Sexueller MissbrauchHinweise auf 175 Opfer im Bistum Aachen

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Bistum Aachen

Der Aachener Dom. (Symbolbild)

Aachen/Köln – Das Gutachten steckt in einem signalroten Einband und ist dicker als ein Ziegelstein. Der Inhalt wiegt noch schwerer. Aachens Bischof Helmut Dieser und sein Generalvikar Andreas Frick brauchen beide Hände, um den Band vom Tisch zu nehmen und vor sich zu halten. In der Arbeit der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl geht es um die Frage, wie die Bistumsleitung zwischen 1965 und 2019 mit Fällen sexuellen Missbrauchs umgegangen ist. 468 Seiten, die die Fundamente eines Kirchenverständnisses erschüttern, das bis heute das Denken, Fühlen und Handeln von Verantwortlichen prägt: Kirche als ein männerbündlerisches System, das zuerst an den Schutz der Täter und der Institution Kirche dachte.

Die Täter, die in einigen Fällen sogar im Gefängnis gesessen hatten, konnten bei ihren Oberen, so formulieren es die Gutachter, „mit unverdienter Milde rechnen“. Bischöfe, Generalvikare, Personalchefs fühlten sich ihnen verbunden. Ihnen galt die bischöfliche Fürsorge. Die Opfer dagegen wurden „in der Vorstellungswelt der kirchlichen Verantwortungsträger bis 2003 kaum jemals wahrgenommen“. In ihrer mehr als einjährigen Arbeit stießen die Anwälte auf ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit“ bei der Verfolgung und Sanktionierung der Täter. In den meisten Fällen passierte ihnen gar nichts. Die Staatsanwaltschaft wurde – bis zu einer Neufassung der entsprechenden Richtlinien 2010 – praktisch nie eingeschaltet, und wenn, dann waren den Behörden die Vorwürfe meistens schon bekannt, etwa durch Strafanzeigen der Opfer.

Ignoranz und Empathielosigkeit zieht sich durch die Akten

Eine Spur von Ignoranz und Empathielosigkeit zieht sich durch die Akten. Aus den Fällen von insgesamt 81 Tätern und Verdächtigen haben die Juristen 14 Fälle ausgewählt, die sie für besonders schwerwiegend und bezeichnend halten. Bei der Vorstellung des Gutachtens legt Mitautor Ulrich Wastl die Kriterien dar: Es sollten Fälle sein, in denen führende Würdenträger als „Personen der Zeitgeschichte“ identifizierbar und benennbar sind. Opfer sollten in den Fallbeispielen nicht erkennbar sein. Umso mehr sollte die Schwere der Tat oder der „Verantwortungslast“ aufseiten der Bistumsleitung deutlich werden. Und es sollte ein geschlossenes Bild für die untersuchte Zeitspanne von mehr als 50 Jahren entstehen. Was die Anwälte herausgefunden haben, nennen sie „paradigmatisch“. Man könne ihre Befunde auch auf andere Bistümer anwenden. Schließlich seien die kirchlichen Strukturen dort die gleichen.

Alles zum Thema Rainer Maria Woelki

Der Kölner Bistumsleitung müssen nicht nur bei diesen Ausführungen die Ohren geklingelt haben. Schließlich vertritt Wastl dieselbe Kanzlei, die mit ihrem Gutachten für das Erzbistum angeblich so kläglich gescheitert ist, dass Kardinal Rainer Woelki es Ende Oktober einkassierte und ein neues, zu diesem Zeitpunkt längst beauftragtes Gutachten in Aussicht stellte.

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Von Juristen verschiedener Kanzleien, die in einer nicht unbelasteten Konkurrenz mit ihren Münchner Kollegen stehen, wurde Woelki vor deren Arbeit gewarnt: Das Gutachten werde ihm bei der Veröffentlichung um die Ohren fliegen, weil darin die Namen von Verantwortlichen genannt werden, die sich vor Gericht wehren könnten. Ehemalige und aktive Würdenträger bauten mit Hilfe von Anwälten Druck auf Woelki auf, der noch 2018 als entschlossenster Aufklärer unter allen deutschen Bischöfen angetreten war. Insider berichten, dass das Drohpotenzial nicht allein auf den Persönlichkeitsrechten der im Gutachten Belasteten gründet, sondern auf einem subtilen Gefüge alter Verbundenheiten, Abhängigkeiten und womöglich auch offener Rechnungen.

Das passt perfekt zu dem Bild, das die Münchner Anwälte von den Zuständen auch im Nachbarbistum Aachen zeichnen. Anwalt Martin Pusch spricht am Donnerstag von einem „toxischen Näheverhältnis“ unter Klerikern und ihrem besonderen Zusammenhalt, der Missbrauch und dessen Vertuschung begünstige . Als Grund dafür macht der Jurist das Standesbewusstsein unter Priestern aus, die durch die Weihe nach traditioneller Vorstellung zu „verwandelten Wesen“ würden. Die Folge: Mangel an Selbstkritik und Immunität gegen Angriffe der „säkularen Welt“.

Oftmals sei weder die Weiterverwendung von Tätern in der Seelsorge noch ihr Fortkommen im kirchlichen Apparat oder ihre finanzielle Versorgung gefährdet oder beeinträchtigt gewesen – wiederum im Gegensatz zu den Opfern, bei denen der sexuelle Missbrauch unauslöschliche Spuren und gebrochene Biografien hinterlassen hat. Das Aachener Gutachten führt das in aller Ausführlichkeit auf. Man kann lesen, wie ein einschlägig vorbestrafter Priester nach verbüßter Haft und sogar gegen seinen ausdrücklichen Wunsch erneut in der Pfarrseelsorge eingesetzt wurde – und dass es zu erneuten Vergehen kam. Wastl zeigt sich schockiert, dass das Risiko für potenzielle weitere Opfer für die kirchlichen Entscheider offenbar keinerlei Rolle spielte. Das Gutachten lässt auch die beiden wichtigsten noch lebenden Protagonisten zu Wort kommen: den ehemaligen Bischof Heinrich Mussinghoff und den früheren Generalvikar Manfred von Holtum. Wastl attestiert Mussinghoff zumindest „eine gewisse Einsicht“. Der Alt-Bischof, nach Auskunft enger Freunde gesundheitlich angeschlagen, hatte am Montag in den Aachener Zeitungen einerseits um Verzeihung gebeten „für das, was geschehen ist“. Er äußerte auch sein Bedauern, „wenn das Bistum nicht immer sensibel genug reagiert“ habe und bekannte, dass er sich „nicht in der Lage gefühlt“ habe, mit Betroffenen zu reden. Andererseits wirft Mussinghoff der Münchner Kanzlei Fehler bei der Wiedergabe seiner Einlassungen vor. Vorsorglich ließ er seinen Anwalt der Veröffentlichung widersprechen und auf seine Persönlichkeitsrechte hinweisen. Auf Nachfrage betont Wastl aber, es habe keine ausdrücklichen Interventionen gegeben, um die Publikation zu verhindern.

Mit Blick auf von Holtum hebt Wastl hervor, der frühere Generalvikar sei von allen 35 befragten ehemaligen und aktiven Funktionsträgern des Bistums der Einzige gewesen, „der den Fehler eingeräumt hat, dass bis 2010 niemand auf die Opfer zugegangen ist“. Auch habe nur von Holtum auf die „gängigen Verteidigungsmuster“ verzichtet, mit allem nichts zu tun gehabt zu haben, weil immer andere zuständig gewesen seien und am Ende eh der Bischof entschieden habe. Diese Ausflüchte seien „geradezu typisch“, sagt Wastl – und sie hätten ein „schreckliches Ergebnis: systemische Verantwortungslosigkeit“. Das Erzbistum teilt zur Vorlage des Aachener Gutachtens auf Anfrage mit, die Entscheidung darüber treffe der Bischof von Aachen. Das Vorgehen werde aus Köln nicht kommentiert. Zur Relevanz der Studie im Nachbarbistum ist in Köln gelegentlich zu hören, der Kölner Auftrag an die Münchner Anwälte habe in einer ganz anderen Liga gespielt. Hier stünden schließlich ganz andere kirchliche Schwergewichte auf dem Prüfstand und unter etwaigem Beschuss. Zu denken ist hier an den 2017 verstorbenen Erzbischof, Kardinal Joachim Meisner, aber auch an den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße (vormals Kölner Personalchef) und Meisners ehemaligen Generalvikar Dominikus Schwaderlapp, heute Weihbischof in Köln. Im Vergleich zum Kölner Gutachten sei die Arbeit im Bistum Aachen „wie ein Elfmeter ohne Torwart“.

In Mussinghoffs Gespräch mit den Aachener Zeitungen benennt der Alt-Bischof etwas, das ihm „sehr zu schaffen gemacht“ habe: Die meisten beschuldigten Priester hätten sich „bis zuletzt verteidigt, vor allem wenn es darum ging, ihre Stellung aufzugeben. Da spielt große Angst mit.“ Das gilt offenbar nicht nur für beschuldigte Priester.

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