Ein Streifzug durch Rheda-WiedenbrückDer Tönnies-Skandal schlägt hohe Wellen

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Auf einer Wiese werden mobile Teams aus Bundeswehr und Hilfsorganisationen gebildet, die im Kreis Gütersloh die Menschen in Quarantäne aufsuchen und testen.

Auf einer Wiese werden mobile Teams aus Bundeswehr und Hilfsorganisationen gebildet, die im Kreis Gütersloh die Menschen in Quarantäne aufsuchen und testen.

  • Gastronomen und Geschäftsleute bekommen die Auswirkungen des Ausbruchs bei Tönnies zu spüren.
  • Kritik wird jedoch nur verhalten geäußert.
  • Ein Streifzug durch Rheda-Wiedenbrück.

Rheda-Wiedenbrück – Der Fisch wird schlecht. Ganz sicher. Genauso wie der Rest der Ware. Heute erst angeliefert, im Wert von hunderten Euro, das sagt Iris Bettinger zumindest, während sie in dem Raum steht, den sie an diesem Freitag eröffnen wollte, feierlich, mit einem Barbecue, 40 Gäste waren eingeladen. Zwei Bauarbeiter hämmern noch in den Ecken, sonst ist die Erweiterung ihres Restaurants, geplant, als es noch gut lief, jetzt beinahe fertig. Zu einem Zeitpunkt, an dem es nicht schlechter laufen könnte.

Bettinger, eine Frau mit kurzen blonden Haaren und heller Stimme, ist die einzige Sterneköchin im Kreis Bielefeld, sie betreibt das Hotel Reuter in Rheda-Wiedenbrück, ein Bau in der Innenstadt, das Haus am Platz, 20 Mitarbeiter. Alle in Kurzarbeit. Das bleibt jetzt auch erstmal so. Vor dem Eingang sitzt auf dem Gehsteig Miteigentümer Armin Weisenberger, liest auf seinem Handy die Nachrichten vom Lockdown, den NRW-Ministerpräsident Armin Laschet vor wenigen Minuten für den Kreis Gütersloh verkündet hat und sagt: „Das ist jetzt richtig scheiße.“

Betrieb hat sich gerade wieder normalisiert

Vor knapp einem Monat erst hatten sie hier wiedereröffnet, der Betrieb habe in den vergangenen Tagen langsam begonnen, sich zu normalisieren, sagen sie. Dann kam die Meldung vom Corona-Ausbruch in einem Schlachtbetrieb der Firma Tönnies, nur wenige Kilometer entfernt. 128 Infizierte vor einer Woche, 1300 am Sonntag, mehr als 1500 am Dienstag.

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Das Werk steht mittlerweile still. Die Arbeiter, viele aus Osteuropa, sind in Quarantäne, keiner kümmert sich um sie. Sie vertreiben sich die Zeit mit Nichtstun in oft schäbigen, überfüllten Unterkünften. Ein junger Rumäne sagt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, er wolle einfach nur noch weg.

Und die Geschäftsleute, die eigentlich im Reuter schlafen und essen, stornierten der Reihe nach ihre Buchungen. Neue werden nach der Bekanntmachung in den kommenden Wochen eher nicht dazu kommen, genauso wenig wie die erhofften Fahrrad-Touristen. Zu schlecht sei aktuell das Image der Stadt, sagt Bettinger. „Eigentlich sind wir jetzt wieder auf dem Stand, an dem wir im März waren.“

Was also tun? Erstmal das Barbecue absagen. Und dann abwarten. Mehr geht gerade nicht. „Menschen rufen an und sagen mir, wir würden ja eigentlich kommen, aber wir trauen uns nicht“, sagt Bettinger.

Ein Streifzug durch die Stadt

Es ist nicht viel los an diesem Dienstag in der kleinen Stadt in Ostwestfalen. Die Sonne knallt, ein paar Menschen essen Eis, außer ihnen ist fast keiner auf der Straße, was nun nicht unbedingt schon am Lockdown liegen muss.

Ein bisschen außerhalb liegt das Fahrradgeschäft von Annett und Jens Butschko. Ein Meisterbetrieb, sie reparieren, warten, verkaufen. Sechs Menschen arbeiten hier, vom Mechaniker bis zum Verkaufsberater. Es herrscht Maskenpflicht, an der Kasse steht ein Spender für Desinfektionsmittel. Sie werden offenhalten dürfen, in den kommenden Tagen, sie gelten als systemrelevant. Trotzdem werden wohl weniger Kunden kommen.

Wut auf Tönnies - zumindest teilweise

Natürlich sind sie auch sauer auf Clemens Tönnies, den lokalen Milliardär, unter dessen Bandarbeitern das Virus ausgebrochen ist, weil sie unter schlechten Bedingungen wohnen, arbeiten, leben müssen. Doch im Grunde lassen sie auf ihn nichts kommen. Schuld sei das System, nicht Tönnies. „Man kann das alles nicht Herrn Tönnies persönlich anlasten. Das machen in der Fleischbranche doch alle so“, sagt Fahrradhändler Jens Butschko.

Den Lockdown aber hält er für gerechtfertigt. Er erlebt die Lage vor Ort anders, als Laschet sie noch vor wenigen Tagen indirekt beschrieben hat, als er suggerierte, die Arbeiter stünden kaum in Kontakt mit der Gesellschaft. „Die Rumänen und Bulgaren laufen hier auch durch die Stadt“, sagt Butschko. Außerdem seien mittlerweile auch deutsche Mitarbeiter infiziert.

Der mächtigste Mann der Stadt

In Rheda, so sagen sie, gibt es niemanden im Ort, der nicht jemanden kennt, der bei Tönnies arbeitet. Er ist der mächtigste Mann der Stadt, zahlt viel Gewerbesteuer, investiert in Infrastruktur und Bildung. Er bestimmt, wo es lang geht.

Deswegen, glaubt Inge Bultschnieder, wagen es nur wenige, ihn öffentlich anzugreifen. Seit 2013 engagiert sich Bultschnieder für die Fleischarbeiter. Mit ihrer Interessengemeinschaft „WerkFAIRträge“ berät sie die Menschen, die oft kein Deutsch sprechen, zu ihren Rechten, hilft ihnen beim Gang zum Arzt oder den Behörden.

„Seit Jahren versuchen wir dem Teil der Bevölkerung, der anders denkt, klar zu machen, was hier eigentlich geschieht“, sagt sie. „Aber ich treffe hier immer wieder auf Menschen, die mir sagen: »Lass’ die Rumänen doch 4,50 Euro die Stunde kriegen, ist doch mehr als bei denen zu Hause.«“

Aufgebrachte Aktivisten

Die ganze Stadt, glaubt sie, profitiert von dem System der Werkverträge, über die Tönnies laut eigenen Angaben die Hälfte seiner Arbeiter beschäftigen lässt. Inge Bultschnieder hofft, dass nun, nachdem Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann angekündigt hat, diese systematische Auslagerung von Verantwortung für die eigene Belegschaft verbieten zu wollen, sich wirklich etwas ändert. Auch vor Ort. Dass auch die Stadtgesellschaft einsieht, dass diesen billigen Arbeitskräften Unrecht getan wird.

„Das ist schon kurios: Seit Jahren kämpfen wir mit unserer Initiative gegen dieses System und jetzt kommt das Coronavirus und führt es hoffentlich zu einem Ende“, sagt die Aktivistin aufgebracht.

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Am Hotel Reuter baut man darauf, dass Tönnies selbst es für Rheda wieder einmal richten wird. „Ich glaube, dass Clemens Tönnies etwas unternehmen wird, um den Schaden für die Stadt wieder gutzumachen“, sagt Mitinhaber Weisenberger. Im Grunde sei der doch ein ganz netter Kerl.

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