„Star Dust“ in der Kölner PhilharmonieKann wirklich jeder Tänzer David Bowie sein?

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Szene aus „Star Dust“ 

Köln – Einem weit verbreiteten Irrglauben zufolge handelte es sich bei David Bowie um ein „Pop-Chamäleon“. Als hätte der Star seine Farben jemals den wechselnden Moden, Orten, Systeme angepasst, anstatt diese, seiner Zeit oft weit vorausgreifend, zu prägen. Die Idee, die Dwight Rhodens Tanzstück  „Star Dust“ zugrunde liegt, dass nämlich jede und jeder von uns David Bowie sein könnte, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen ebenfalls als Illusion. Aber immerhin als eine sehr schöne und hilfreiche Illusion.

Das von Rhoden zusammen mit Desmond Richardson gegründete Complexions Contemporary Ballett gastiert derzeit im Rahmen des Kölner Sommerfestivals in der Philharmonie.

Mit jedem neuen Bowie-Song übernimmt ein anderer Tänzer (die Tänzerinnen bleiben hier leider zumeist im Hintergrund)  die Rolle des schmerzlich vermissten Rockstars, lippensynchron zur Original-Gesangspur posierend. Je weiter sich die Performer dabei von der allzu bekannten Vorlage entfernen, desto besser funktioniert das. Etwa, wenn der australische Solotänzer Thomas Dilley zum elegischen „Life On Mars?“ – Bowies LSD-getränkte Antwort auf Frank Sinatras „My Way“ – die Muskeln spielen und sporteln lässt, im krassen Gegensatz zum weiß geschminkten Dandy-Schlacks aus dem bekannten Mick-Rock-Video.

Lip-Sync-Battles wie im TikTok-Video

Die Lippensynchronisation mag im ersten Augenblick etwas irritieren, erinnert sie doch wahlweise an Drag-Shows, TikTok-Videos oder Vollplayback-Auftritte im ZDF-Fernsehgarten. In der Ballettwelt ist sie jedenfalls ein großes Tabu. Das Rhoden absichtsvoll überschreitet: Der Geist Bowies kann hier in jeden Körper fahren. „Star Dust“ ist vor allem eine Eucharistiefeier. Ziggy Stardust lebt in jedem von uns weiter. Nach dem dräuenden Intro „Warszawa“ vom „Low“-Album beschwört „Lazarus“, Bowies letzte Single zu Lebzeiten, die Auferstehung von den Toten.

Und die 16 Tänzer der New Yorker Company lassen sie ganz einfach aussehen: Große Gesten vor leicht zu erfassenden Ensemble-Figuren, weit ausgreifendes Stolzieren auf hohen Plateauschuhen und Kostüme, die wirken, als hätte der Sänger seine Glamrock-Phase der frühen 1970er ein paar Jahre später im Studio 54 wieder aufleben lassen. Immer wieder formiert sich das Ensemble zu eindrücklichen Tableaus, immer wieder umarmen sich die Tänzer Trost suchend oder lassen ihre Köpfe auf der Schulter eines Gegenübers ruhen.

Fehlende Bodenhaftung

Dass sich die Choreografie mit jedem Song grundlegend verändert, wunderbar dynamisch etwa bei „1984“, dass einige der männlichen Bowie-Inkarnationen en pointe über die Bühne schweben (vor allem natürlich zu „Space Oddity“, der Ballade von der fehlenden Bodenhaftung), all das übersieht man fast im Rausch der kommunalen Feier. Ein schönes, erhebendes Gefühl, nur David Bowies essenzielle Künstlichkeit geht dadurch leider verloren. Weshalb man sich unter anderem auch für Peter Gabriels das Pathos nicht scheuende Streicher-Version von „Heroes“ entschieden hatte und nicht für das viel kältere Original aus der Mauerstadt.

Wem der Sinn weniger nach All-inclusive-Glam-Party und viel mehr nach großer Kunstfertigkeit stand, der war bereits im ersten Teil des  Abends bestens bedient worden: „Bach 25“ hat Dwight Rhoden zum 25-jährigen Jubiläum seiner Complexions vor vier Jahren choreografiert, ein Nummernballett zu Stücken von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach. 

Viel Platz für Muskelschau

Wo „Star Dust“ kirmesbunt funkelte, herrscht nun edel bedeckte  Klassik, die Kostüme sind silbern, haut- und bronzefarben  und lassen viel Platz für Muskelschau, man könnte beinahe an lebende Skulpturen aus der Zirkusarena denken. Aber nur eine Sekunde lang, denn dann geht es schon Allegro assai, also sehr hurtig, mit dem Cellokonzert A-Dur des berühmtesten Bach-Sohnes los.

So athletisch, so rasant hat man die beiden Bachs noch nicht erlebt, angewandte Mathematik, Note für Note übersetzt in Muskelbewegungen. Gruppenbilder fluktuieren wie Elektronen im Quantenfeld.   Kontrapunkt-Melodien werden zu dynamischen Duetten mit gleichberechtigten Partnern. Der Barock, Verzeihung, rockt. 

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Dies allerdings in nahezu übermenschlich wirkender Präzision, die umso mehr erstaunt, als dass die sehr unterschiedlichen Körper und Persönlichkeiten des Ensembles weiterhin klar durchstrahlen.

Hier zucken Schenkel parallel im Sekundentakt, dort vibriert Johann Sebastian Bachs Cello-Suite Nr. 2 als führte man den Bogen direkt über die Sehnen der Tanzenden. Ein Kraftakt, der freilich nicht von Kraft, sondern von Können erzählt. Mag sein, dass auch in dir und mir ein Popstar steckt – die Tänzerinnen und Tänzer vom Complexions Contemporary Ballet bleiben Ausnahmeerscheinungen. 

„Star Dust“ gastiert noch bis zum 24. Juli in der Kölner Philharmonie 

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