.“ Die „Saufkids“, wie er sie nennt, seien eine dominierende Gruppe geworden. „Das verdrängt Stammgäste. Viele zahlende Gäste haben sich ein neues Zuhause gesucht. Auf lange Sicht müssen wir uns fragen, ob wir hier ein Veedel oder eine Ballermann-Meile sein wollen.“ Das schärfste Schwert, um Veränderungen zu erwirken, sei ein Alkoholverbot auf der Straße zu bestimmten Zeiten. „Ich bin eigentlich kein Freund von Verboten. Aber ich habe schon als Dreijähriger auf der Kyffhäuser Straße gewohnt. Mittlerweile sind es 47 Jahre, und es war noch nie so schlimm.“  

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23.20 Uhr, Zülpicher Straße, Kwartier. Ricarda Corndias sitzt mit ihrem Hund Emmi hier. Der Jack-Russel-Terrier sei schon ziemlich alt, sie wolle ihn deshalb nicht allein lassen. „Manchmal ist sie aber auch ziemlich zickig. Aber weil sie schwerhörig ist, macht ihr das Nachtleben nicht so viel aus“, sagt Corndias. Eine Gruppe junger Frauen ist beseelt vom Konzert der Künstlerin „Cloudy June“ im MTC Cologne. „Es sind immer ein paar creepy Typen hier unterwegs, das ist nicht schön, aber sonst mag ich den Spot hier sehr“, sagt die 19-jährige Melek. „Die Zülpicher ist laut, bunt, chaotisch, happy, das passt zu mir. Nur einmal wurde ich hart belästigt: klassisches Cat-Calling. Seitdem bin ich froh, wenn ich mit einer Gruppe unterwegs bin. Allein sollte man hier nicht unbedingt feiern gehen.“

23.40 Uhr, Meister-Gerhard-Straße. Einige ihrer Fenster grenzen an die Zülpicher Straße, das sei ziemlich laut, sagen Tobias und Kathrin. „Aber wir wussten ja, worauf wir uns einlassen.“ Nur dass die Lüftungsgeräusche der Gastronomie konstant auch in der Wohnung brummen, damit hätten sie nicht gerechnet. „Hier sollte man nur hinziehen, wenn man das wirklich will.“

23.45 Uhr, Rudolfplatz. Eine Frau auf dem Fahrrad hält vor einem geparkten Polizeibulli und wendet sich an den Ersten Hauptkommissar Wolfgang Baldes. „Mein Sohn campiert um die Ecke heute Nacht mit 15 anderen vor einem Sneakerladen“, sagt sie. Die Jungs wollten dort warten, bis der Laden in neun Stunden öffnet, und zu den ersten gehören, die sich ein neues Turnschuhmodell sichern. Sie sei nun etwas in Sorge. „Wie ist das denn so nachts in der Stadt? Ist das hier sicher?“ Baldes überlegt kurz, sagt dann: „In der Innenstadt ist natürlich immer was los. Aber es ist auch viel Polizei hier.“ Mit den Worten „Naja, man muss ja auch irgendwann loslassen lernen“, radelt die Mutter davon.

00.00 Uhr, Zülpicher Platz. Schichtübergabe beim städtischen Ordnungsdienst. Valentin Bykov (Vorname geändert) und seine Kollegen werden in die Lage eingewiesen. In einer Shisha-Bar auf der Zülpicher gab es einen Einsatz, sonst ist bisher nicht viel vorgefallen. Die Auslastung des Kwartier Latäng liege bei etwa zehn Prozent, schätzt Bykov.

00.05 Uhr, Zülpicher Straße. Ibrahim sitzt auf einem E-Scooter, während ihm ein Freund aus einer halbvollen Flasche Whiskey in die Cola kippt. Der dritte in der Gruppe, Mohammed, sagt: „Wir haben vorgeglüht am Aachener Weiher, da waren Leute mit einer Musikbox. Aber dann kam das Ordnungsamt und jetzt sind wir hier.“ Nur das „Küken“ der Gruppe sei schon zu betrunken, sagt Mohammed. Damit meint er den vierten Freund, der gerade alleine wegtorkelt, um sich etwas zu essen zu holen.

00.09 Uhr, Kyffhäuserstraße, Piranha Bar. Eine Ruhestörung aus der Bar wird gemeldet. Als Polizei und Ordnungsamt kurze Zeit später eintreffen, ist es hier absolut still. So still, dass sich ein Pärchen am Eingang von nichts davon abhalten lässt zu knutschen.

00.40 Uhr, Zülpicher Straße, La Croque. „Wir gehen jetzt noch auf unsere Dachterrasse“, sagt ein Lehramts-Masterstudent. Schlechte Erfahrungen habe er noch nicht gemacht, aber er wohne auch erst seit Oktober hier. „Montags tanzen die dort immer Samba, da finde ich alle immer echt nett“, sagt er über seine Nachbarn.

00.42 Uhr, Zülpicher Straße. Weithin hörbar ist laute Musik aus einem Laden, der offiziell als Restaurant gemeldet ist. Bykov macht einer Verantwortlichen eine Ansage. „Ihre Musik hört man auf der Straße noch 30 Meter weit. Das geht so nicht!“ Das Verwarngeld in Höhe von 55 Euro wird in bar gezahlt und ordnungsgemäß quittiert. „Das ist ein Schuss vor den Bug“, sagt Bykov hinterher. „Wir kommen nachher wieder und wenn die Musik dann wieder zu laut ist, wird ein Bußgeld fällig. Das tut dann schon mehr weh.“

00.44 Uhr, Zülpicher Straße. „Wenn man es an sich ranlässt, dann kann es hier bestimmt unangenehm sein“, sagt Johnny Grasser. „Aber warum sollte ich nicht hier feiern?“ Ihm sei am wichtigsten, dass er mit seinem Rollstuhl gut in den Club kommt. Jetzt wolle er aber einfach nur seinem Kumpel aus Chemnitz das Kölner Nachtleben zeigen.

00.50 Uhr, Zülpicher Platz. Ein Mann lehnt sich in einer dunklen Ecke nach vorn an die Herz-Jesu-Kirche. Wer aussieht wie der erste erwischte Wildpinkler des Abends, erweist sich als Betrunkener, der gerade gegen die Kirchenfassade kotzt. Verboten ist das nicht, auch wenn es dafür denkbar bessere Orte gäbe. „Aber wir werden heute Abend noch Wildpinkler sehen. Wildpinkler sind so sicher wie das Amen in der Kirche“, sagt Bykov.

00.50 Uhr, Zülpicher Straße, vor dem Stiefel. Vanessa Kurpiers wohnt um die Ecke am Rathenauplatz. „Da bekommt man überhaupt nichts von dem Lärm der Straße mit. Es ist fast schon totenstill, nur die Vögel zwitschern“, sagt die 23-Jährige. Abends gehe sie gerne noch einmal auf der Zülpicher eine Runde spazieren. „Ich lege mir Musik auf die Ohren und beobachte das Geschehen.“ Man sehe hier viel Skurriles, Menschen zum Beispiel, die im Dinosaurierkostüm feiern gehen. Außerhalb von Karneval. „Ich wohne einfach gern in diesem Veedel.“

1.04 Uhr, Hohenzollernring, Höhe Bäckerei Merzenich. Ein angetrunkener Mann fischt Glasflaschen aus einem Mülleimer und schleudert sie auf die Straße. Polizisten eilen herbei, kontrollieren seine Personalien und erteilen ihm einen Platzverweis. Ein Streifenwagen bringt einen Besen, eine Beamtin kehrt die Scherben von der Fahrbahn.

1.05 Uhr, Kwartier Latäng. Im Eingangsbereich eines Clubs wird geraucht, das ist verboten. Die Einsatzkräfte schauen sich in der Disko um und finden noch ein paar weitere Raucher. Der Club ist voll, viele sind der Kälte auf den Straßen entflohen. Beim Herausgehen kommt ein junger Feiernder den Einsatzkräften sehr nah. Bykov klärt die Sache mit einer kurzen Ansage und sehr strenger Miene. Seine Kollegen überprüfen die Personalien der Türsteher. Gestern wurden hier einige eingesetzt, die vorbestraft waren, unter anderem wegen Körperverletzung. Vor dem Laden machen ein paar junge Männer Stress und fangen ein Gerangel an. Die Polizei erteilt neun Platzverweise.

1.10 Uhr, Zülpicher Straße, vor Habibi-Imbiss. Bilal, 19, der mit seiner Clique aus Bonn zum Feiern nach Köln gefahren ist, sagt: „Dass hier so viel Polizei vorbeifährt, bedrängt mich ein bisschen. Wahrscheinlich ist es gerechtfertigt, aber ich fühle mich dann nicht mehr sicher, wenn ich merke, dass das Viertel hier anscheinend sicherer gemacht werden muss.“

01.15 Uhr, Zülpicher Straße, Kiosk. Ein Mann steht an der Kasse und kauft zwei Dosen Whiskey-Cola. An den Kühlschränken stehen Jugendliche, einer hat Schluckauf, eine andere singt ein Lied vor sich hin. Sie kauft eine Milka-Schokolade. „Es ist ein ruhiger Abend. Aber seit Corona bleiben die Kunden eh weg“, sagt Verkäufer Mohammed Bero.

1.27 Uhr, Zülpicher Platz, Museum. Die Frauen-Fußballmannschaft von Teuto Riesenbeck ist auf Mannschaftsfahrt. Die Spielerinnen schreien: „Landesliga wir kommen“, während sie sich in die Schlange zum Karaokeclub „Museum“ stellen. Als der Türsteher ihnen sagt, dass es fast eine Stunde dauert, bis sie singen können, ziehen sie grölend weiter.

1.30 Uhr, Zülpicher Platz. Hinter dem Bulli des Ordnungsamtes pinkelt jetzt wirklich einer gegen die Herz-Jesu-Kirche. Das kann richtig teuer werden – bis zu 200 Euro. Wasser lassen gegen den Dom kostet sogar 250 Euro, wegen dessen hervorgehobener Bedeutung.

1:50 Uhr, Zülpicher Straße. Filippa Luca Padiglia ist kurz vor ihrem Feierabend. Mit dem rechten Fuß stemmt sie die Tür zum Hausflur auf, der in den Hintereingang der Küche des Ristorante Etrusca führt. Eine Hand im Türrahmen, die andere hält einen schweren Müllsack, den sie auf dem Boden abstellt. „Ich habe 23 Jahre hier gewohnt. Aber vor vier Jahren bin ich weggezogen, weil es immer schlimmer auf der Straße geworden ist. Irgendwann konnte ich nicht mehr hier schlafen. Nach den Wochenenden muss ich mit Chlor den Dreck von der Straße putzen“, erzählt die Restaurantbesitzerin. „Heute ist es zwar ruhig. Aber manche Gäste haben mittlerweile Angst und kommen einfach nicht mehr zu bestimmten Zeiten hierher.“

2.00 Uhr, Hohenzollernring, Höhe Rudolfplatz. Einsatzleiterin Stefanie Lage und Felix Sengespeik berichten, wie sie kurz zuvor einen Autofahrer angehalten haben, der sie ein wenig zu rasant rechts überholt hat. Sie wollten den Mann, dessen Freundin neben ihm saß, zur Rede stellen, aber der wirkte glaubhaft verzweifelt: „Meine Freundin hat sich eben im Mc Donald’s übergeben, und jetzt muss sie ganz dringend groß.“ – „Wo wohnen Sie denn?“, fragte Lage. „In Pesch.“ Nicht gerade um die Ecke. Sengespeik beurteilte die Situation: keine Gefährdung Dritter, ein Toilettennotfall. „Da muss man Mensch bleiben“, sagt er. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei der Fahrer mit einer mündlichen Verwarnung davongekommen.

2.05 Uhr, Rudolfplatz, McDonald’s. Zur Mittagspause gibt‘s für das Opari-Team des Ordnungsdienstes Burger und Pommes. Vor dem Eingang bekommt noch eine junge Frau eine Ansage wegen einer lauten Bluetooth-Box. Als die Einsatzkräfte gerade wieder draußen sind, ruft einer aus dem Schnellimbiss, dass drinnen jemand Stress macht. Ein Besoffener geht dem anderen an die Gurgel, das Ordnungsamt schreitet ein und macht klare Ansagen. Bykov scheint genervt angesichts der Störung in der Pause und flucht beim Rausgehen: „Wer nicht saufen kann, soll zuhause bleiben!“

2.20 Uhr, Zülpicher Platz. Die Pause ist rum, die Zülpicher ist etwas voller, man hört jetzt schon deutlich mehr Glas auf dem Boden zersplittern, das Gegröle wird lauter, die Stimmung aggressiver. „Ab jetzt wird‘s interessant. Ab jetzt müssen wir noch ein bisschen mehr aufpassen“, sagt Polizist Benny Beukenbusch.

2.30 Uhr, Luxemburger Straße. Ein Mann schlägt einen anderen vor einem Club zusammen, drei Zeugen halten den Angreifer zurück und verhindern wohl Schlimmeres. Die Polizei fahndet nach dem flüchtigen Täter mit der Jogginghose, findet ihn aber nicht mehr.

2.40 Uhr, Zülpicher Straße. Neben einem Kiosk läuft eine Musikbox zu laut, private Beschallung des öffentlichen Raums ist nicht erlaubt. Es ist die gleiche Frau, die sich eben noch bei McDonald’s eingedeckt hat. Die Box wird vorerst konfisziert.

2:49 Uhr, Zülpicher Straße, vor dem Kwartier. „Auf der Zülpicher ist der Vibe ein anderer. Hier kommt man vor allem her, wenn man von außen, vom Dorf kommt. Echte Kölner wissen eigentlich, wo es besser ist und vor allem entspannter – Guck! Die treten hier einfach jede Bierflasche um!“ ruft ein blonder 21-Jähriger und zeigt auf einen vorbeilaufenden Älteren, der über ein Flaschenlager auf dem Bordstein stolpert.

2.50 Uhr, Zülpicher Straße. Die Party im Kwartier Latäng konzentriert sich inzwischen auf den mittleren Bereich zwischen Heinsbergstraße und den Cuba Bars. Bykov nennt es „das magische Dreieck“.

3.08 Uhr, Zülpicher Platz. Drei Jugendliche pinkeln an die Ostfassade der Herz-Jesu-Kirche, Ordnungsamt und Polizei halten die 15-jährigen an. Die Jungs sind offensichtlich betrunken, uneinsichtig und plustern sich auf. Nach ein paar Minuten fordert einer von ihnen die Einsatzkräfte auf, sich auszuweisen. „Ist das jetzt dein Ernst?“, fragt ein Polizist. „Ja, Name und Dienstnummer bitte. Ich weiß, dass ich das darf“, sagt der Junge aus Rodenkirchen mit geföhntem Haar, Poloshirt und zittriger Stimme. „Dienstnummern haben wir nicht, die gibt’s nur im Fernsehen. Sie gucken zu viel Cobra 11“, sagt Bykov. Die Jungs werden sich im weiteren Verlauf noch um Kopf und Kragen reden.

3.10 Uhr, Schaafenstraße. Ein Mann stiehlt einem Feiernden die Wertsachen und flüchtet auf einem E-Scooter. Fast zeitgleich rauben zwei Täter einem Opfer auf der Schildergasse das Handy – auch ihnen gelingt auf einem E-Scooter die Flucht.

3.15 Uhr, Zülpicher Platz. Die drei kleinen Wildpinkler blasen sich immer weiter auf. Dass ihre Eltern Anwälte hätten, die die Vorwürfe in der Luft zerpflücken würden. „Es ist nach drei Uhr, ihr seid betrunken auf der Zülpicher Straße unterwegs. Ihr habt hier eigentlich gar nichts mehr zu suchen“, sagt ein Mitarbeiter des Ordnungsdienstes und fragt, ob die Mutter oder der Vater das Knöllchen bekommen soll. Einer der Jungs lacht hämisch und sagt den Einsatzkräften: „Ihr wisst eh, für welche Firma Ihr arbeitet.“ Wegen möglicher Reichsbürger-Verbindungen will die Polizei die interne Abteilung für Staatsschutz informieren.

3.18 Uhr, Bahnhof Süd. Taxifahrerin Gerda Coppenrath hat eine ruhige Nacht. Auf dem Beifahrersitz liegt ein Buch bereit, das die 81-Jährige liest, während sie auf den nächsten Gast wartet. „Ich fahre Taxi, um meine Rente aufzustocken“, sagt sie. Seit 43 Jahren fahre sie schon – aber das Publikum habe sich verändert. „Die Jungs haben keinen Respekt mehr und wenn man sie an der Zülpicher Straße abholt, reden sie eigentlich nur noch von Geschlechtsverkehr.“

3.22 Uhr, Zülpicher Platz. Die Wildpinkel-Aktion vor der Herz-Jesu-Kirche entwickelt sich zum Politikum. Welche „Firma“ denn gemeint sei, fragt Bykov. „Das wisst Ihr ganz genau“, sagt der 15-Jährige und fordert das Ordnungsamt auf, Respekt vor ihm zu haben. Bykov kann jetzt nicht anders, als eine Ansage zu machen. „Wissen Sie was? Der einzige, der keinen Respekt hat, sind Sie. Ich helfe Ihnen gerade, auch wenn Sie es nicht wissen. Wir könnten euch auch sofort in Obhut nehmen lassen, aber wir versuchen, eine Lösung zu finden für euch. Sie werden sich noch schämen für diese Aktion. Zeig endlich mal Respekt, ein kleines bisschen Respekt!“ Ein Uber-Fahrer kommt vorbei und nimmt die drei mit. Bykov steckt sich eine Zigarette an, schüttelt mit dem Kopf. „Man muss sowas einfach mit Humor nehmen. Sonst wird man wahnsinnig.“

3.30 Uhr, Zülpicher Straße. Schlägerei vor einer Bar. Das Opari-Team rennt von der Kirche aus vorbei an mehreren kotzenden Menschen. Die Streithähne gehen schnell auseinander. „Aber das Dreieck fängt langsam an zu wirken“, sagt Bykov.

3.35 Uhr, Schaafenstraße. Schreiend, mit blutverschmiertem Gesicht sitzt ein Mann mitten auf der Straße. Polizisten fesseln ihm die Hände auf den Rücken. „My mobile, my mobile“, ruft der Mann immer wieder. Im Tumult hat er offenbar sein Handy verloren. An dem Gemenge war er allerdings nicht schuldlos: Er soll mit eine Flasche nach einem Türsteher geworfen haben, weitere Security-Mitarbeiter rissen den Randalierer daraufhin zu Boden. Im Gewühl soll ein Begleiter des Täters einem Kellner dessen Portmonee mit Bargeld und Verzehrmarken im Wert von fast 3000 Euro gestohlen haben – damit gelang ihm die Flucht. Der Randalierer wird unter theatralischem Gezeter ins Krankenhaus gebracht.

3:35 Uhr, Bahnhof Süd. Jana D. 20 ist mit zwei Freundinnen zur Kneipe „Stiefel“ unterwegs. „Ich habe mich immer über Bullen beschwert, aber mittlerweile freue ich mich, wenn ich Polizeistreifen sehe. Ich würde mir sogar auch Kameras auf der Zülpicher wünschen.“ An der Ecke Kyffhäuser Str./ Zülpicher habe sie einmal miterlebt, wie eine Gruppe Männer einem anderen im Vorbeigehen ins Gesicht geschlagen habe. Einfach so. „Ich habe dann direkt den Krankenwagen gerufen.“

3:40 Uhr, Kreuzung Zülpicher Str./ Kyffhäuser. Marie, 20, erzählt: „Auf den Ringen wurde ich einmal in eine dunkle Gasse gezogen. Ich war so dankbar, dass die Polizei direkt da war, das hat mir echt das Leben gerettet. Der Typ hatte mir irgendwas in meinen Drink gemischt.“

3:50 Uhr, Hohenzollernring, vor Burger King. Vier Jugendliche tragen eine junge Frau an Armen und Beinen über den Bürgersteig und helfen ihr, sich senkrecht sitzend an einen Baum zu lehnen.

3.50 Uhr, Hohenzollernring, Höhe Starbucks. Ein Taxifahrer stürmt auf Stefanie Lage und Felix Sengespeik zu: „Da liegt einer bewusstlos.“ Ein paar Meter weiter liegt ein junger Mann rücklings auf dem Gehweg und bewegt sich nicht. Fünf Passanten knien neben ihm, rütteln ihn wach, sprechen auf ihn ein, geben ihm Wasser. Langsam kommt der Verletzte zu sich. Zitternd und offensichtlich unter Schock stehend berichten zwei Zeuginnen den Polizisten, dass er soeben von zwei Männern zu Boden geschlagen worden sei. Die Angreifer sind flüchtig – aber die Ringe sind größtenteils videoüberwacht. In der Polizeileitstelle in Kalk spult eine Beamtin das Überwachungsvideo bis zu dem Überfall zurück. Die entscheidenden Szenen überträgt sie auf die Diensthandys der Polizisten vor Ort, die sofort mit der Fahndung beginnen. Auf dem kurzen Ausschnitt ist zu sehen, wie die beiden Täter einen Streit mit dem offenbar betrunkenen Opfer zu provozieren scheinen. Sie schlagen auf den Wehrlosen ein, auch dann noch, als er schon am Boden liegt. Bevor sie davonlaufen, tritt einer der beiden dem Mann gezielt gegen den Kopf.

4 Uhr, Zülpicher Platz. Die wohl teuerste und zugleich dümmste Fahrt der Nacht legen zwei junge Männer auf dem E-Scooter hin. Mit bis zu 1,3 Promille im Blut fahren sie zu zweit an einem „Durchfahrt-verboten“-Schild vorbei – gleich neben mehreren Bullis der Polizei. Als einer der beiden die Miete beenden will, versagt auch noch der Handyakku. Die beiden kommen mit auf die Wache. Gutes Karma sieht anders aus.

4.35 Uhr, Hohenzollernring. Auf der Clubmeile am Klapperhof machen ein paar Betrunkene Ärger, schubsen sich, am Ende weiß niemand mehr, wer hier überhaupt gegen wen ist. Ein Beteiligter wird – wie es heißt – wegen „Eigen- und Fremdgefährdung“ von der Polizei zunächst fixiert und anschließend laufen gelassen.

4.45 Uhr, Alter Markt. Die ersten Vögel zwitschern und am Alter Markt ist nur noch eine Kneipe offen. Eine zukünftige Braut steht mit blinkendem Schleier draußen und raucht eine Zigarette. Vom Rest des Junggesellinnenabschieds ist nichts zu sehen. Zwei Männer in schwarzen Pullovern schubsen sich neben ihr, sie werden laut. Kurz später ist die Polizei vor Ort und redet auf die Beiden ein.

4.50 Uhr, Friesenplatz. Einer der beiden Verdächtigen, die vor dem Starbucks den Betrunkenen bewusstlos geschlagen haben, ist zum Tatort zurückgekehrt. Die Beamten in der Videoleitstelle erkennen den Mann wieder und informieren ihre Kollegen vor Ort. Die halten den Verdächtigen in Höhe der U-Bahn-Haltestelle auf, drücken ihn gegen eine Wand, durchsuchen ihn, fixieren seine Hände auf dem Rücken und stellen seine Personalien fest. Ihn erwartet eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. Das Opfer scheint sich unterdessen erholt zu haben. Im Krankenhaus soll der Mann plötzlich randaliert, eine Behandlung abgelehnt und sich selbst entlassen haben.

5.07 Uhr, Hohenzollernring. Die nächste Ruhestörung in Höhe des Betonautos. Eine Gruppe besoffener junger Männer aus Lüdenscheid grölt über die inzwischen ziemlich leeren Ringe. Einer zahlt die 35 Euro für das Knöllchen sofort in bar, die anderen bekommen in den nächsten Tagen Post.

5.15 Uhr, Zülpicher Straße, Ecke Roonstraße. In einem Burgerladen hat ein Taschendieb einem Kunden sein iPhone 13 aus der Tasche gezogen und ist damit entkommen. Das Opfer ruft die Polizei, Stefanie Lage nimmt eine Anzeige auf. Das Schnellrestaurant ist videoüberwacht, womöglich hilft der Kripo das später bei der Identifizierung des Täters.

5.35 Uhr, Hohenzollernring. Die Nacht verschwindet langsam aus der Stadt, spuckt aber noch einige zähe Zeitgenossen aus. Wie einen Mann Mitte 30, der sturzbesoffen aus dem Diamonds stolpert und ganz viel wirres Zeug erzählt. Dass er verfolgt und mit dem Tode bedroht worden sei. Polizist Beukenbusch fordert ihn zum Gehen auf. Er wolle jetzt die Polizei anrufen, sagt der Mann den anwesenden Polizisten. Welche Nummer die denn habe. „110“, sagt Beukenbusch. Der Betrunkene versucht mehrmals vergeblich, die drei Ziffern einzutippen, probiert es aber bei der 100 – kein Anschluss unter dieser Nummer. „Ich zeig euch alle an“, brüllt der Mann, wird noch einige Drohungen los und geht irgendwann. „Da hat nur noch gefehlt, dass ich morgen keinen Job mehr habe“, scherzt Beukenbusch.

5.40 Uhr Zülpicher Platz. Einsatzleiterin Lage zieht die Polizeibilanz der Nacht: weniger Einsätze als an anderen Wochenenden, aber ein „typisches Ende“ mit Gewaltdelikten am frühen Morgen.

5.55 Uhr Hohenzollernring. Eine Gruppe junger Männer bläst Luftballone mit irgendeinem Gas auf, um sich anschließend damit erbarmungslos zuzudröhnen.

6.30 Uhr Zülpicher Straße. Es ist inzwischen taghell. Die Straße ist voll mit Glasscherben, Essensresten und Erbrochenem. Der erste Brotlieferant des Tages fährt bei einem Imbiss vor und die Stadtreinigung kommt vorbei. AWB-Gruppenleiter Thomas Faßbender atmet auf, lächelt kurz „da haben wir aber Glück gehabt“. Die Straße ist dreckig, aber nicht komplett vermüllt. Zwei Kehrwagen sind im Einsatz, fahren die Straße rauf und runter, mit Laubbläsern wird der Müll unter den Autos weggepustet. Anderthalb Stunden wird die Kolonne allein auf der Zülpicher Straße beschäftigt sein, danach zieht sie weiter in die Altstadt.

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