Karl Lauterbach im Interview„Wir müssen auf eine Killer-Variante vorbereitet sein“

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Karl Lauterbach

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Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) spricht im Interview (das Sie hier auch als Podcast hören können) über seine Corona-Prognose für den Herbst,  sein Festhalten an der Quarantäne-Pflicht und die vierte Impfung. Herr Lauterbach, Sie waren gerade eine knappe Woche in den USA, um sich mit Corona-Experten zu beraten, darunter Anthony Fauci, Pandemieberater von Präsident Joe Biden. Was haben Sie dort gelernt, was für die Bekämpfung der Pandemie in Deutschland wichtig ist?

Karl Lauterbach: Beeindruckt hat mich besonders, wie die Amerikaner Medikamente einsetzen für infizierte Menschen mit Risikofaktoren, sei es Übergewicht, Alter, chronische Krankheit oder Armut. Rund 40.000 Patienten pro Tag erhalten dort das Medikament Paxlovid. Das ist eine enorm hohe Zahl. Sie verbrauchen pro Tag mehr von dem Medikament, als wir in Deutschland in den vergangenen Monaten insgesamt eingesetzt haben. Damit senken sie die Sterblichkeit enorm trotz einer deutlichen höheren Zahl von Infizierten im Vergleich zu Deutschland. Sie geben die Medikamente dort sehr schnell und unbürokratisch ab, nicht nur in Apotheken. Das rettet sehr viele Menschenleben. Ich habe auch den Impfstoff-Hersteller Moderna besucht, um mir ein Bild darüber zu machen, welche neuen Impfstoffe im Herbst verfügbar sein werden.

Wie erleichtert ist Anthony Fauci darüber, dass er jetzt Joe Biden berät und nicht mehr Donald Trump?

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Diese Erleichterung merkt man nicht nur Fauci an, sondern sämtlichen wissenschaftlichen Kollegen in Amerika. Alle sind froh, dass sie im Weißen Haus deutlich mehr Einfluss haben. Die wissenschaftsfeindliche Ära unter Trump ist zu Ende. Amerika ist in den Bereichen Medizin und Forschung weltweit führend, konnte diese starken PS unter Trump aber nicht auf die Straße bringen. Das gelingt jetzt viel besser.

Die Inzidenz in Köln liegt aktuell bei 470 – die eigentliche Zahl der Infizierten dürfte deutlich höher liegen. Es gibt die Hoffnung, dass die Corona-Welle im Herbst kleiner ausfällt, weil sich im Sommer bereits so viele infiziert haben. Sie aber warnen vor einer schweren Welle im Herbst. Warum so pessimistisch?

Ich bin gedämpft pessimistisch. Es gibt zwei ganz neue Studien aus Dänemark und Portugal zur Gefährlichkeit der BA.5-Variante im Vergleich zur BA.2-Variante. Ein Ergebnis: Wer sich mit BA 2 infiziert, kann sich sehr leicht wieder mit BA.5 infizieren. Auch die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus behandelt werden zu müssen, ist bei der BA.5-Variante höher. Darum sehen wir in Deutschland trotz eines leichten Rückgangs der Inzidenzen einen Anstieg bei den Hospitalisierungen, auch auf den Intensivstationen. Und es sterben wieder mehr Menschen. Darum glaube ich, dass wir im Herbst große Probleme haben werden. Zumal wir dann, trotz höheren Bedarfs, weniger Personal auf den Intensivstationen haben werden, weil so viele infiziert sind.

Sie empfehlen auch Menschen unter 60 Jahren eine vierte Impfung - Stiko-Chef Thomas Mertens hat Ihnen da jüngst deutlich widersprochen. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Einschätzungen, die zur Verunsicherung führen?

Ich habe nicht die vierte Impfung für alle empfohlen. Das wäre falsch und gäbe die Datenlage auch nicht her. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass eine Impfung natürlich auch für Menschen unter 60 möglich ist, die sich gerne impfen lassen möchten. Zum Beispiel, weil sie ein hohes Infektionsrisiko haben, weil sie beruflich viel in Kontakt mit Menschen sind. In Absprache mit dem Hausarzt muss das möglich sein. Das heißt aber nicht, dass ich die vierte Impfung für alle Menschen unter 60 empfehle. Umgekehrt sagt Herr Mertens auch nicht, dass sich niemand unter 60 Jahren impfen lassen darf.

Die Differenz zwischen Ihnen ist also nicht so groß?

Genau. Trotzdem ist das Ganze für mich ein Anlass gewesen, die Stiko zusammen mit Herrn Mertens etwas umzustrukturieren. Denn die Stiko ist für viele ein bisschen eine Black Box, die Beratungen in der Stiko sind nach außen oft nicht transparent. Das ist nicht gut, darum haben wir das jetzt verändert. Mit der Paiko, der Pandemie-Impfkommission, haben wir eine neue Arbeitsgruppe innerhalb der Stiko eingerichtet mit zusätzlichen, externen Beratern. Die Beratungen der Paiko werde ich mir künftig auch selbst anhören, weil ich mich immer gerne wissenschaftlich beraten lasse. Darum habe ich ja auch den Corona-Expertenrat gegründet oder die Krankenhaus-Kommission.

Definitiv über Kreuz sind Sie mit Kassenärzte-Chef Andreas Gassen, der den Wegfall der Quarantänepflicht bei Infizierten fordert. In anderen Ländern wie Griechenland oder Spanien gibt es diese Pflicht nicht mehr. Warum sind Sie absolut dagegen?

Das liefe auf eine Durchseuchung hinaus. Herr Gassen hat davon gesprochen, dass die Omikron-Variante ein Friedensangebot des Corona-Virus sei, nach dem Motto: Jetzt gilt es zuzugreifen, infizieren wir uns doch alle schnell. Das wäre fatal und ist wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt auch keine renommierten Wissenschaftler, die diese These unterstützen. Menschen, die dieses Angebot annehmen, könnten es mit dem Tod bezahlen. Die Sterblichkeit ist bei BA.5 höher als bei BA.2, viele Menschen mit Risikofaktoren würden schwer erkranken oder versterben. Und selbst wenn man die Infektion übersteht, hätte man nichts davon, weil einen die nächste Variante erneut infizieren könnte. Wir wissen, dass das Long- Covid-Risiko zunimmt, wenn man sich mehrfach infiziert, weil das Lungengewebe erneut beschädigt wird. Darum müssen wir das Problem anders lösen: Nicht durch ständige Infektionen, sondern durch bessere Impfstoffe.

Die Annahme der Herden-Immunität hat sich als falsch erwiesen?

Ja. Diese ursprüngliche Idee, die es gab, als man noch nicht so viel über das Virus wusste, dass man sich einmal infiziert und danach für immer immun ist, hat sich leider nicht bestätigt. Eben weil man sich durch die neuen Varianten immer wieder infizieren kann. Die Pandemie ist nach einer Infektion nicht vorbei, sie geht weiter.

Im September läuft die Rechtsgrundlage für die Corona-Schutz-Maßnahmen aus. Sie wollen den Ländern möglichst viele Mittel an die Hand geben, um im Herbst bei drohender Überlastung von Krankenhäusern handeln zu können. Sie verhandeln gerade mit Justizminister Marco Buschmann darüber, was überhaupt rechtlich möglich ist. Was wollen Sie durchsetzen?

Die Gespräche mit Marco Buschmann laufen sehr gut, ich rechne damit, dass wir sehr bald Ergebnisse vorstellen können. Bis dahin bitte ich noch um Geduld.

Derzeit gibt es trotz hoher Corona-Zahlen kaum Schutzmaßnahmen. Viele führen diese Situation auf den kleinsten Koalitionspartner FDP zurück, der sich politisch durchgesetzt hat bei den Lockerungen der Maßnahmen.

Das sehe ich anders. Die FDP hat sich nicht durchgesetzt, die Länder könnten rechtlich viel mehr durchsetzen in Städten, in denen die Infektionszahlen sehr hoch sind. Auch in Köln etwa. Das ist nie gemacht worden. Die Regeln, die wir derzeit haben, reichen aber nicht aus für den Herbst. Darum werde ich jetzt wesentlich weitreichendere Maßnahmen vorschlagen, damit wir im Herbst und im Winter deutlich besser vorbereitet sind. Gleichzeitig arbeite ich daran, vulnerable Gruppen besser zu schützen, in den Pflegeeinrichtungen etwa. Und ich rate allen Älteren unbedingt zur vierten Impfung.

Die Maskenpflicht wird selbst da, wo sie überhaupt noch vorgesehen ist, kaum eingehalten. Die Akzeptanz sinkt offenkundig. Muss stärker kontrolliert werden, wenn im Herbst verstärkte Schutzmaßnahmen erforderlich werden?

Es wird definitiv zu deutlich verschärften Schutzmaßnahmen kommen im Herbst. Die müssen dann natürlich auch kontrolliert werden. Es kommt auf die Kommunen an, wie gut sie die Regeln umsetzen.

In Deutschland schmeißen wir viel Impfstoff weg, in vielen anderen Ländern der Welt gibt es immer noch viel zu wenig Impfstoff. Das bietet dem Virus Möglichkeiten, immer neue Varianten auszubilden, die dann n nach Deutschland zurückkehren. Wo stehen wir bei der gerechteren Verteilung von Impfstoff?

Wir bieten unseren Impfstoff den ärmeren Ländern gratis an, stoßen aber auf geringes Interesse. Viele dieser Länder haben andere Gesundheitsprioritäten, konzentrieren sich auf Malaria, Aids oder Tuberkulose. Ein Grund dafür ist, dass das Durchschnittsalter in den ärmeren Ländern deutlich niedriger ist. Da werden die Corona-Risiken ganz anders bewertet.

Christian Drosten hat seine Prognose, die Pandemie könnte Ende dieses Jahres vorbei sein, vor einigen Wochen korrigiert. Er geht davon aus, die Pandemie könnte noch einige Winter dauern. Was sagen Sie?

Ich stimme Christian Drosten zu. Viele Virologen sind davon ausgegangen, dass wir Ende des Jahres in die Endemie kommen. Das hätte bedeutet, dass es zwar immer wieder kleine lokale Wellen gibt, wir aber im Großen und Ganzen so leben können wie 2019. Und da sind wir nicht. Wenn wir alles öffnen und wieder so leben würden wie 2019, hätten wir unverhältnismäßig hohe Sterbezahlen und eine Überlastung der kritischen Infrastruktur. Man kann den Wasserhahn also nicht komplett zudrehen und sagen: Hier ist Ende. Es muss noch einiges passieren – und da setze ich vor allem auf deutlich verbesserte Impfstoffe. Die jetzigen Impfstoffe sind in ihrer Struktur Anfang 2020 entwickelt worden, sind also zwei Jahre alt. Nun brauchen wir neue.

Mit Ihrer Wortwahl in der Pandemie – beispielsweise „Killervirus“ und „katastrophaler Herbst“– sind nicht alle einverstanden. Geht es nicht etwas weniger apokalyptisch?

Ich verwende wenige Vokabeln, die apokalyptisch sind. Aber manchmal muss man die Dinge beim Namen nennen. Wenn es ein Virus gäbe, das die Ansteckung der BA.5-Variante mit dem schweren Verlauf einer Delta-Variante verbinden würde, und das ist leider vorstellbar, dann wäre das eine Killer-Variante. Ich habe damals nicht gesagt, dass eine solche Variante definitiv kommt, sondern, dass wir auf eine solche Variante vorbereitet sein müssen. Und genau daran wird hier in meinem Haus gearbeitet.

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