AltersarmutRente erreicht immer öfter nicht das Existenzminimum

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Doris Theel, von Altersarmut bedroht,verarbeitet geschenktes Fallobst. 

Bergheim – Unablässig schnibbelt Barbara Müller, 68, ihre Äpfel. „Fallobst“, lächelt sie, Bekannte haben ihr das Obst geschenkt. Die Rentnerin sitzt am Küchentisch in ihrer Sozialwohnung in Bergheim. Mit jedem Cent muss die alleinstehende Frau rechnen, um über die Runden zu kommen. Altersarmut.

300 Euro zum Leben

Die Mutter von zwei Kindern bezieht staatliche Grundsicherung. Die kleine Rente hat die Stadt auf 768 Euro aufgestockt. Abzüglich Miete, Strom und Nebenkosten, bleiben ihr nach einem arbeitsreichen Leben knapp 300 Euro im Monat.

So tragisch ihre Vita, so typisch ist sie für viele bedürftige, ältere Frauen: Geschieden nach 30 Jahren Ehe, ihr Ex-Ehemann, selbstständig, hatte nicht ausreichend fürs Alter vorgesorgt. Barbara Müller arbeitete als Fußpflegerin.

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Kind erkrankte an Leukämie

Bald aber musste sie den Job drangeben, weil ihr Sohn an Leukämie erkrankte. Sie pflegte ihn bis zu seinem Tod vor fünf Jahren. Und nun „reicht es hinten und vorne nicht“, bekennt die Rentnerin, „aber unterkriegen lass ich mich nicht.“

So wie Barbara Müller geht es immer mehr alten Menschen in Deutschland. Bundesweit leben laut dem Europäischen Statistikamt 5,7 Millionen Senioren am oder unter dem Existenzminimum. Allein in NRW ist jeder achte Rentner von finanzieller Not bedroht. Das entspricht 12,5 Prozent. 2005 lag die Quote noch unter zehn Prozent.

Laumann warnt vor „Schreckgespenst“

NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) nimmt „das Problem der Altersarmut sehr ernst“. Zugleich aber warnt der Politiker davor, „ein Schreckgespenst an die Wand“ zu malen. Auf stabiles Wirtschaftswachstum, auf einen florierenden Arbeitsmarkt setzt Laumann – und auf faire Löhne. „Wer Jahrzehnte gearbeitet hat, muss genug für seinen Lebensunterhalt haben und darf nicht in Altersarmut abrutschen“, betont er. Und er macht Werbung für die von der großen Koalition geplante Einführung einer Solidarrente als probate Altersversorgung für Geringverdiener oder Menschen mit langen Auszeiten.

Ein Ansinnen, das der Paritätische Wohlfahrtsverband als „dreisten Etikettenschwindel“ bezeichnet. „Die Voraussetzungen sind zu hoch, die Umsetzung zu kompliziert und die Leistungen zu niedrig“, sagt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider.

Der aufgestockte Betrag von monatlich zirka 880 Euro, der je nach Region unterschiedlich ausfällt, reiche bei weitem nicht aus, um bedürftigen Senioren ein würdiges Leben im Alter zu sichern. Angesichts der Teuerungsraten in Metropolen wie München, Hamburg, Berlin, Köln oder Düsseldorf wirke das Vorhaben wie ein Pflaster ohne heilenden Effekt.

Schwelle zu Armut: 958 Euro

Tatsächlich liegt die Armutsgrenze bei Alleinstehenden laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bei 958 Euro. Der Analyse zufolge bewegen sich die Indikatoren für die Not im Alter zusehends nach oben. Das Risiko erhöht sich für Neurentner von derzeit 16,2 Prozent auf 20,2 Prozent ab 2030. Besonders betroffen sind Langzeitarbeitslose, Niedriglöhner und alleinstehende Frauen. Wenn Barbara Müller kocht, muss es für mehrere Tage reichen. Sie könnte zur Lebensmittel-Tafel gehen, aber sie will nicht. „Da schäme ich mich“, sagt sie.

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Die Bedrohung durch Altersarmut wächst.

Ernst und Christel Salmen aus Münster haben die Scham überwunden. Jeden Mittwochnachmittag geht das Ehepaar zur Tafel im heimischen Viertel. Zuletzt gab es unter anderem Brötchen, etwas trocken zwar, „aber als gelernter Koch weiß man etwas daraus zu machen“, sagt der Frührentner. Er verarbeitet sie zu Semmelknödeln. Mit dem Angebot der Armenspeisung sind die Eheleute „sehr zufrieden“.

Senioren fühlen sich von der Politik alleingelassen

Von der Politik hingegen fühlen sie sich alleingelassen. „Wenn man sieht, dass die Bundestagsabgeordneten sich jedes Jahr ein paar Hunderte Euro als Diätenerhöhung einstecken, und wir als Grundsicherungsempfänger bekommen gerade mal sechs Euro mehr, dann ist das ein Hohn.“

35 Jahre lang hat Ernst Salmen in der Gastronomie gearbeitet, seine Frau im Service. Beide haben ganz gut verdient. Mit Ende 40 kam für den Münsteraner das Aus. Die Ärzte diagnostizierten eine Lähmung der Fußnerven. Salmen braucht seither einen Spezialschuh.

Als dann ein Krebsleiden und ein Wirbelsäulenschaden folgten, begann der soziale Abstieg. Zudem erkrankte auch seine Frau schwer. Die Lebensversicherung musste aufgelöst werden, es ging bergab zu Hartz IV. Und nun, mit 64 Jahren, führt Salmen als Schwerbehinderter mit seiner Frau Christel, 72, einen täglichen Kampf gegen die Not. Von den 1470 Euro, die dem Paar monatlich an Alterseinkünften zufließen, bleiben knapp 250 Euro pro Person für Lebensmittel, Kleidung und sonstigen Bedarf.

Notgedrungen auf Schnäppchenjagd

Kein Wunder, dass die Salmens nur dort einkaufen, wo preiswerte Schnäppchen locken.  Kürzlich erst offerierte der nahe gelegene Supermarkt ein Kilogramm Hähnchenkeulen für 1,50 Euro. Da hat das Ehepaar kräftig zugeschlagen. Teures Bio-Fleisch können sich die beiden nicht leisten. 

Die Not an Rhein und Ruhr nimmt stetig zu. Im bevölkerungsreichsten Bundesland stieg der Anteil der Grundsicherungsempfänger zwischen 2010 bis 2015 um rund ein Drittel auf 4,1 Prozent – etwa ein Prozentpunkt mehr als im Bundesdurchschnitt.

Armenhäuser Köln und Düsseldorf

2016 mussten fast 146 000 Senioren in Nordrhein-Westfalen Sozialhilfe beantragen, weil ihre Rente zum Lebensunterhalt nicht reichte. Köln (7, 3 Prozent), Düsseldorf (7,2 Prozent) und das Ruhrgebiet gelten in dieser Hinsicht als die Armenhäuser des Landes. 

Am schlimmsten seien jene Senioren dran, die mit ihren Alterseinkünften nur um ein paar Euro über dem Grundsicherungssatz liegen, sagt Lydia Staltner vom Verein Lichtblick Seniorenhilfe.

Die karitative Organisation unterstützt bundesweit mehr als 10000 bedürftige Rentner, darunter Barbara Müller in Bergheim und das Ehepaar Salmen. Täglich wächst die Zahl der Bedürftigen, vor allem jener, die keine staatliche Stütze bekommen. „Diese Menschen müssen alles selbst bezahlen – Miete, Strom, Krankenkasse bis hin zu GEZ-Gebühren und haben noch nicht einmal Anspruch auf einen Bezugsschein für die Tafel“, erläutert Staltner.

Die Folge sei, dass „viele von ihnen am Monatsende hungern müssen“. Häufig müsse Lichtblick mit Lebensmittelgutscheinen oder anderen finanziellen Hilfen einspringen. Diese notleidenden Senioren tauchen jedoch in keiner amtlichen Statistik auf.

Zu wenig fürs Alter zurückgelegt

Peter Sommer (Name geändert), 70, kommt von ganz unten. Im Leben des Kölner Rentners lief längst nicht immer alles geradeaus. Lange arbeitete der Architekt als Freischaffender, die Einkünfte fielen allerdings eher mittelmäßig aus. „Und dann habe ich den Fehler gemacht, zu wenig für meine Altersvorsorge zurückzulegen.“

Sommer dachte, er könnte auch noch mit 70 Jahren Häuser entwerfen. Doch weit gefehlt: Als sein Vater schwer erkrankte, pflegte ihn der Sohn über Jahre bis zu seinem Tod. „Danach war ich aus dem Geschäft raus“, erzählt der 70-Jährige. Im Alter blieb dem Kölner nur noch eine Mini-Rente.

Sommer humpelt deswegen jeden Freitag mit seinem Rollwägelchen zur Tafel in seinem Viertel in Sülz-Klettenberg. Arthrose in der Hüfte und ein nicht behandelter Leistenbruch behindern ihn beim Laufen.

Hilfe von Nachbarn

Der Kölner spricht von einer Nahrungsergänzungshilfe. Denn meist reiche die „Ausbeute“ nur fürs Wochenende. Den Rest der Woche kommt Sommer mit Hilfe einer Nachbarsfamilie über die Runden. „Der Sohn ist Hobbykoch und bringt seinem schwer kranken Vater etwas zu essen. Und da bekomme ich auch zwei Mal in der Woche ein Gläschen ab. Ohne das würde ich es nicht schaffen.“

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