Kölner Kardinal Woelki und Pfarrer O.Wie das Gutachten den Fall bewertet

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Kardinal Woelki im Kölner Maternushaus

  • Die Kanzlei Gercke untersuchte auch ausführlich, wie der Erzbischof mit dem Missbrauchsvorwurf gegen einen mit ihm befreundeten Pfarrer umging.
  • Woelki wird keine Pflichtverletzung zur Last gelegt.
  • Laut Experten bleiben aber Fragen offen.

Köln – Der „Fall O.“, den das Missbrauchsgutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke eingehend untersucht hat, ist für Kardinal Rainer Woelki persönlich von Brisanz. Es geht um den Missbrauchsvorwurf gegen einen Düsseldorfer Pfarrer, dem Woelki schon aus der Zeit seiner Ausbildung zum Priester eng verbunden war. Das mutmaßliche Opfer hatte den Fall aus den späten 1970er Jahren 2010 angezeigt. Für die besondere, auch vom Erzbistum erkannte Schwere des Tatvorwurfs spricht, dass dem Opfer 2011 die für damalige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Summe von 15 000 Euro „in Anerkennung des Leids“ zugesprochen wurde.

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Kardinal Woelki im Kölner Maternushaus

Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Dezember 2020 erstmals berichtete, erfuhr Woelki 2011 als Weihbischof von dem Vorwurf gegen Pfarrer O. Die formale Verantwortung für den Fall lag bei Kardinal Joachim Meisner, seinem Generalvikar Dominik Schwaderlapp sowie Personalchef Stefan Heße, der mit Woelki darüber sprach. 2012 nahm O. an den Feierlichkeiten zu Woelkis Kardinalserhebung in Rom teil. 2017 hielt Woelki bei O.s Beerdigung die Traueransprache. In seiner Verantwortung als Erzbischof ließ Woelki sich im Jahr 2015 O.s Akte kommen. Danach entschied er, keine kirchliche Voruntersuchung einzuleiten. Auch eine Meldung des Verdachtsfalls nach Rom unterblieb. Während Experten wie der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller dies als klare Verletzung von päpstlichen Normen werten, erkennt Gerckes Gutachten lediglich eine Verletzung der Untersuchungs- und Meldepflicht durch Meisner, nicht aber durch Woelki.

Zu Woelkis Entlastung macht das Gutachten den schlechten Gesundheitszustand von Pfarrer O. im Jahr 2015 geltend. Rechtsanwältin Kerstin Stirner aus Gerckes Kanzlei sagte, O. sei „verhandlungsunfähig“ gewesen. Demzufolge hätte eine Meldung nach Rom auch nicht dazu geführt, dass O. womöglich hätte bestraft werden können.

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In das Gutachten ging nicht die Sicht der damaligen Opferbeauftragten Christa Pesch ein, die mit dem Fall betraut war und nach eigener Auskunft vergeblich auf eine Untersuchung gedrungen hatte. Sie betont auch, dass sie von Woelki 2015 nicht nach ihrem Kenntnisstand gefragt oder anderweitig konsultiert worden sei. Gercke erklärt den Verzicht auf eine Befragung Peschs damit, dass diese „nicht vom Gutachtenauftrag erfasst“ gewesen sei. Alle Fragen hätten „durch andere Personen geklärt werden“ können. Schüller, ein erklärter Kritiker Woelkis im Fall O., nannte die Beurteilung durch die Gutachter „eine glatte Fehlinterpretation der kirchlichen Normen“. Gemeinsam mit vielen Fachkollegen halte er daran fest, dass Woelki den Fall zwingend in Rom hätte anzeigen müssen. Auch nach der Darstellung der Gutachter, die auf der formaljuristischen Ebene ansonsten „exzellent gearbeitet“ hätten, blieben „viele Fragen offen“. Bei aller Lückenhaftigkeit der Akten sei klar: „Der Kardinal wusste seit 2011 darum, dass ein guter Freund von ihm wohl ein Missbrauchstäter war, ohne dass das Folgen gehabt hätte.“

Insgesamt nannte Schüller die Präsentation des Gutachtens die „Inszenierung eines Theaterstücks, aus der Woelki als strahlender Held hervorgehen soll“. In seinen Bewertungen gerate das Gutachten mit entlastenden Annahmen von Unwissenheit oder Rechtsunkenntnis der Bistumsspitze „zu einer plumpen Verteidigungsschrift“.

Lesen Sie hier die Dokumentation des Falls O.

Im April 2010 meldete sich der Betroffene* per E-Mail anonym bei der Ansprechperson im Erzbistum Köln für Betroffene von sexuellem Missbrauch. Er gab an, etwa im Jahr 1977 im Alter von fünf Jahren durch einen Priester sexuell missbraucht worden zu sein. Die Ansprechperson antwortete auf die Meldung, um den Sachverhalt näher aufzuklären, erhielt von dem Betroffenen* jedoch keine Antwort. Einen hierüber angelegten Aktenvermerk zeichnete der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße ab und bat um Recherche bezüglich des Täters, was auch gelang. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Ruhestand und lebte im Altenheim. Eine „Giftakte“ sollte nicht angelegt werden und keine weitere Reaktion erfolgen. Im März 2011 meldete sich der Betroffene* erneut und konkretisierte die Vorwürfe. Der Beschuldigte habe ihn „die ersten Male“ „durch die Kleidung“ angefasst. Später habe er sich ausziehen müssen. Der Beschuldigte habe ihn mit seinen Genitalien berührt. Er könne sich an den Geschmack der Genitalien sowie von Sperma erinnern. Der Betroffene* nannte nun auch seinen Namen und schließlich auch seine Adresse. Auch hierüber wurde der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße in Kenntnis gesetzt. Dieser verfügte, dass versucht werden solle, mit dem Betroffenen* ein Gespräch zu führen.

Der Betroffene* äußerte seine Bedenken, ob es Sinn mache, den im Altenheim befindlichen Beschuldigten mit dem Vorgefallenen zu konfrontieren. Eine Telefonnummer gab er nicht an. Über seine Postadresse wurde er von dem Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße zu einem Gespräch gemeinsam mit der Justitiarin geladen und teilte mit, dass ihm die entstehenden Fahrtkosten der Hin- und Rückreise gegen Vorlage einer Quittung erstattet werden würden. Der Betroffene* gab an, dass ihm aufgrund der räumlichen Distanz und seines Gesundheitszustandes ein persönliches Gespräch derzeit nicht möglich sei. Ferner fehlten ihm auch die finanziellen Mittel für eine Anreise nach Köln. Er fügte diesem Schreiben einen Antrag auf Leistungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs an. Darin vermerkte er, dass die Tat einmal fast durch einen Hausmeister bemerkt worden sei und schilderte auffällige Merkmale dieser Person.

Die Ansprechperson leitete diesen Antrag an die Zentrale Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz weiter und äußerte in ihrem Anschreiben, dass ihres Erachtens dieser Betroffene* besonderer Beachtung bedürfe. Im Mai 2011 teilte die Zentrale Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz dem Erzbistum Köln mit, dass es sich um einen besonders schwerwiegenden Härtefall handele und eine Zahlung in Höhe von 15.000 € empfohlen werde.

Im Juni 2011 telefonierte Herr Dr. Heße mit Weihbischof Dr. Woelki, um sich nach dem Zustand des Beschuldigten zu erkundigen. Ausweislich eines Aktenvermerks von Herrn Dr. Heße vom 03.06.2011 teilte Weihbischof Dr. Woelki mit, dass der Beschuldigte in keinem guten Zustand sei. Er sei zuletzt wegen Depressionen behandelt worden. Er äußerte – so in dem Vermerk niedergelegt – die Sorge, dass der Beschuldigte bei einer Konfrontation mit den Vorwürfen „in ein Tief“ falle. Er könne sich die genannten Vorwürfe nicht vorstellen. Gemäß einer handschriftlichen Notiz unter diesem Aktenvermerk entschied Erzbischof Dr. Meisner im Jour fixe vom 10.06.2011, dass der Beschuldigte aufgrund seiner gesundheitlichen Situation nicht mit den Vorwürfen konfrontiert werden solle.

Obwohl sich dies aus dem Aktenmaterial nicht ergab, gelangte den Gutachtern zur Kenntnis, dass sowohl der Beschuldigte als auch u. a. Erzbischof Dr. Meisner und Herr Dr. Heße im Jahr 2012 zur Kardinalsernennung von Herrn Dr. Woelki nach Rom reisten.

Der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße wies nach Eingang eines Antrags auf Leistungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs eine Zahlung in der von der Deutschen Bischofskonferenz empfohlenen Höhe von 15.000 € an.

(b) Erneute Meldung

Im Februar 2012 meldete sich der Betroffene* erneut und bat um Übernahme von Fahrtkosten, um eine Therapie absolvieren zu können. Der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße lehnte die Kostenübernahme ab. Im April 2015 ließ sich Erzbischof Dr. Woelki die „Giftakte“ des Beschuldigten vorlegen. Gemäß einer Aktennotiz informierte der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Rahmen eines Jour fixe Erzbischof Dr. Woelki über den Akteninhalt. Erzbischof Dr. Woelki nahm den Sachverhalt zur Kenntnis und entschied, dass „ein weiteres Vorgehen nicht notwendig“ sei. Der Beschuldigte verstarb im Jahr 2017.

(2) Anhörungen zu Aktenvorgang 5 (a) Erzbischof Dr. Rainer Maria Woelki (20.09.2014 bis heute)

Erzbischof Dr. Woelki teilte in seiner Anhörung vom 09.02.2021 neben o. g. allgemeinen Ausführungen mit, dass er seit Beendigung seines Studiums im Jahr 1983 Kontakt zum Beschuldigten gehabt habe und mit ihm befreundet gewesen sei. Man habe die Ferien gemeinsam verbracht, miteinander telefoniert und Ähnliches. Auch im Jahr 2011 habe er mit dem Beschuldigten in Kontakt gestanden; damals habe dieser in einer Senioreneinrichtung gelebt.

Im Juni 2011, in seiner Zeit als Weihbischof, sei er nachmittags vom Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal, Herrn Dr. Heße, angerufen worden, als er sich gerade auf den Weg zu einer Firmfeier habe machen wollen. Es sei zunächst um andere Dinge gegangen, dann sei Herr Dr. Heße völlig unvermittelt auf den Beschuldigten zu sprechen gekommen und habe gefragt, ob er sich vorstellen könne, dass dieser Missbrauch begangen habe. Er habe geantwortet, dass er sich dies nicht vorstellen könne und gefragt, wie er, Herr Dr. Heße, darauf komme, ob es insoweit Beschuldigungen gebe. Hierauf habe Herr Dr. Heße ausweichend reagiert und stattdessen lediglich gefragt, wo der Beschuldigte aktuell wohne und wie es ihm gehe. Er habe Herrn Dr. Heße daraufhin mitgeteilt, dass der Beschuldigte im Altenheim lebe und dass es ihm nicht gut gehe; er habe einen Schlaganfall gehabt und leide an Depressionen, sei im Krankenhaus und in einer Tagesklinik gewesen. Er habe bei dem Telefonat wiederholt versucht herauszufinden, ob eine konkrete Anschuldigung vorliege und von wem diese stammen könne, da er Leute in der Gemeinde des Beschuldigten gekannt habe. Herr Dr. Heße habe jedoch nur ausweichend geantwortet. Darüber, dass Dr. Heße ihm nichts gesagt habe, obwohl er gewusst habe, dass er mit dem Beschuldigten befreundet gewesen sei, habe er sich später sehr geärgert.

Zum damaligen Gesundheitszustand des Beschuldigten befragt, teilte Erzbischof Dr. Woelki mit, dass er zuvor einen Schlaganfall erlitten habe. Er habe sich infolgedessen mit dem Sprechen schwergetan und habe motorische Probleme gehabt. Schon seit mehreren Jahren habe er zudem an Depressionen gelitten. Seit etwa 2007 seien an ihm auch zunehmend demenzielle Veränderungen feststellbar gewesen, die mit Sprachstörungen und Vergesslichkeit einhergegangen seien.

Erzbischof Dr. Woelki äußerte ferner, dass er etwa vier Wochen nach dem besagten Telefonat mit Herrn Dr. Heße zum Erzbischof von Berlin ernannt worden sei und dann auch dorthin gezogen sei. Von etwaigen Anschuldigungen gegen den Beschuldigten habe er danach nichts mehr gehört. Im Jahr 2012 sei er dann in Rom zum Kardinal kreiert worden. Zu diesem Zeitpunkt sei es dem Beschuldigten etwas besser gegangen, die Ärzte und Physiotherapeuten hätten ihn wieder etwas stabilisieren können. Kurz vor der Kardinalserhebung habe sich die Nichte des Beschuldigten gemeldet und gefragt, ob es möglich sei, dass der Beschuldigte daran teilnehme; sie und ihr Ehemann würden alles dafür tun, ihm diesen Wunsch zu ermöglichen. Er habe keine Einwände gehabt, woraufhin der Beschuldigte von dessen Nichte und ihrem Ehemann quasi durch Rom „geschleppt“ worden sei. Aus seiner Sicht wäre es angesichts des gesundheitlichen Zustands besser gewesen, wenn der Beschuldigte zu Hause geblieben wäre. Er sei zum damaligen Zeitpunkt weder in der Lage gewesen, allein zu laufen, noch sich selbst anzuziehen oder seine Koffer zu packen. Zur Kardinalsernennung seien dann – für ihn sehr überraschend – mehrere Personen aus Köln erschienen, so etwa Herr Dr. Heße und Erzbischof Dr. Meisner, die den Beschuldigten dort auch gesehen hätten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten diese also auf die Idee kommen können, noch einmal nachzuhaken.

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Erzbischof Dr. Woelki erklärte weiterhin, dass er nach seinem Amtsantritt als Erzbischof von Köln den damaligen Interventionsbeauftragten um eine Liste derjenigen Priester gebeten habe, denen Missbrauch vorgeworfen worden sei. Diese Liste sei ihm nach längerem Zuwarten schließlich im Jahr 2015 vorgelegt worden. Es habe sich dabei um eine Excel-Tabelle gehandelt, in welcher in der letzten Spalte auch Zahlungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs aufgeführt gewesen seien. Bei der Durchsicht dieser Liste sei er dann auf den Namen des Beschuldigten gestoßen und habe festgestellt, dass eine Zahlung in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs in der außerordentlichen Höhe von 15.000 € aufgeführt gewesen sei. Diese Feststellung habe ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er habe sich gefragt, was der Beschuldigte, den er schon so viele Jahre kenne, getan haben müsse, dass es zu einer solchen Zahlung gekommen sei. Dies sei für ihn ein furchtbarer Augenblick gewesen. Da ihm die Sache keine Ruhe gelassen habe, habe er dem damaligen Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal gesagt, dass er die Personalakte des Beschuldigten sehen wolle. Diese habe er sich dann mal abends angeschaut, habe daraus aber keine Vorwürfe entnehmen können und sie deshalb wieder zurückgegeben.

An den weiteren Verlauf habe er keine Erinnerung mehr. Es müsse aber, wie er inzwischen wisse und auch aus der Akte hervorgehe, so gewesen sein, dass ihm der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal in der Folge die „Giftakte“ vorgestellt und ihm von dem Missbrauchsvorwurf berichtet habe. Er habe dann entschieden, dass ein weiteres Vorgehen gegen den Beschuldigten nicht notwendig sei. Der Grund hierfür sei gewesen, dass der Beschuldigte zum damaligen Zeitpunkt aufgrund eines zweiten Schlaganfalls als Schwerstpflegefall im Altenheim gelegen habe. Er sei bettlägerig gewesen, habe kein Wort mehr sprechen können und nur noch mit offenem Mund an die Decke gestarrt. Ein Gespräch sei mit ihm nicht mehr möglich gewesen; er habe ihn in der Regel bei den Besuchen nicht einmal mehr erkannt. Eine Befragung sei zum damaligen Zeitpunkt schlicht undenkbar gewesen.

(b) Dr. Stefan Heße, Leiter Hauptabteilung Seelsorge Personal (01.01.2006 – 15.03.2012)

Herr Dr. Heße teilte in seiner Anhörung vom 04.02.2021 neben den o. g. allgemeinen Äußerungen mit, dass ihm der Fall erst seit der Presseberichterstattung wieder grob erinnerlich sei. Er habe damals von Erzbischof Dr. Meisner den Auftrag bekommen, den damaligen Weihbischof Dr. Woelki bezüglich der Frage, ob der Beschuldigte mit den Vorwürfen konfrontiert werden könne, zu konsultieren, da dieser mit dem Beschuldigten gut bekannt gewesen sei. Weihbischof Dr. Woelki habe signalisiert, dass der Beschuldigte nicht mehr vernehmungsfähig sei. Auf Nachfrage erläuterte Herr Dr. Heße, dass der Begriff der Vernehmungsfähigkeit bei dem Gespräch nicht gefallen sei; seiner Erinnerung nach habe Weihbischof Dr. Woelki etwas von einem Schlaganfall des Beschuldigten berichtet. Er habe ganz klar den Eindruck erweckt, dass es dem Beschuldigten nicht gut gehe. Dass Weihbischof Dr. Woelki angesichts seines freundschaftlichen Verhältnisses zum Beschuldigten dessen Befragung nicht gewollt habe, konnte sich Herr Dr. Heße nicht vorstellen. Dieser habe in dem Gespräch die gesundheitliche Situation erwähnt, die sich mit der persönlichen Erfahrung von Herrn Dr. Heße während eines Sommerurlaubes gedeckt habe, in welchem er den Beschuldigten selbst getroffen habe. Dort habe er, Herr Dr. Heße, selbst erlebt, wie der Beschuldigte im Rahmen der gefeierten Messe nicht einmal mehr in der Lage gewesen sei „geradeaus vorzulesen“ und die vier Evangelisten zu benennen. Er vermute, dass dies zu einer Zeit gewesen sei, als der Beschuldigte noch zu Hause gelebt habe. Zu diesem Zeitpunkt sei der Beschuldigte schon so „neben der Spur“ gewesen, dass er, Herr Dr. Heße, davon ausgehe, dass er Erzbischof Dr. Meisner davon berichtet und dieser ihn dann gebeten habe, einmal mit Weihbischof Dr. Woelki zu sprechen, da dieser den Beschuldigten kenne. Er habe die Sache anschließend an Erzbischof Dr. Meisner zurückgegeben, der dann entschieden habe, dass man den Beschuldigten nicht mit den Vorwürfen konfrontieren könne. Auf Nachfrage gab Herr Dr. Heße an, dass der Beschuldige bereits im Juni 2011 auf fremde Hilfe angewiesen gewesen sei. Er hätte beispielsweise nicht selbst zur Priesterweihe nach Köln kommen können.

Auf weitere Nachfrage bestätigte Herr Dr. Heße die spätere Romreise des Beschuldigten zur Kardinalserhebung von Erzbischof Dr. Woelki, die er selbst miterlebt habe. Erzbischof Dr. Meisner sei ebenfalls dabei gewesen. Man habe dort in einer Runde von ca. 50 – 60 Personen in einem von Herrn Dr. Woelki angemieteten Lokal zu Mittag gegessen. Er habe den dort ebenfalls anwesenden Beschuldigten als alten Mann wahrgenommen, der Begleitung benötigt habe. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen, allein durch Rom zu laufen. Warum aus der Akte hervorgehe, dass für diesen Fall keine Giftakte angelegt werden solle, war Herrn Dr. Heße nicht erinnerlich. (c) Dr. Dominikus Schwaderlapp, Generalvikar (01.06.2004 – 16.03.2012) Herr Dr. Schwaderlapp teilte in seiner Anhörung vom 26.01.2021 neben den o. g. allgemeinen Äußerungen mit, dass er zu diesem Fall eine Presseanfrage erhalten habe und dabei „aus allen Wolken gefallen“ sei. Er habe den Beschuldigten gekannt und ihn als Weihbischof im Zeitraum von etwa 2012/2013 bis zu dessen Tod 2017 auch etwa vier Mal im Altersheim besucht. Von den Vorwürfen habe er nie etwas gehört. Ob er den Beschuldigten bei der Kardinalserhebung von Erzbischof Dr. Woelki in Rom gesehen habe, sei ihm nicht mehr erinnerlich. Zum Gesundheitszustand des Beschuldigten bei den Besuchen im Altersheim befragt, erklärte Herr Dr. Schwaderlapp, dass er schon 2013 körperlich sehr eingeschränkt gewesen sei. Man habe sich zwar mit ihm unterhalten können, irgendwann habe er aber einen Schlaganfall gehabt und danach sei es viel schlechter geworden. Wann dies gewesen sei, wisse er nicht mehr. Es sei auch zunehmend eine alterstypische demenzielle Veränderung feststellbar gewesen. Eine lineare gesundheitliche Entwicklung habe es nicht gegeben, vielmehr sei diese in „Wellenbewegungen“ verlaufen; es habe immer wieder Tiefpunkte gegeben, von denen er sich zum Teil wieder erholt habe.

(3) Bewertung zu Aktenvorgang 5

(a) 1. Verdachtsfall Im vorliegenden Fall gelangen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass Erzbischof Dr. Meisner im Jahr 2011 pflichtwidrig handelte, als er keine kirchenrechtliche Voruntersuchung einleitete und es unterließ, den Verdachtsfall an die Glaubenskongregation in Rom zu melden.

(aa) Voraussetzung für die Durchführung einer Voruntersuchung gem. can. 1717 CIC/1983 ist eine wenigstens wahrscheinliche Kenntnis des Ordinarius davon, dass eine Straftat begangen worden ist. Die „wenigstens wahrscheinliche Kenntnis“ setzt voraus, dass die Begehung zumindest als möglich erscheint und die Tat ihrem äußeren Anschein nach tatsächlich begangen worden sein könnte. Ob die lediglich anonyme Anzeige im Jahr 2010 eine wenigstens wahrscheinliche Kenntnis von einer Straftat begründete, ist fraglich, da sich der CIC von 1983 zu anonymen Anzeigen nicht verhält. Einen Anhaltspunkt kann lediglich § 2 des can. 1942 CIC/1917 bieten, der vorsah, dass anonyme Anzeigen, „wenn sie keine greifbaren Anhaltspunkte enthalten, welche die Beschuldigung wenigstens glaubhaft machen“, nicht beachtet werden sollten. Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die aktuelle Missbrauchsordnung, die unter 12. statuiert, dass anonyme Hinweise oder Gerüchte dann zu beachten sind, wenn sie tatsächliche Anhaltspunkte für Ermittlungen enthalten. All dies spricht für eine Nichtberücksichtigung der anonymen Anzeigen im vorliegenden Fall, insbesondere weil die Meldung im Jahr 2010 keinerlei Ausführungen zur konkreten Tatbegehung enthielt.

Diese Frage kann jedoch dahinstehen, da sich der Betroffene* im Jahr 2011 erneut meldete und seine Vorwürfe konkretisierte sowie seine Identität preisgab. Demnach war spätestens ab diesem Zeitpunkt von einer wenigstens wahrscheinlichen Kenntnis des Erzbischofs, der, wie der Aktennotiz des Leiters der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße zu entnehmen ist, über den Fall in Kenntnis gesetzt wurde, auszugehen.

Von der Durchführung einer Voruntersuchung konnte auch nicht ausnahmsweise abgesehen werden. Ein Absehen ist nur dann möglich, wenn die Einleitung der Voruntersuchung gänzlich überflüssig erscheint, can. 1717 § 1 CIC/1983 a. E. Dies ist etwa dann der Fall, wenn nicht zu erwarten steht, dass eine nähere Information erlangt und somit der Anfangsverdacht erhärtet werden kann. Es muss also möglich sein, dass die „Erkundigungen über den Tatbestand, die näheren Umstände und die strafrechtliche Zurechenbarkeit“ Erfolg haben können und nicht von Vornherein aussichtslos erscheinen.

Gemessen hieran war die Einleitung einer Voruntersuchung im Jahr 2011 nicht gänzlich überflüssig. Zwar äußerte der Betroffene*, dass es ihm aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen nicht möglich sei, für ein Gespräch zur weiteren Klärung des Sachverhaltes nach Köln zu reisen und stellte eine Telefonnummer nicht zur Verfügung. Jedoch gab er seine Postanschrift an und stand mit der Ansprechperson des Erzbistums in E-Mail-Kontakt, sodass eine grundsätzliche Erreichbarkeit gegeben war. Es erscheint nicht von Vornherein ausgeschlossen, dass er für ein klärendes Telefonat zur Verfügung gestanden hätte. Auch wäre ein Gespräch am Wohnort des Betroffenen* in Betracht gekommen.

Darüber hinaus wäre nach Auffassung der Gutachter eine Anhörung des Beschuldigten im Altersheim möglich gewesen. Die Befürchtung, der Beschuldigte könne wegen seiner Depressionen „in ein Tief fallen“ und der Hinweis des damaligen Weihbischofs Dr. Woelki, er könne sich nicht vorstellen, dass der Beschuldigte die vorgeworfenen Taten begangen habe, vermochten ein Absehen von weiteren Ermittlungen nicht zu rechtfertigen.

Unklar bleibt nach Durchführung der Anhörungen, in welcher Detailtiefe Herr Dr. Woelki über den Vorwurf in Kenntnis gesetzt wurde und ob er nur auf den allgemeinen Gesundheitszustand des Beschuldigten oder speziell auf die Fähigkeit, an einer Anhörung teilzunehmen, angesprochen wurde. Es ist nämlich eine Frage des Einzelfalls, ob eine Person, die einen Schlaganfall erlitten hat und an Depressionen leidet, noch in der Lage ist, sich an vergangene Geschehnisse zu erinnern und diese verständlich wiederzugeben oder dazu nicht mehr fähig ist. Nach dem Eindruck der Gutachter war das einmalige Telefonat zwischen Herrn Dr. Heße und Herrn Dr. Woelki nicht geeignet, diese Frage zu klären.

In seinem Antrag auf Leistungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexuellen Missbrauchs gab der Betroffene* außerdem an, dass sie „ein Mal fast erwischt“ worden seien, womöglich durch den Hausmeister, und wies auf besondere körperliche Merkmale bei dieser Person hin. Womöglich hätte diese Person ausfindig gemacht werden können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit aufgrund der langen Zeitspanne zwischen Meldung und vermeintlicher Tat gering gewesen sein dürfte.

Zu berücksichtigen war bei der Frage der Einleitung der Voruntersuchung außerdem, inwieweit die Vorwürfe aus damaliger Sicht plausibel erschienen. So mag es Anhaltspunkte für die Vermutung gegeben haben, dass die Meldung nicht der Wahrheit entsprechen könnte – insbesondere wegen der Weigerung des Betroffenen*, seine Telefonnummer zur Verfügung zu stellen oder persönlich für ein Gespräch nach Köln zu reisen. Führt man sich indes vor Augen, dass eine Anerkennungsleistung in Höhe von 15.000 € an den Betroffenen* ausgezahlt wurde, so dürften die Bedenken an der Plausibilität der Vorwürfe auf Seiten des Erzbistums nicht durchgreifend gewesen sein. Die Einschätzung des Weihbischofs Dr. Woelki, er könne sich nicht vorstellen, dass der Beschuldigte diese Tat begangen habe, durfte bei der Entscheidung jedenfalls nicht berücksichtigt werden.

Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass eine Voruntersuchung nicht gänzlich überflüssig erschien, man vielmehr dem Gesundheitsschutz des Beschuldigten den Vorrang einräumte. Dies konnte den Ordinarius, Erzbischof Dr. Meisner, jedoch nicht von seiner Pflicht zur Einleitung einer Voruntersuchung befreien. Seine Entscheidung, den Beschuldigten nicht anzuhören, war dementsprechend rechtswidrig.

Der Generalvikar sowie alle hierarchisch untergeordneten Beteiligten, sofern überhaupt involviert, mussten sich der Entscheidung fügen, sodass ihnen eine diesbezügliche Pflichtverletzung nicht anzulasten ist.

(bb) Ferner hat es Erzbischof Dr. Meisner versäumt, eine entsprechende Meldung an die Glaubenskongregation in Rom abzusetzen. Eine Meldepflicht besteht gem. Art. 16 SST 2010 dann, wenn der Ordinarius oder Hierarch eine mindestens wahrscheinliche Nachricht über eine schwerwiegendere Straftat erhält. Die beschriebenen Tathandlungen unterfallen den delicta graviora der Normae. Grundsätzlich ist vorgesehen, dass er die Meldung nach Durchführung der Voruntersuchung vornimmt. Von einer Meldepflicht ist über den Wortlaut der Vorschrift hinaus indes auch in jenen Fällen auszugehen, in denen die Voraussetzungen einer Voruntersuchung zwar vorliegen, diese jedoch rechtswidrig unterbleibt. So lag der Fall hier: Eine Meldepflicht nach Rom bestand trotz Nichtdurchführung einer Voruntersuchung. Die Voraussetzungen einer Voruntersuchung lagen nämlich vor und bei pflichtgemäßem Handeln wäre eine solche auch durchgeführt worden.

Die hypothetische Frage, ob die Glaubenskongregation in Rom den Erzbischof überhaupt angewiesen hätte, weitere Erkundigungen einzuholen oder ein Strafverfahren durchzuführen, ist für die Frage eines pflichtwidrigen Verhaltens bedeutungslos.

(cc) Ebenfalls pflichtwidrig unterblieben ist eine Meldung des Verdachtsfalles an die Staatsanwaltschaft. Eine diesbezügliche Pflicht war in Nr. 26 der damals gültigen Leitlinien 2010 festgeschrieben. Die Leitlinien sahen nicht vor, dass von der Anzeige wegen bereits eingetretener Verfolgungsverjährung abgesehen werden konnte. Die Pflicht zur Weiterleitung sollte vielmehr nur ausnahmsweise entfallen, wenn dies dem ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen* entsprach. Einen derartigen ausdrücklichen Wunsch der Nichtweiterleitung sprach der Betroffene* hier – gemäß Aktenlage – nicht aus. Eine Meldung war gemäß Nr. 26 der Leitlinien 2010 in Verbindung mit § 6 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Erzbistums Köln vom 01.04.2011 von dem Justitiar/der Justitiarin vorzunehmen, sobald tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen vorlagen. Allerdings geht aus der Akte nicht hervor, dass die Justitiarin Kenntnis von dem Verdachtsfall hatte.

(dd) Darüber hinaus ist keine weitere Pflichtverletzung erkennbar. Da sich der Beschuldigte bereits im Altersheim befand und keiner Tätigkeit mehr nachging, bestand eine Wiederholungsgefahr nicht und vorbeugende Maßnahmen waren entsprechend nicht zu treffen. Ferner gingen die Mitarbeiter des Erzbistums, namentlich die Ansprechperson für Fälle sexuellen Missbrauchs in Rücksprache mit dem Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal Dr. Heße auf den Betroffenen* zu, machten mehrfach Gesprächsangebote und schließlich wurde auch eine Anerkennungsleistung gezahlt, die in ihrer Höhe deutlich über dem damals üblichen Zahlbetrag lag. Der Pflicht zur Opferfürsorge wurde dementsprechend Genüge getan.

(ee) Weihbischof Dr. Woelki verletzte in Bezug auf die Fallbehandlung im Jahr 2011 keine Pflichten. Er hatte zu diesem Zeitpunkt keine Kenntnis von etwaigen Missbrauchstaten, die er mit Herrn Dr. Heße hätte teilen können und unklar blieb auch nach Durchführung der Anhörungen, in welcher Detailtiefe Herr Dr. Woelki durch Herrn Dr. Heße in dem Telefonat über die erhobenen Vorwürfe informiert wurde. Während in den Akten vermerkt ist, Weihbischof Dr. Woelki habe die Sorge geäußert, der Beschuldigte könne bei einer Konfrontation mit den Vorwürfen „in ein Tief“ fallen, gab Herr Dr. Woelki in seiner Anhörung an, auch auf Nachfrage nicht von Herrn Dr. Heße mitgeteilt bekommen zu haben, um welche konkreten Vorwürfe es sich handele. Der Wortlaut des Aktenvermerks suggeriert eine genaue Kenntnis von den Vorwürfen, wohingegen eine solche nach seiner eigenen Aussage gar nicht gegeben war. Seiner Erinnerung nach ging es vor allem um eine allgemeine Einschätzung der Situation und des Gesundheitszustands des Beschuldigten. Dieser Bitte nach Information kam Herr Dr. Woelki nach, war in der Folge jedoch nicht in weitere Bearbeitungsschritte miteinbezogen. Vielmehr wurde er nur etwa vier Wochen später zum Erzbischof von Berlin ernannt und verließ angesichts dessen das Erzbistum Köln. Weitere Handlungspflichten trafen ihn als Weihbischof nicht.

(b) Erneute Meldung

Nach Auffassung der Gutachter ist keine Pflichtverletzung im Rahmen der erneuten Fallbehandlung im Jahr 2015 zu erkennen. Erzbischof Dr. Woelki ließ sich nach Amtsantritt eigeninitiativ eine Liste derjenigen Priester vorlegen, denen Missbrauch vorgeworfen worden war bzw. wurde. Auch wenn er zunächst nur Einblick in die Personalakte des Beschuldigten erhielt, so wurde er schließlich doch über die konkreten Vorwürfe informiert. Diese Vorwürfe waren grundsätzlich geeignet, eine Pflicht zur Einleitung einer kanonischen Voruntersuchung nach can. 1717 CIC/1983 oder zumindest sonstige (informelle) Aufklärungsbemühungen auszulösen.

Die Pflicht entfällt jedoch dann, wenn die Durchführung der Voruntersuchung gänzlich überflüssig erscheint. Dies ist etwa dann der Fall, wenn es voraussichtlich unmöglich ist, ein sich der Voruntersuchung womöglich anschließendes Strafverfahren durchzuführen. Die Unmöglichkeit der Durchführung eines Strafverfahrens kann sich wiederum aus der „Verhandlungsunfähigkeit“ des Beschuldigten ergeben. Zu dem Zeitpunkt, als Erzbischof Dr. Woelki die Giftakte des Beschuldigten vorgelegt wurde, war dieser aufgrund eines zweiten Schlaganfalles bereits ein „Schwerstpflegefall“; er sei, so die Auskunft von Herrn Dr. Woelki, bettlägerig und nicht mehr in der Lage zu sprechen gewesen und habe „nur noch mit offenem Mund an die Decke gestarrt“. Ein Gespräch sei mit ihm nicht mehr möglich gewesen; er habe ihn in der Regel bei den Besuchen nicht einmal mehr erkannt.

Es stand somit im Jahr 2015 nicht zu erwarten, dass gegen den Beschuldigten aufgrund seines Gesundheitszustandes ein Strafverfahren noch hätte durchgeführt und gegebenenfalls eine Strafe gegen ihn hätte verhängt werden können. Insbesondere war eine Anhörung des Beschuldigten, die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich gewesen wäre, nicht mehr möglich. Die Einleitung einer Voruntersuchung durfte dementsprechend gänzlich überflüssig erscheinen. Erzbischof Dr. Woelki verletzte damit seine Aufklärungspflicht nicht. Die voraussichtliche Unmöglichkeit eines Strafverfahrens ließ auch die Pflicht zur Meldung nach Rom entfallen. Zwar hat die Glaubenskongregation im Vademecum vom 16.07.2020 deutlich gemacht, dass auch bei unterlassener Voruntersuchung eine Meldung mit Hinweis auf den Entfall der Voruntersuchung empfohlen ist (Vad. Nr. 19). Allerdings war diese Ansicht im Jahr 2015 unbekannt und entsprach auch nicht der gängigen Praxis. Daher ist es nicht als Pflichtverletzung zu qualifizieren, wenn dieser Vorgabe vor dem 16.07.2020 nicht entsprochen wurde. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass das Vademecum lediglich empfehlenden Charakter hat, und zum anderen daraus, dass das Verbot der Rückwirkung zu beachten ist.

(4) Zwischenfazit zu Aktenvorgang 5

Im Aktenvorgang 5 stellten die Gutachter zwei Pflichtverletzungen durch Erzbischof Dr. Meisner fest. Hierbei handelt es sich um einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht und einen Verstoß gegen die Meldepflicht.

Anmerkung der Redaktion:

Der Betroffene ist hier – wie auch in einigen weiteren von den Gutachtern geschilderten Fällen – nicht namentlich genannt und mit einem Stern gekennzeichnet. Im Gutachten heißt es dazu in einer Vorbemerkung: „In vielen Fällen konnten erhobene Missbrauchsvorwürfe nicht vollständig aufgeklärt bzw. durch Ermittlungen verbindlich bestätigt werden, etwa weil die zur Last gelegte Tat bestritten wurde. Bei der Darstellung dieser Fälle ist die aus Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention resultierende und als eine der Grundprinzipien eines rechtsstaatlichen Verfahrens geltende Unschuldsvermutung zu beachten, die eine Verdeutlichung dahingehend erfordert, dass ein nicht erwiesener Verdacht beschrieben wird. Die Gutachter haben in diesen Fällen die Bezeichnung »Betroffener« mit einem Sternchenhinweis* gekennzeichnet.“

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