Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) spricht von „mafiösen Strukturen“ beim Missbrauch von Sozialleistungen. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat recherchiert, wie sich die Situation in NRW und Köln darstellt.
Sozialleistungsbetrug in NRWDie Abzocke mit dem Bürger- und Kindergeld

In derlei Schrottimmobilien - wie hier in Gelsenkirchen - werden Menschen aus Rumänien oder Bulgarien, die als Tagelöhner nach NRW gelockt würden, häufig untergebracht. Das aufstockende Bürgergeld fließe in einigen Fällen in mafiöse Strukturen
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Sie fahren teure und schnelle Autos von Ferrari, Porsche oder Rolls Royce, tragen schwere Uhren und protzen extrovertiert mit ihrem Reichtum, der oft aus Straftaten resultiert. Trotzdem haben einige Mitglieder einer Leverkusener Großfamilien das Jobcenter nach Strich und Faden belogen, und so unberechtigt Bürgergeld kassiert.
Fast 170.000 Euro, mehr als fünf Jahre, sollten es bei einem Clan-Ehepaar mit vier Kindern gewesen sein, so brachte es die Staatsanwaltschaft Köln im Mai vergangenen Jahres zur Anklage vor dem Landgericht. Dem Sozialamt hatte das nur nach Roma-Sitte verheiratete Paar erklärt, dass es keine Einkünfte, keine Unterhaltszahlungen und kein Vermögen gebe. So sah man sich dort gehalten, die vorgeblich mittellosen Menschen sowie ihre vier Kinder zu unterstützen.
Vater zu vier Jahren Haft verurteilt
Die Ermittler fanden dann aber heraus, dass zumindest der Mann durchaus über ausreichendes Vermögen in Form von Autos, Schmuck und Bargeld verfügte, um seinen Verpflichtungen selbst nachzukommen. Im Gerichtsverfahren, in dem die Beschuldigten ein Teilgeständnis ablegten, konnte jedoch nur ein Teil der Betrugs-Summe nachgewiesen werden. Der Ehemann wurde schließlich zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Frau freigesprochen, es war nicht zu beweisen, dass sie von den Betrügereien wusste.
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Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas sprach unlängst in einem Interview von „mafiösen Strukturen“ beim Missbrauch von Sozialleistungen, die „wir zerschlagen müssen“. Wer nicht genügend Geld verdiene, könne zwar ergänzend Bürgergeld beantragen. „Es gibt jedoch ausbeuterische Strukturen, die Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland locken und ihnen Mini-Arbeitsverträge anbieten“, erläuterte die SPD-Politikerin.
Bundesweit 43.699 Verdachtsfälle beim Bürgergeld-Betrug angezeigt
Die Leute würden im Dutzend „in einem Van abgeholt und als Tagelöhner ausgebeutet". Gleichzeitig würden die Betrüger die Arbeiter dazu anstiften, Bürgergeld zu beantragen, „die staatlichen Mittel dann aber selbst abschöpfen“. Um den Missbrauch einzudämmen, sei vor allem ein besserer Datenaustausch zwischen Finanzämtern, Jobcentern, Familienkassen und Sicherheitsbehörden nötig, so Bas.

Betrüger würden die Arbeiter dazu anstiften, Bürgergeld zu beantragen, „die staatlichen Mittel dann aber selbst abschöpfen“, sagt Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas.
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Es ist schwer abzuschätzen, wie groß das Ausmaß dieser Form des Missbrauchs von Bürgergeld und anderer Sozialleistungen wie Kindergeld ist. Da es sich um ein kommunales Phänomen handelt, liegen keine bundesweiten Zahlen über die Höhe der erschlichenen Zuwendungen vor. Aber die Daten, die insgesamt zum Missbrauch derartiger Leistungen vorliegen, sind besorgniserregend. Die gemeinsam von Bundesagentur und Kommunen betriebenen Jobcenter haben im vergangenen Jahr 43.699 Verdachtsfälle angezeigt. Und die deutschen Familienkassen überprüften 2024 rund 140.000 Verdachtsfälle wegen unrechtmäßiger Kindergeldzahlungen, in mehr als 100.000 Fällen wurden steuerrechtliche Ermittlungsverfahren ausgelöst.
Vor allem Ruhrgebietsstädte sind vom Missbrauch betroffen
Was die Bundesarbeitsministerin lautstark vortrug, steht deshalb als Aufgabe bereits im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Groß angelegter Sozialleistungsmissbrauch im Inland sowie durch im Ausland lebende Menschen muss beendet werden. Einen vollständigen Datenaustausch zwischen Sozial-, Finanz- und Sicherheitsbehörden werden wir ermöglichen“, heißt es in Zeile 524 des Papiers.
In NRW melden insbesondere Kommunen aus dem Ruhrgebiet verstärkt Probleme mit Zuwanderern aus EU-Staaten, vor allem Rumänien und Bulgarien: Dort werden EU-Bürger mit Beschäftigungsverhältnissen in geringem Umfang angemeldet. Zuweilen existieren diese Jobs auch gar nicht.
Weil die EU-Bürger Anspruch auf Aufstockung ihres Einkommens haben, dürfen sie zusätzlich Bürgergeld beziehen. Zum Teil wird die Unterstützung dann an kriminell organisierte und menschenhandelsähnliche Strukturen abgeführt. Über diese Strukturen werden häufig auch Einreise und Unterbringung organisiert.
Angebliche Jobsuche wird zur Zuwanderung in die Sozialsysteme
In Gelsenkirchen verursachen die Regelungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union (EU), die die „Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ erst möglich machten, schon seit langer Zeit „erhebliche Schwierigkeiten“, so Oberbürgermeisterin Karin Welge auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Allzu oft sei die angebliche Jobsuche vor allem eine „Zuwanderung in die Sozialsysteme“.
„Schon wenige Stunden einer Arbeitstätigkeit reichen aus, um ergänzende Sozialleistungen zu beziehen.“ Dies sei zum „Geschäftsmodell“ für Kriminelle geworden, die „vorrangig kinderreiche Familien mit falschen Versprechen nach Deutschland locken, um für sie Sozialleistungen wie Kindergeld zu beantragen und sie in oft menschenunwürdigen Wohnungen zu überzogenen Mieten unterzubringen“, erläuterte Welge.
NRW-Modellprojekt gegen organisierten Sozialleistungsbetrug
Viele der ausgebeuteten Menschen würden dann in ihre Heimatländer zurückkehren, ohne die deutschen Behörden zu verständigen. Von 2014 bis 2023 seien bei Kontrollen allein in Gelsenkirchen 4.500 Personen von Amts wegen abgemeldet und über 600 Fälle von Sozialleistungsmissbrauch aufgedeckt worden.

Mitarbeiter des Projekts MISSIMO bei einer Kontrolle in Duisburg
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Im Kampf gegen den organisierten Sozialleistungsbetrug hat das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt das Modellprojekt „Missimo“ entwickelt. Damit soll insbesondere Kindergeld-Missbrauch von Zuwanderern aus südosteuropäischen EU-Ländern aufgedeckt werden. Im Mittelpunkt steht die behördenübergreifende Zusammenarbeit zwischen der Familienkasse, einer Task-Force im LKA, verschiedenen kommunalen Behörden wie dem Schul-, Einwohnermelde- und dem Gesundheitsamt sowie den Schulen, dem Jobcenter, der Unterhaltsvorschusskasse und der örtlichen Polizei.
In Köln 178 Fälle enttarnt, in denen Kindergeld zu Unrecht kassiert wurde
Erstmalig erprobte Krefeld das Projekt im Jahr 2019. Damals entdeckten die Behörden 83 Familien, die zu Unrecht Kindergeld erhielten. In Wuppertal wurde eine rumänische Bande ausfindig gemacht, die für 96 Kinder Zuwendungen bezog, obwohl diese nicht in Deutschland lebten. Im Oktober vergangenen Jahres wurden bei einer Razzia in einem sozialen Brennpunkt in Duisburg lediglich 600 der 1400 dort gemeldeten Bewohner angetroffen. Die unrechtmäßigen Zahlungen für 59 Kinder wurden anschließend eingestellt, zukünftige Überweisungen von bis zu 1,2 Millionen Euro verhindert.
Auch die Kölner Stadtverwaltung will jetzt an „Missimo“ teilnehmen. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ verzeichnet die Kooperation schon einen ersten Erfolg: 178 Fälle, in denen Kindergeld zu Unrecht kassiert wurde, konnten entdeckt und bewiesen werden.
Jobcenter-Kölner erstattete etwa 500 Strafanzeigen
Für Nadine Spangenberg, seit 2019 Teamleiterin in der Abteilung für Strafverfahren und Ordnungswidrigkeiten im Jobcenter Köln, ist der Kampf gegen Bürgergeld-Betrug längst schon Routine. Im vergangenen Jahr seien in ihrem Bereich „etwa 2000 Vorgänge“ bearbeitet worden, in etwa 1000 dieser Fälle habe es sich um Betrugsvorwürfe gehandelt.
„Und bei etwa der Hälfte dieser Verfahren hat sich der Verdacht dann erhärtet, weshalb wir Anzeige erstattet haben, wobei wir eng mit der Polizei und dem Zoll zusammenarbeiten“, so Spangenberg. Selbstverständlich gehe es bei den Anzeigen gelegentlich auch um „mafiöse Strukturen“, meist aber um Delikte wie etwa Schwarzarbeit.
NRW-Minister: Akzeptanz von Sozialleistungen wird durch Betrüger „ausgehöhlt“.
„Ich weiß nicht, wie mafiös diese Strukturen sind, aber ich weiß, dass wir diese Strukturen haben, und zwar vor allem dort, wo es viele Schrottimmobilien gibt“, sagte der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann auf Anfrage. „Da werden Leute als Kleinst-Jobber nach Nordrhein-Westfalen gelockt, und die werden dann in die Jobcenter geschickt, um aufstockende Bürgergeldleistungen zu beantragen.“ Dies betreffe „fast ausschließlich Menschen aus EU-Ländern, häufig aus Bulgarien und Rumänien“.

NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU): „Da werden Leute als Kleinst-Jobber nach Nordrhein-Westfalen gelockt, und die werden dann in die Jobcenter geschickt, um aufstockende Bürgergeldleistungen zu beantragen.“
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Es sei bekannt, dass diese von den Betrüger-Firmen meist „direkt in ihren Herkunftsländern rekrutiert“ würden. Die „sogenannten Arbeitgeber“ seien „oft gleichzeitig auch Vermieter und bringen die Menschen organisiert in verwahrlosten und überbelegten Schrottimmobilien unter“, so der Minister. Die Kommunen hätten deshalb Taskforces gebildet, „um die Problem-Immobilien zu überprüfen und Sozialleistungsmissbrauch durch Scheinanmeldungen, gefälschte Dokumente oder Überbelegung zu vermeiden“.
Mit gefälschten Anmeldepapieren 733.000 Euro erbeutet
Auch das Land habe Beratungsstellen eingerichtet, an die sich Arbeitnehmer, die von Arbeitsausbeutung betroffen sind, wenden können. Die Ermittlungen seien zwar „oft sehr langwierig“, weil die Arbeitgeber und Vermieter „meist im Graubereich agieren“, sagte Laumann: „Aber wenn wir da nicht rangehen, würde es die Akzeptanz für die Grundsicherung immer mehr aushöhlen.“
Charakteristisch für die gesamte Zuwanderung aus den Staaten Rumänien oder Bulgarien ist diese Betrugsmasche aber sicherlich nicht. So waren im Februar 2025 rund 685.000 Staatsangehörige aus diesen beiden Ländern in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zahlten in das deutsche Sicherungssystem ein. Aber schon einzelne Betrüger haben in nordrhein-westfälischen Kommunen einen enormen Schaden verursacht.
Im April 2022 beispielsweise verurteilte das Landgericht Köln rumänische Angeklagte, weil sie mit gefälschten Meldepapieren 733.000 Euro erbeutet hatten. In einem weiteren Fall wurden jahrelang 5200 Euro monatlich für eine angeblich zehnköpfige Familie gezahlt. Mit falschen und unterbliebenen Angaben seien so insgesamt 462.000 Euro Sozialhilfe und Krankenkassenbeiträge erbeutet worden.