„Es geht schlicht ums Überleben“Meeresforscherin über Unwetter und kochende Strände

Lesezeit 10 Minuten
Neuer Inhalt

Symbol der Polschmelze: Eisbär

Die Meeresbiologin Antje Boetius ist Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Ein Gespräch über die Folgen des Klimawandels für das Meer, Unwetter als Gerechtigkeitsfrage und kochende Strände.  Frau Professor Boetius, was hat ein Hochwasser an der Ahr mit Polar- und Meeresforschung – Ihrem Metier – zu tun? Antje Boetius: Wenn man nach dem Zusammenhang Erderwärmung und Extremregenfälle sucht, kommt man auf den Ozean und die Polarregionen. Die Erde ist zu 70 Prozent von Wasser bedeckt. Ist es warm, kommt es an dieser Oberfläche zu einer – eigentlich hilfreichen – Reaktion: Wasser verdampft. Das bewirkt lokal eine Abkühlung, führt aber auch dazu, dass die Atmosphäre insgesamt mehr Wasserdampf aufnimmt, der sich irgendwann wieder zu Tröpfchen formt und abregnet.

Das ist Physik.

Ein so simples Prinzip zu bestreiten, wäre ähnlich absurd wie zu sagen: Die Schwerkraft gibt’s gar nicht. Mit jedem Grad mehr an Wärme kann die Luft sieben Prozent mehr Wasserdampf binden. Leider führt das nicht zu mehr feinem, gut verteiltem Nieselregen, der Natur und Mensch gut tut, sondern in den Extremen zu lokalen Unwettern, wie sie gerade weltweit auftreten und wir sie jetzt auch in Deutschland erlebt haben. 150 Liter Wasser und mehr pro Quadratmeter, das ist weit jenseits dessen, wofür Schutzvorkehrungen geplant und gebaut sind. In unserer Forschung beschäftigen wir uns zunehmend mit Fern- und Wechselwirkung von Eis und Meer mit unserem Leben.

Alles zum Thema Armin Laschet

Neuer Inhalt

Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts

Ihr Institut (hier geht es zur Homepage des AWI) ist führend in der Beschreibung klimabedingter Veränderungen. Wie sehr beunruhigt es Sie, dass Ihre Befunde angezweifelt oder der Einfluss des Menschen bestritten wird?

Wir sind mit wissenschaftlichen Einrichtungen in der ganzen Welt vernetzt, und alle sehen das Gleiche: Der Klimawandel ist mitten unter uns. Die auf physikalischen Prinzipien beruhenden Vorhersagen für globale Veränderungen treffen besonders in den lokalen Extremen noch härter ein, da Überflutungen, Waldbrände, Hitzewellen auch durch verschiedene Praktiken in der Landnutzung verstärkt werden.

Ein Blick in die Annalen zeigt: Verheerende Hochwasser, vergleichbar dem vom 14. Juli, gab es an der Ahr zum Beispiel 1804 und 1910. „Jahrhundert-Hochwasser“ eben. So schrecklich diese Ereignisse waren und sind – sie scheinen buchstäblich in der Natur der Sache zu liegen.

Das ist erstmal richtig. Extremwetter sind an sich nichts Neues, ihre Zunahme und Stärke aber schon. Ein Teil meiner Familie kommt von den friesischen Inseln – und da zeigt die Familiengeschichte den Kampf mit dem Meer und Fluten über die Jahrhunderte, die damals andere Ursachen haben als heute, und vor denen wir uns heute auch anders zu schützen wissen.

Neuer Inhalt

Arktisches Eis mit Schmelzwassertümpeln

Da gilt es für die Analyse der Zusammenhänge genau hinzuschauen – denn das Erdsystem hat verschiedene Rückkopplungsmechanismen auf Zeitskalen von Jahren bis Jahrhunderttausenden, die sich überlagern. Dennoch können wir heute einen Klimawandel-Anteil aufzeigen, der schnell zunimmt und damit auch die Extreme und die Schäden.

Wie kann man das bestimmen?

Hier setzt ein Forschungszweig namens Attributionsforschung an. Sie ordnet den Naturphänomenen mittels statistischer Analysen und des Vergleichs verschiedener Faktoren den Anteil des menschengemachten Klimawandels zu. Sie fragt: Wie wäre denn solch ein Extremwetter ausgegangen, wenn es die Klimaerwärmung am Ort des Geschehens nicht gegeben hätte?

Als Folge der Emissionen aus der Nutzung fossiler Energie sowie der Landnutzung hat sich die Lufttemperatur sich seit den Referenzjahren 1881 bis1900 nachweislich verändert. Wir haben für diesen Zeitraum in Deutschland eine durchschnittliche Erwärmung um deutlich über zwei Grad zu verzeichnen. Und wir haben sehr viel mehr Treibhausgase wie CO2 in der Luft – mit den entsprechenden thermodynamischen Effekten. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Extremwetter uns richtig übel erwischen. Für die lokal Betroffenen wird das dann zur Gerechtigkeitsfrage: Ist es eigentlich fair, dass an meinem Haus und meinem Leben durchgespielt wird, was aus dem falschen Verhalten aller folgt?

Skeptiker rechnen vor, dass der vom Menschen verursachte CO2-Ausstoß nur einen ganz geringen Teil des Eintrags von Treibhausgasen in die Atmosphäre ausmache.

Vor dem Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert lagen wir bei einem CO2-Anteil von ungefähr 250 ppm. Das heißt: 250 Moleküle Kohlendioxid kamen auf eine Million Moleküle in trockener Luft. Heute liegen wir bei 415 ppm. Das ist alles andere als „wenig“. Dieser enorme Anstieg ist die Folge immer höherer Gesamtemissionen, die eben nicht mehr von den Pflanzen an Land und dem Ozean aufgenommen werden können. So steigt der Gehalt in der Atmosphäre immer weiter.

Zur Person

Antje Boetius, geb. 1967, ist Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Die Meeresbiologin hat eine Professur für Geomikrobiologie an der Universität Bremen.

Boetius hat selbst an etwa 40 meeresbiologischen Forschungsreisen teilgenommen und eine Reihe internationaler Expeditionen geleitet. Sie ist Mitglied des Wissenschaftsrats und der Deutschen Akademie der Naturforscher „Leopoldina“. Im Jahr 2009 erhielt sie den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). (jf)

Das ist im Grunde eine simple Bilanzrechnung: Wir haben die Atmosphäre bisher wie eine gigantische kostenlose Müllhalde behandelt für den Anteil an CO2-Abfällen, den Land und Ozeane als „Müllabfuhr“ nicht wegschaffen. Und genau das macht uns die Probleme. Denn natürlicherweise besteht ein fein austariertes Gleichgewicht: Was alle Lebewesen zusammen an CO2 ausstoßen, wird ungefähr netto auch wieder aufgenommen – mit einem kleinen Überschuss, der in den Meeren und Böden versenkt wird. Dieses Gleichgewicht ist inzwischen fundamental gestört. Obwohl die Wissenschaft schon vor mehr als 50 Jahren Alarm geschlagen hat.

Ohne Erfolg.

Weil dann ein Krieg gegen das Wissen begann, um das auf Kohle und Erdöl basierende, scheinbar kostengünstige Leben ungestört fortsetzen zu können. Von der Erdölindustrie wurden – wie heute bekannt ist – Leute bezahlt, die alle Warnenden und den Treibhauseffekt selbst diskreditieren sollten. Das war eine weltweite Kampagne. Mit dem „Erfolg“, dass uns heute mindestens 20 bis 30 Jahre fehlen, in denen wir längst auf andere Formen der Energiegewinnung hätten umsteigen müssen.

Und schon der heutige Wert von 415 ppm hat einen erheblichen Effekt: Die natürliche Wärmeentwicklung durch die Sonneneinstrahlung wird durch die höhere CO2-Konzentration in der Luft – wie unter einer Käseglocke – verstärkt. Wir reden dann bei Hitzewellen nicht mehr – wie früher – von 30 bis35 Grad, sondern auf einmal von 40 Grad und mehr. Und diese Differenz, die Leben kosten kann, ist damit menschengemacht. Ich hatte gerade Besuch US-amerikanischer Meeresforscher, wo die Temperaturen an die 50-Grad-Marke geklettert sind. Die Kollegen haben auch Hitzewellen im Meer zusehen müssen, wo Milliarden von Lebewesen an den Stränden lebendig gekocht wurden.

Sie hatten mit Blick auf die Flutkatastrophe und ihre Ursachen als zweiten Faktor die Landnutzung genannt. Muss man nicht auch da sagen: Die Dörfer an der Ahr wurden auch schon überflutet, als noch keine Flächen versiegelt und keine Gewässer begradigt oder kanalisiert waren?

Dem steht aber ein immenser Fortschritt in Infrastruktur, Technik und Wissenschaft gegenüber. Und das Vertrauen, dass der Staat uns schützt vor Katastrophen. Das Irritierende ist dann doch die Frage, warum all das Wissen, dass wir haben, warum die technischen Errungenschaften nicht dazu führen, diese schlimmen Konsequenzen zu verhindern.

Und woran liegt das?

Wir haben auch in Deutschland die Technik und Infrastruktur nicht entsprechend den Klimavorhersagen angepasst, also auch nicht das richtige Verhältnis zum Umgang mit Risiken entwickelt.

Das heißt?

Jede Risikofolgenabschätzung und die Entscheidung, unsere Infrastruktur, die Steuerpolitik und unser Leben anzupassen ist Teil eines Aushandlungsprozesses, an dem alle beteiligt sind. Wir haben in Gegenden gebaut, von denen wir wissen, dass die Häuser dort alle 100 Jahre und künftig dann vielleicht alle 20 Jahre weggeschwemmt werden. Wir haben immer mehr Flächen versiegelt, obwohl klar ist, dass der Regen dann nicht mehr im Boden versickert. Wir haben auch die Katastrophenwarnungen weder digital noch analog so angepasst, dass alle Bürger und Bürgerinnen umgehend erreicht werden können. Was uns in der Klimakrise an Risiken noch bevorsteht, das können sich viele Menschen auch nicht vorstellen. Eine entsprechende Einigung auf Anpassungen muss aber dringend erreicht werden. Und das tut natürlich weh, wenn man ein Grundstück oder gar eine Siedlung aufgeben muss.

Die Kanzlerin hat auf die Grenzen aufmerksam gemacht, als sie sagte, der Rekordpegel an der Ahr habe vor 2021 bei 3,80 Meter gelegen. Jetzt waren es acht Meter. Das kann man sich doch tatsächlich nicht vorstellen, und damit kann man doch schlechterdings auch nicht planen.

Aber genau das meine ich. Flutpegel, Hitzewellen, Waldbrände – jenseits der Vorstellungskraft, wenn man es nicht erlebt hat, und dennoch Teil unserer Zukunft. Es gilt mit Risiken umzugehen und sowohl an Lösungen zu arbeiten – wie dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen – als auch sich an Eventualitäten anzupassen. Im Norden Deutschlands musste jetzt schon viel Geld für Pumpsysteme, für Hochwasserschutz und die Verstärkung der Deiche ausgegeben werden – erstmal mit dem Szenario 50 Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts. Aber weitere Anpassungen wie an Extremniederschläge und noch höhere Anstiege sind notwendig.

Das könnte Sie auch interessieren:

Wen soll man eigentlich für einen Mangel an Risikoabschätzung verantwortlich machen? Den einzelnen Bauherrn? Die Stadtplaner und das Baurecht? Die ganze Welt?

Die kommenden Generationen werden uns dafür verantwortlich machen, mangelndes Risikobewusstsein gehabt zu haben und mangelnde Zukunftsvorsorge. Da leuchtet unmittelbar ein, was das Bundesverfassungsgericht in seinem jüngsten Klima-Urteil festgestellt hat: Der Mensch ist Teil eines natürlichen Netzwerks, zu dem andere Lebensformen wie Pflanzen und Tiere gehören, zu dem die Landschaft gehört und auch die Atmosphäre. Wir müssen verstehen, dass Grundrechte aller wie ein unversehrtes Leben von unserem Verhalten innerhalb dieses natürlichen Netzwerks abhängen. Wenn wir Löcher in dieses Netz schneiden, gehen halt die großen Fische durch.

Kennen Sie das Gefühl, die Erde ist verloren, es hat keinen Sinn mehr?

Neuer Inhalt

Antje Boetius in der Arktis

Ich habe solche Momente, wenn aktuelle Beobachtungen vom Zustand der Polarregionen, Küsten und Ozeane von unseren Forscherinnen und Forschern auf mich einprasseln: Packeis wieder schneller geschmolzen, Gletscher abgebrochen, Meerwasser wärmer geworden, noch mehr Müll beobachtet. Da sitze ich dann als Direktorin da und denke: Wieso jetzt das nächste Meeting, das nächste Interview? Aber dann setzt bei mir auch gleich die Gegenreaktion ein.

Die da lautet?

All diese Erkenntnisse müssen unter die Leute! Indem wir das, was wir wissen, schnell teilen, anhand von Bildern und Grafiken, von Augenzeugenberichten, tun wir wenigstens, was wir können. Menschen lernen besser, wenn sie sehen, hören und fühlen, was passiert. Jetzt geht es ja darum, die Veränderung unseres Wirtschaftens und Handelns als Chance zu begreifen für mehr Lebensqualität. Da ist auch die Haltung gegenüber der Landschaft, der Natur, der Atmosphäre enorm wichtig.

Eigentlich sollen wir Wissenschaftler ja „nur“ nüchtern und objektiv die Daten liefern, auf deren Basis Politik und Gesellschaft ihre Entscheidungen treffen. Aber gerade hat die UN-Dekade der Ozeanforschung sowie die europäische Mission „Starfish“ für die Meere der Wissenschaft mitgegeben, wir sollten als Augenzeugen auch mehr für die Empathie, die Emotionen zuständig sein.

Mit welchem Ziel?

Es gilt ein neues Naturgefühl vermitteln, ein Verständnis und eine Liebe zur Natur, die vielleicht bei vielen verloren gegangen ist. Denn was der Mensch liebt, das will er auch schützen, das will er nicht verlieren. Leider wird ja gerade von einigen Regierungsvertretern behauptet, dass es um fundamentalen Verzicht ginge, sollten wir die Klimaziele schnell erreichen wollen. Aber es müsste noch klarer gesagt werden, auf was wir verzichten, wenn wir keinen ausreichenden Klimaschutz betreiben.

Für immer mehr Menschen und immer mehr Natur geht es da schlicht ums Überleben. Ein Satz wie „weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“ des Kanzlerkandidaten Armin Laschet macht da nicht gerade Hoffnung.

Ein Martin Luther zugeschriebener Satz lautet: Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen. Was ist Ihr Apfelbäumchen?

Mein Apfelbäumchen ist die Idee einer Zukunft in der wir ein Gleichgewicht mit den Stoffkreisläufen, der Atmosphäre und der Natur insgesamt finden. Und es sind die Begegnungen mit so vielen Menschen, die voller Kreativität und Lust stecken, ihren Teil sofort dazu beizutragen. So sage ich mir: Weitermachen, Antje! Tun wir einfach wenigstens schon mal das, was in unserer Reichweite ist – und ein bisschen mehr. Wie schnell würden wir dann in eine Zukunft kommen, nach der sich die Mehrheit schon lange sehnt.

KStA abonnieren