Belgien macht den Atom-Ausstieg rückgängig. Was bedeutet das für Nordrhein-Westfalen? Der Landtag ist alarmiert.
Atomreaktoren in BelgienWieder Zeit für Jodtabletten in NRW?

Nach dem Rückzieher Belgiens vom einst beschlossenen Atomausstieg pocht die nordrhein-westfälische Landesregierung auf Beteiligungsrechte.
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Ein bewölkter Juni-Tag im Jahr 2017: Der Aachener Atomgegner Robert Borsch-Laaks reiht sich in die 90 Kilometer lange Menschenkette ein, greift fest die Hände seiner Mitstreiter. Mehr als 50.000 Menschen bilden so ein Band zwischen dem belgischen Atommeiler „Tihange“ und der Stadt Aachen. Sie fordern die Abschaltung von zwei umstrittenen, belgischen Reaktoren.
Fast hätten Borsch-Laaks und seine Mitstreiter ihr Ziel mittlerweile erreicht gehabt. Belgien plante den kompletten Atom-Ausstieg ursprünglich bis Ende 2025. Nun sorgt eine Nachricht auch in NRW für besonderes Aufsehen: Das Nachbarland macht den Ausstieg rückgängig. Das belgische Atomkraftwerk „Tihange“ liegt rund 60 Kilometer weit von Aachen entfernt. Im Falle eines Atom-Unglücks hätten Aachener nur wenige Stunden Zeit bis die radioaktive Wolke ihre Stadt erreicht. Bei westlichem Wind bliebe auch Köln nicht verschont. Die Gebiete würden unbewohnbar.
Was bedeutet die belgische Entscheidung für NRW? Mit dieser Frage beschäftigte sich am Donnerstag der Düsseldorfer Landtag in einer aktuellen Stunde. Die Entscheidung, die Laufzeit alter Meiler zu verlängern, wirke „wie ein dunkler Schatten auf eine ohnehin fragile weltpolitische Lage“, sagte die Abgeordnete Norika Creuzmann von den Grünen.
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Aachen und Deutschland forderten Stilllegung
Die zwei belgischen Atommeiler „Tihange“ nahe Lüttich und „Doel“ nahe Antwerpen wurden in den 1970er und 1980er Jahren gebaut und haben in Deutschland immer wieder für Diskussionen gesorgt. Vor allem dann, wenn an den Reaktoren im Nachbarland Mängel festgestellt wurden, etwa marode Betonteile. Unter anderem die Stadt Aachen und die Bundesregierung forderten deswegen in der Vergangenheit wiederholt die Stilllegung.
Die FDP im Landtag forderte die schwarz-grüne Landesregierung auf, beim Nachbarland gegen die Atom-Pläne zu intervenieren. Der Abgeordnete Werner Pfeil warf NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) Untätigkeit vor. Diese habe Tihange einst als „Schrottmeiler“ bezeichnet. „Gilt das nicht mehr, weil sie jetzt Teil der Regierung sind?“ wollte der Liberale wissen.
Die meisten AKW in Europa sind auf eine Betriebsdauer von 30 bis 40 Jahren ausgelegt. Von den 126 Reaktoren, die noch in Betrieb sind, waren 2019 mehr als 90 über 30 Jahre alt, 14 hatten sogar mehr als 40 Jahre auf dem Buckel. Die Sicherheitsanforderungen haben sich seit den 70er Jahren massiv verändert. „Keine dieser Anlagen würde nach heutigen Standards eine Genehmigung bekommen“, sagte Armin Simon, Sprecher der Initiative „Ausgestrahlt“ im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Defekte Pumpe Anfang des Jahres
Risse in zwei Reaktordruckbehältern, maroder Beton - in den vergangenen Jahren fielen die Reaktoren wegen Problemen oder Wartungen immer wieder temporär aus. Im Januar sorgte eine defekte Pumpe für Schlagzeilen: Der Meiler im Atomkraftwerk Tihange, der planmäßig im Oktober für immer vom Netz gehen soll, hatte sich automatisch abgeschaltet. Es bestehe keine Gefahr für Mensch und Umwelt, auch die Versorgungssicherheit sei gewährleistet, beschwichtigte der Betreiber die besorgte Öffentlichkeit.
Eigentlich hatte Belgien ein Atom-Aus bis 2025 bereits vor über 20 Jahren gesetzlich festgelegt. Drei Reaktoren wurden 2023 und Anfang 2025 tatsächlich endgültig abgeschaltet. Zwei weitere sollten Ende dieses Jahres folgen. Doch es kam anders.
Angst vor dem Blackout war groß
Schon im Jahr 2022 beschloss die belgische Regierung, die Laufzeit der Reaktoren Tihange 3 und Doel 4 um zehn Jahre zu verlängern – ein schneller Atom-Ausstieg rückte also in weite Ferne. Die Meiler sollten bis 2035 am Netz bleiben, also weit länger, als geplant. Mit dem Beginn des Ukrainekriegs rückte die Frage der Energiesicherheit in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Die Angst vor einem Blackout war größer als die vor dem Risiko, die alten AKWs weiter laufen zu lassen.
Fraglich bleibt vorerst, ob der politische Wille ausreicht, um die in die Jahre gekommen Anlagen am Netz zu halten. „Das 50 Jahre alte Atomkraftwerk Tihange 1 ist in diesem Alter störungsanfällig wie ein altes Auto mit hunderttausenden Kilometern auf dem Buckel kurz vor dem Ablaufen des TÜV“, sagte NRW-Umweltminister Oliver Krischer unserer Zeitung. Um ein so altes Atomkraftwerk weiter betreiben zu können, brauche „es sehr aufwendige Instandsetzungen“, so der Grüne. Der Betreiber Engie halte den Weiterbetrieb angesichts des Zustands des Atomkraftwerks für problematisch. „Ich bin gespannt, wie die belgische Regierung die Uraltblöcke in wenigen Monaten fit für den Weiterbetrieb machen will“, sagte Krischer. Zudem müsse NRW im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsprüfung an den Planungen beteiligt werden. „Wir werden es nicht zulassen, dass ein Weiterbetrieb mit Rabatten bei der Sicherheit geschieht“, versprach der Politiker aus Düren.
Der Weiterbetrieb der alten Anlagen ist nicht die einzige Sorge der deutschen Atomkraftgegner. In der vergangenen Woche machte die rechtskonservative Regierung von Ministerpräsident Bart De Wever den Weg für den Bau von neuen Reaktoren frei. Eine Entscheidung, die im deutschen Grenzraum auf Unverständnis stößt.
Vor allem 2017 kam es zu großen Demonstrationen. Die NRW-Landesregierung verteilte sogar Jodtabletten unter den Aachener Bürgern. Im Falle eines Unglücks sollen sie vor der krebserregenden Wirkung der radioaktiven Strahlung schützen. „Die Jodtabletten können wir jetzt wieder rausholen“, sagt Robert Borsch-Laaks, der die Initiative „Drei Rosen“ mitgegründet hat. Die Initiative gehörte zu einem Anti-Atom-Bündnis, das unter anderem in Deutschland, Belgien und den Niederlanden über eine halbe Million Unterschriften gegen das Atomkraftwerk Tihange gesammelt hat.
Mit der Aussicht auf Abschaltung von drei Reaktoren war der Widerstand in der Region zuletzt abgeebbt. „Ich möchte nicht ausschließen, dass das Bündnis jetzt wieder erwacht“, sagt Borsch-Laaks. Eine Amtshandlung der Initiative könnte wohl sein, neue Jodtabletten zu besorgen: Die Haltbarkeit der Tabletten, die das Land verteilt hatte, ist nämlich seit 2021 abgelaufen.