KommentarImpfpflicht als letzter Ausweg – warum die Debatte jetzt dringend nötig ist

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Impfung Spritze Symbolbild

Ein Mediziner zieht eine Spritze mit Impfstoff gegen das Coronavirus auf. (Symbolbild)

Seit dem Sommer läuft deutschlandweit im Rahmen der Pandemie ein bemerkenswerter Feldversuch. Dabei scheint es darum zu gehen, sehenden Auges und ohne erkennbares Eingreifen der politisch Verantwortlichen das Land zu spalten: Auf der einen Seite steht die große Gruppe derjenigen, die sich bereitwillig gegen das Coronavirus impfen ließen. Auf der anderen jene, die dies bis heute verweigern.

Selbstverständlich darf man kritisch und skeptisch gegenüber einer Corona-Impfung sein. Körperliche Unversehrtheit gehört zu den wertvollsten Gütern, die wir im Grundgesetz schützen. Vermutlich genau deshalb hat die Politik das Wort „Impfpflicht“ lange gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Mehr noch: Schon zu Beginn der Pandemie wurde die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht als unnötig vom Tisch gewischt. Ein schwerwiegender Fehler.

Deutschland steht vor zweitem Pandemie-Winter

Dass die Debatte über die Impfpflicht im November 2021 plötzlich mit großer Verve geführt wird, ist Ausdruck des Scheiterns der bisherigen Corona-Politik. Deutschland steht vor dem zweiten Pandemie-Winter ähnlich schlecht da wie im Vorjahr – und das, obwohl es anders als noch vor zwölf Monaten Impfstoffe und Schnelltests gibt. Auf den Intensivstationen des Landes werden augenblicklich 3845 an Corona erkrankte Patienten versorgt, 668 mehr als in der Vorwoche. Und der Winter hat gerade erst begonnen.

Ein Desaster, an dem die Politik eine große Mitschuld trägt. Im Bundestagswahlkampf richtete sich der Blick der Parteien und der Regierung nicht vorrangig auf die zu erwartende erneute Verschärfung der Corona-Krise im Herbst, sondern auf den Kampf um Wählerstimmen. Die Kampagne für Erst- und Booster-Impfungen wurde monatelang genauso vernachlässigt wie die sich zuspitzende Lage in der Intensivmedizin. Das rächt sich jetzt bitter.

Debatte um Impfpflicht kommt zu spät

Die politische Strategie seit dem Sommer lautete: Wir wollen Ungeimpfte durch Verzicht auf Teilhabe am öffentlichen Leben doch noch in die Impfzentren oder Arztpraxen lotsen. Ein Plan, der krachend scheiterte, weil er an keiner Stelle konsequent genug verfolgt wurde. Mal ganz abgesehen davon, dass es behördlicher Irrsinn war, kostenlose Coronatests zu streichen, obwohl sogar für medizinische Laien die aufkommende vierte Welle absehbar war.

Die Debatte um die Impfpflicht kommt spät, zu spät. Sie muss nun umso dringender geführt werden. Dennoch, und das ist das Dilemma, müssen vor einer Entscheidung für die Impfpflicht alle medizinischen und politischen Argumente ausgetauscht werden. Eine allgemeine Pflicht darf, um eine noch tiefere Spaltung der Bevölkerung zu verhindern, erst dann eingeführt werden, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft wurden.

Druck auf Ungeimpfte in anderen Ländern deutlich höher

Dies ist in Deutschland – und hierin besteht das Politikversagen – bislang nicht geschehen: Erst vom Mittwoch an gilt die 3G-Regel am Arbeitsplatz. Erst seit wenigen Tagen setzt sich 2G-Plus als Regelfall für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen durch. Und der Druck auf Ungeimpfte, doch noch zum Arzt zu gehen, ist in anderen Ländern wie Österreich, Italien und Israel längst ungleich höher als bei uns in Deutschland.

Was jetzt zu tun ist? Die Diskussion darüber, unter welchen Umständen die Impfpflicht unausweichlich ist, muss schnell und zielführend geführt werden. Von Medizinern, Verfassungsrechtlern und vor allem von den Parlamentariern im Bundestag.

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In den kommenden Wochen müssen zudem noch einmal alle Anstrengungen unternommen werden, die Impfquote zu erhöhen. Durch verstärkte Aufklärungskampagnen und deutlich mehr niedrigschwellige Impfangebote – etwa durch Impfbusse, die in sozial schwächeren Stadtteilen und in schwer erreichbaren Landstrichen eingesetzt werden. Notfalls muss es auch weitere Einschränkungen für Ungeimpfte geben. Keinesfalls aber erneute flächendeckende Lockdowns in Schulen oder in der Wirtschaft.

Viele offene Fragen rund um die Impfpflicht

Steigt durch all diese Maßnahmen die Impfquote nicht deutlich, werden wir im Frühjahr um eine allgemeine Impfpflicht nicht herumkommen. Bis dahin wird es einen partiellen Einstieg in die Pflicht schon geben: Für Kliniken, für Alten- und Pflegeheime. Aber bis dahin muss auch geklärt sein: Für wen genau soll die Impfpflicht gelten? Ist sie vereinbar mit dem Grundgesetz? Wie soll sie umgesetzt werden? Wie sollen Verstöße geahndet werden?

Es ist zu spät, um die vierte Corona-Welle mit dem Instrument der Impfpflicht zu brechen. Wir werden sie aber spätestens dann, wenn in diesem Winter alle anderen Mittel und Wege scheitern, dringend benötigen. Dann gibt es zu ihr keine Alternative mehr, um eine mögliche fünfte Welle zu verhindern.

Dann wird man der Gruppe der Ungeimpften das berühmte Zitat Immanuel Kants entgegenhalten müssen: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.

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