„Wir stehen an einem Kipppunkt“Eltern, Lehrkräfte und 150 Verbände rufen zur Demo für Bildungswende auf

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Kinder sitzen in einer vollen Schulklasse an ihren Pulten.

Volle Klassen, wenig Lehrkräfte: Die Probleme an den Schulen sind gravierend - vor allem bei den Jüngsten.

Auf Köln wird beim bundesweiten Protesttag am 23. September der Fokus für NRW liegen. Der Druck der Straße soll die Politik zum Handeln bringen.

„Endlich! Darauf warte ich schon lange“, sagt die Bildungsexpertin der Universität Köln, Myrle Dziak-Mahler zum anstehenden Protest. Dass Eltern und Schüler gemeinsam mit Teachers for future und 150 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften und Verbänden für den 23. September zum bundesweiten Protesttag „Bildungswende JETZT!“ aufrufen, das gab es noch nie. „Es ist historisch einmalig, dass so viele Akteure für eine Bildungswende auf die Straße gehen“, betont Eva-Maria Zimmermann, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Köln. In 29 Städten in allen Bundesländern wird demonstriert. Besondere Schwerpunkte sind Berlin und Köln.

Das Ziel: Die Politik durch den Druck der Straße und mit konkreten Forderungen dazu zu bringen, endlich das Handeln der Größe des Problems anzupassen. „Wir stehen an einem Kipppunkt“, sagt Dziak-Mahler. Und der Kölner Bildungsaktivist und Mit-Organisator Olaf Wittrock ergänzt: „Wir werden nicht mehr tatenlos zusehen, wie sich die Bildungskrise in diesem Land immer weiter verschärft.“

Wie umfassend das Problem ist, wird deutlich, wenn man die Missstände zusammenträgt. Am gravierendsten ist die Situation ausgerechnet da, wo die Basis gelegt wird und wo man noch alle Kinder gemeinsam erreichen könnte: an den Grundschulen.

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In manchen Schulen können 80 Prozent der Viertklässler nicht richtig lesen

Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung hat ergeben, dass ein Viertel der Viertklässler nicht mehr richtig lesen und selbst einfachen Texten die Informationen nicht mehr entnehmen kann. Ihr schulisches Scheitern ist vorprogrammiert. Das Problem hat zudem die sozial erhebliche Dimension, dass die Kluft zwischen Schulen in Brennpunkten und Schulen in begünstigter Lage immer größer wird. Nach Angaben der Wübbe-Bildungsstiftung erreichten schon vor Corona bei den Vera-Vergleichsarbeiten in Brennpunktschulen bis zu 80 Prozent der Kinder die Mindeststandards im Lesen nicht. Seit Corona hat sich die Lage dort nochmal verschärft. Schulleitungen, die dort arbeiten, sagen, dass sehr vielen Kindern die Basis fehlt, um überhaupt lesen zu lernen, weil sie die Worte gar nicht kennen, die sie lesen sollen. Gleichzeitig sind die Grundschulen die Schulform, die am stärksten unterfinanziert ist. Deutschland gibt nicht mal halb so viel für die Grundschulbildung aus wie Schweden.

Was wird aus einer Gesellschaft, in der jedes Jahr ein Viertel aller Schüler verloren zu gehen droht? „Was viele offenbar nicht begriffen haben: Jedes einzelne dieser Kinder soll bald zwei Babyboomer ersetzen, um dann dauerhaft Wirtschaft und Sozialstaat aufrechtzuerhalten“, schreibt der renommierte Soziologe Aladin El-Mafaalani in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung. Deutschland könne sich nicht leisten, auf nur eines dieser Kinder zu verzichten. Gleichzeitig verhaken sich Bund und Länder seit zwei Jahren in der Debatte, wie die Mittel des Startchancen-Programms der Bundesregierung, das irgendwann eine Milliarde Euro im Jahr an Brennpunktschulen ausschütten soll, verteilt werden sollen und wofür.

Knapp jedes zehnte Kölner Kind hat sonderpädagogischen Förderbedarf

Hinzu kommt, dass fast jedem zehnten Kind, das in Köln die erste bis zehnte Klasse besucht, sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird. Gleichzeitig verlassen schon jetzt jedes Jahr in Deutschland in etwa so viele Jugendliche das Bildungssystem ohne Abschluss, wie in einer mittelgroßen Stadt wie Speyer leben.

Diese Lage trifft auf eine sich zuspitzende Personalknappheit: Allein an den Schulen in NRW sind 6700 Lehrerstellen unbesetzt. Nach Prognosen werden 2030 etwa 160.000 Lehrkräfte fehlen. Gleichzeitig ist in Köln jede zehnte Schulleitungsstelle unbesetzt. In Köln kommt die Tatsache hinzu, dass es nicht genug Schulplätze gibt: Bis 2030 müssten allein im Grundschulbereich noch 25 Schulen gebaut werden, um den Bedarf zu decken. Stattdessen wird nachverdichtet, Mehrklassen eingerichtet, Container auf Schulhöfen aufgestellt.

Es kommt immer mehr dazu, aber es wird nichts weggenommen. So fahren wir das ganze System vor die Wand
Bob Blume, Lehrer und Bildungsinfluencer

Gymnasien und Gesamtschulen ächzen unter immer mehr Bürokratie: „Es gibt immer mehr statt weniger Vorgaben, eng getaktete Lehrpläne, die nie entschlackt werden, obwohl sich alle so danach sehnen. Dazu fehlende Ressourcen durch zu wenig Personal und immer neue Anforderungen. Das System läuft am Limit“, bringt Barbara Wachten, Schulleiterin des Dreikönigsgymnasiums in Bilderstöckchen, die Situation auf den Punkt. Auch Bildungsinfluencer und Lehrer Bob Blume sieht den „Stofffetisch“ als Kern: „Wir sollen die jungen Menschen auf die Berufswelt vorbereiten, Persönlichkeiten aus ihnen machen, kompetenzorientiert unterrichten, digital und integrativ sein. Aber das hat keine Konsequenzen, was den Stoff angeht. Da kommt immer mehr dazu, aber es wird nichts weggenommen. So fahren wir das ganze System vor die Wand.“

Gegen all diese Missstände hat „Bildungswende Jetzt!“ einen Appell mit vier Forderungen an Kanzler Olaf Scholz, die Bundesregierung und die Regierungschefinnen und -chefs der Länder verfasst, den alle 150 Organisationen unterschrieben haben. Sie wollen, dass Bildung Chefsache wird und künftig auch auf Ministerpräsidentenkonferenzen und im Kanzleramt besprochen wird.

Demonstranten fordern einen Bildungsgipfel

Als Auftakt wird ein gemeinsamer Bildungsgipfel gefordert, an dem auch Vertreter aus der Bildungspraxis teilnehmen sollen. Zweite Kernforderung ist eine bessere Finanzierung: Ein Sondervermögen für Bildung von 100 Milliarden Euro – ähnlich der „Bazooka“ in der Corona-Krise – solle aufgelegt werden. Das Geld, so die dritte Forderung, müsse gesteckt werden in eine Ausbildungsoffensive für Lehrkräfte und Erzieher. Außerdem brauche es mehr Geld und unbürokratische Verfahren, um multiprofessionelle Teams an die Schulen zu holen. Viertens fordern die Protestler eine inklusive und zukunftsfähige Bildung: Lehrpläne müssten überarbeitet und mehr Freiräume für intellektuelle, emotionale und soziale Entwicklung geschaffen werden. Bildung für nachhaltige Entwicklung müsse als Lerninhalt verankert werden.

Angesichts der Personal-Mangellage müsse außerdem der Quereinstieg vom Notstopfen zur Normalität werden, findet Dziak-Mahler. „Aber eben nicht notdürftig qualifiziert, sondern mit gesicherter Qualität – begleitet durch die Universitäten.“ Und an den Grundschulen müssten Bezugspersonen eingesetzt werden, die jedes Kind individuell begleiten. Um das alles zu erreichen, soll aus diesem Bildungsprotest eine starke Bewegung werden, die den politischen Druck aufrechterhält. „Eigentlich müssten die Schulen analog zur Anfangszeit von Fridays for Future jetzt jeden Freitag bestreikt werden, um in der Zeit zu diskutieren, wie Schule im 21. Jahrhundert aussehen soll.“

Der Bildungsprotesttag findet für NRW am Samstag, 23. September, in Köln statt. Die Demonstration startet um 13 Uhr auf dem Heumarkt. Dort findet auch um 15 Uhr die Abschlusskundgebung statt, die etwa bis 17 Uhr dauern wird.

Moderiert wird die Veranstaltung von der Journalistin und Schauspielerin Shary Reeves. In Talkrunden werden auf der Bühne die konkreten Probleme beleuchtet. Schülerinnen, Schüler, Studierende berichten über die Folgen der Bildungskrise für ihren Alltag, Vertreter von Lehrkräften zeigen konkrete Probleme auf. Gewerkschaftsvertreter – unter anderem die Bundesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Maike Finnern - formulieren ihre Forderungen. Weitere Impulse kommen von dem bekannten Bildungsinfluencer Bob Blume. Außerdem werden Leuchtturmprojekte gezeigt, die schon jetzt inklusive, zukunftsfähige Bildung realisieren.

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