Haltloses Szenario vor NRW-WahlWahlkampf mit Phantomjagd

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Verschwörungstheorien, das wissen wir seit der Pandemie besser als zuvor, sagen immer etwas über ihre Urheber und Verbreiter aus. Es geht dabei um Angst vor übermächtigen Gegnern, deren dunkle Absichten man nicht so recht durchschaut. Es gibt diese Theorien in riesengroß. Dann spielen Bill Gates, Chemtrails oder Reptiloide eine Rolle. Und es gibt sie in klein. Dann geht es um die Landespolitik, um eine Arbeitsgruppe von Chefredakteuren und den „NRW-Check“ der Tageszeitungen in Nordrhein-Westfalen. Außerdem geht es um das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und den Landtagswahlkampf.

Der hat begonnen und nimmt drei Monate vor der Abstimmung ordentlich Fahrt auf. Zeitungsleser für Landespolitik zu interessieren, ist für jeden Journalisten eine Herausforderung. Normalerweise dominiert in Düsseldorf das zähe Klein-Klein politischer Scharmützel mit ideologischem Unterton; es geht um Untersuchungsausschüsse, deren Sinn und Ursache längst im Nebel der Erinnerung versunken sind – vermutlich zu Recht.

Wie lässt sich da ein Funken schlagen? Die Tageszeitungen in Baden-Württemberg machten es vor. Dort bündelten Anfang 2021 einige Redaktionen ihre landespolitische Kompetenz, riefen gemeinsam vor den Landtagswahlen eine Umfrage mit mehreren Wellen zu unterschiedlichen Themen ins Leben. Die Meinungsforscher von Allensbach sind im Lande ansässig und lieferten Informationen und Zahlen. Der Erfolg war durchschlagend, denn die beteiligten Titel nutzten die Daten, um ihre Berichterstattung zu verbessen, jeder Titel so wie es die Region und die Interessen der Leserschaft erforderten. Prinzip und Ziel von Zeitungen ist Information und Meinungsvielfalt. Die Landespolitik beschäftigte sich intensiv und auf allen Ebenen mit den Fragen der Journalisten und der Leser.

Alles zum Thema Hendrik Wüst

Nordrhein-Westfalen steht ebenfalls vor einer Landtagswahl. Naheliegend war daher der Gedanke, es den erfolgreichen Kollegen im Süden nachzumachen. Es gab ein paar Vorgespräche im Kollegenkreis. Der Verlegerverband unterstützte dabei und machte das Projekt der Baden-Württemberger auch in NRW bekannt. Ende Juni dann erste Diskussion einiger interessierter Chefredakteure. Die befanden die Idee für grundsätzlich gut, signalisierten ihre Bereitschaft, gemeinsam ein Meinungsforschungsinstitut zu beauftragen und sich an den Kosten zu beteiligen. Außerdem einigte man sich grob auf einen ersten Anforderungskatalog. Eine Agentur mit einschlägiger Erfahrung bekam den Auftrag, sich auf die Suche nach einem profilierten Meinungsforschungsinstitut zu machen. Denn auch das war Konsens: Einfache Online-Umfragen, wie sie derzeit vielfach genutzt werden, kommen für diese komplexen Fragen nicht in Betracht. Das Vorhaben ist anspruchsvoll. Repräsentativität und methodische Transparenz sind wichtig.

Neun Institute in der Diskussion

Vier Institute sagten aus verschiedenen Gründen ab. Es blieben nur zwei übrig. Das sei zu wenig, befand die zehnköpfige Steuerungsgruppe der Chefredakteure. So kamen drei weitere Unternehmen ins Gespräch. Denen aber fehlte die wesentliche Voraussetzung für das Projekt, nämlich auch etwas über die Regionen in NRW sagen zu können. Es fehlte auch an Erfahrung in politischen Themen. Insgesamt neun Institute standen letztlich zur Diskussion. Auf dieser Basis ging Anfang August eine Ausschreibung an Allensbach und Forsa, das Manfred Güllner leitet. Am 24. August fiel die Entscheidung für Forsa. Die Methodik, breite Aufstellung, die Möglichkeit der Regionalisierung und langjährige Erfahrung in der Politik passten perfekt zusammen.

Die Arbeitsgruppe sprach weitere Chefredakteure an, sich an dem Projekt zu beteiligen. Je mehr mitmachten, desto besser für alle Tageszeitungen im Lande. Am 9. September tagte der Verlegerverband in Minden, wo eine der beteiligten Chefredaktionen das Projekt den anwesenden Kollegen und den Verlegern vorstellte, die bisher nur zu einem Teil im Boot waren. Weitere Redaktionen schlossen sich daraufhin an. Am Ende machten 39 der 40 in Nordrhein-Westfalen vertretenen Tageszeitungen mit. Ein schöner Erfolg und eine gute Voraussetzung, etwas für die Meinungsvielfalt im Land zu tun, denn bisher gab es regelmäßige landesweite Umfragen nur vom WDR und den Forschern von Infratest dimap.

Der NRW-Check

Der „NRW-Check“ ist eine gemeinsame Aktion der nordrhein-westfälischen Tageszeitungen vor der Landtagswahl am 15. Mai. In vier Wellen führt das Meinungsforschungsinstitut Forsa repräsentative Befragungen unter den Wahlberechtigten durch. Neben den Fragen nach der Wahlabsicht („Sonntags-Frage“) und nach der Präferenz für die Spitzenkandidaten zur Landtagswahl geht es auch um wesentliche politische und gesellschaftliche Themen. Nach der ersten Welle im Dezember werden die Ergebnisse der zweiten Welle in der kommenden Woche veröffentlicht, auch im „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Helge Matthiesen, der Autor dieses Beitrags, ist Chefredakteur des „General-Anzeiger Bonn“ und Teil der zehnköpfigen Steuerungsgruppe des „NRW-Check“. (jf)

Im „Spiegel“ las sich diese Geschichte später anders. Dort baute sich das Szenario einer von langer Hand geplanten Kungelei auf. Die Dunkelmänner dieser Verschwörung sind die Verleger, die diese Umfrage angeblich ins Leben riefen, um dem CDU-Kandidaten Hendrik Wüst eine bessere Startposition gegenüber dem SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty zu verschaffen. Umfragen spielen in Wahlkämpfen nun mal eine wichtige Rolle. Einige Fakten könnten für die Annahme des „Spiegel“ sprechen: Hendrik Wüst war bis vor vier Jahren Geschäftsführer des NRW-Verlegerverbands. Naheliegend daher die Frage, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte. Hinzu kommt: Forsa arbeitet auch für die CDU und für Wüst. Das passte ganz gut zusammen, und es ist legitim und richtig, Fragen nach diesen Zusammenhängen zu stellen.

Nun muss jedoch schon der zeitliche Ablauf der Vorgeschichte jeden investigativen Journalisten misstrauisch machen. Wüst war im Sommer 2021, als die Entscheidungen für die Umfrage fielen, ein Aspirant auf den Ministerpräsidentensessel unter mehreren. Als die Umfrage unter dem Namen „NRW-Check“ von den Chefredakteuren beschlossen wurde, war es Ende Juli. Schlicht falsch ist die Darstellung, die Verlegerversammlung in Minden habe den Beschluss gefasst. Der „Spiegel“ kannte diesen Zusammenhang auch. Wäre es denn eine Aktion zugunsten der CDU und des Kandidaten Wüst gewesen, hätte es einer ziemlich ausgeprägten prophetischen Gabe der Beteiligten bedurft.

Zehnköpfige Steuerungsgruppe

Die meisten Verschwörungen leiden unter der Tatsache, dass die Gefahr der Entdeckung mit der Zahl der Beteiligten wächst. Hier waren im Kern zehn Chefredakteure oder Mitglieder der Chefredaktionen zum Teil sehr großer Zeitungen beteiligt. Von ihnen anzunehmen, sie ließen sich von dunklen Mächten – und seien es Verleger – einfach für eine Partei und deren Interessen instrumentalisieren, ist kühn. Es sind sogar Blätter beteiligt, deren Mehrheitseigentümerin eine Medienholding im Besitz der SPD ist. Die Redaktionen arbeiten unabhängig und spiegeln das normale Meinungsbild in der Gesellschaft wider. Journalisten sind außerdem kritisch im Umgang mit allen Fakten, die man ihnen anbietet. Kaum wahrscheinlich, dass sie so einfach zu manipulieren wären. 39 Chefredakteure als nützliche Idioten oder willige Vollstrecker? Das sind eindeutig ein paar zu viele, als dass diese These stimmen könnte.

Institute liefern Informationen

Bleiben Forsa und Manfred Güllner: Der arbeitet wie alle Meinungsforscher für alle möglichen Auftraggeber – aus der Wirtschaft, aus Behörden oder auch aus den Parteien. Güllner zum Beispiel für die SPD in Niedersachsen, für die FDP-Bundestagsfraktion, am Ende auch für die CDU in Nordrhein-Westfalen und Hendrik Wüst. Das mag man unglücklich finden, schmälert aber nicht per se Forsas Umfragearbeit.

Auftraggeber wünschen sich Informationen, die Institute liefern sie auf der Grundlage nachvollziehbarer sozialwissenschaftlicher Methoden, die als statistisch abgesichert gelten. Die Aufträge laufen getrennt voneinander. Es gibt in den Ergebnissen Fehlertoleranzen und Unschärfen, die in der Natur der Sache liegen. Die aber sind transparent und werden kommuniziert. Güllner streitet sich derzeit juristisch mit der NRW-SPD um den Einsatz von Umfragedaten eines Berliner Start-ups im Wahlkampf, die über das Internet erhoben werden. Er hält diese Daten für nicht seriös und schädlich für das gesamte Metier der Meinungs- und Marktforschung.

Der „Spiegel“ verschickte ab Anfang Januar umfangreiche Fragenkataloge an viele Menschen, die Informationen zu der vermeintlichen Wahlkampf-Verschwörung liefern sollten. Die Fragen folgten weiteren Spuren ins Nichts: Die Brost-Stiftung geriet ins Visier, die Bonner Akademie für praktische Politik (BAPP). Ein Zusammenhang scheint nur erfindlich, wenn man der Logik der Verschwörungstheoretiker folgte, die meinten, weitere personelle Querverbindungen gegen die SPD im Lande aufklären zu müssen.

Es ist Wahlkampf, und daher fällt auf, dass diese Fragenkataloge beinahe ausschließlich in Richtung NRW-SPD weisen, die offenbar mit ihrer aktuellen Situation und den Niederlagen in zurückliegenden Wahlen hadert. Irgendjemand hat Angst vor einer Verschwörung. Aktuell treibt die Auseinandersetzung mit dem neuen CDU-Spitzenkandidaten diese Sorge an, der in der Umfrage des „NRW-Check“ kurz vor Weihnachten gar nicht so schlecht abschnitt – ein Befund, den inzwischen auch der WDR und das für den Sender tätige Institut Infratest dimap bestätigt haben. Da gibt es mit den Tageszeitungen und dem „NRW-Check“ plötzlich noch eine hörbare landesweite Stimme neben dem WDR.

Am Ende dieser Episode bleibt Ernüchterung: Auf sehr, sehr dünner Faktenlage macht eine renommierte Redaktion ein paar Thesen zu einer Geschichte, die mehr über ängstliche Vermutungen als über die Wirklichkeit sagt. Es macht nachdenklich, wenn der „Spiegel“ diese Botschaften transportiert, der es doch mit den Fakten angeblich sehr genau nimmt. Aber manchmal ist die Wirklichkeit eben nicht so interessant wie die Vorstellungen, die man sich davon macht. Solche Geschichten gehören zum Wahlkampf dazu, in dem es nicht immer fair und freundlich zugeht. Wenn es so weitergeht mit solchen Attacken, darf das Land einen heißen Frühling erwarten.

Die Redaktionen der Tageszeitungen wollen Leben in die landespolitischen Diskussionen bringen. Das scheint gelungen. Die nächste Umfrage des „NRW-Check“ erscheint in wenigen Tagen.

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