Alle Corona-Regeln abgeschafftKann der dänische Weg auf Dauer gut gehen?

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Dänemark Corona

Vor allem junge Dänen in Großstädten genießen die Rückkehr ins Partyleben.

Kopenhagen – Es wird voll werden, das ist schnell klar, es kommen immer noch mehr. Kellermensch sind eine dänische Rockband, vor allem für ihre Konzerte sind sie bekannt, und an diesem Abend spielen sie zum ersten Mal wieder in Kopenhagen, im großen Saal des Musikclubs Vega im sehr angesagten Stadtteil Vesterbro, westlich vom Hauptbahnhof.

Also strömen die Fans hierher, Luise, 46 Jahre alt, die erzählt, wie sie vor der Pandemie mindestens einmal in der Woche zu Konzerten ging. „Das gehörte zu unserem Leben dazu“, sagt sie. Dann war das einfach weg.

Oder Henrik, Konzertfotograf, ein eher klein gewachsener Mann mit zum Zopf geflochtenem Vollbart, dessen sichtbare Fröhlichkeit darin begründet liegt, dass er an diesem Abend frei hat und einfach die Musik genießen will. Und Corona? Er ist geimpft? Nein, sagt Henrik, er sei bislang nicht dazu gekommen. „Nächste Woche“, versichert er, „da ganz sicher!“ Aber danach fragt an diesem Abend hier auch nur der Journalist, es gibt keine Kontrollen mehr, jeder und jede kann rein, Schlangen gibt es nur noch vor der Garderobe.

Die Welt ist wieder die alte

Als das Konzert beginnt, ist es tatsächlich voll. Auf der Bühne, weil zur Band auch drei Streicher gehören, zu acht stehen sie da. Und vor der Bühne 1500 Besucher. Die Band hat einige Hits mit Refrains, die viele gern und laut mitsingen. Es wird getanzt, gesprungen, und wer steht, der tut es dicht an dicht, in immer dichterer Luft. Wer Abstand sucht, wird ihn hier nicht finden. Und Masken? Trägt niemand. Am Eingang stehen Spender mit Desinfektionsmitteln für die Hände. Ansonsten ist es ein Konzert, als hätte es Corona nie gegeben.

Willkommen in der neuen dänischen Realität, in der die Pandemie, bis auf Weiteres jedenfalls, beendet ist. Seit dem 10. September hat Covid-19 hier nicht mehr den Status einer gesellschaftlich bedrohlichen Erkrankung, was vor allem eines bedeutet: dass hier die letzten Einschränkungen gefallen sind. In Clubs und Konzerthäusern muss keiner mehr einen Corona-Pass vorlegen. Wer aus Deutschland im Zug über die Grenze fährt, sieht, wie kurz vor Padborg die Masken wie von Zauberhand gezogen aus den Gesichtern sinken.

Wenig übriggeblieben 

In der Kopenhagener Metro, in Supermärkten, in Museen, überall ist der Mund-Nasen-Schutz, Symbol dieser Pandemie, aus dem öffentlichen Bild praktisch verschwunden. Man muss es nicht mehr – also trägt ihn auch praktisch niemand mehr. Geblieben sind die Desinfektionsspender, die verblassenden roten Abstandspunkte vor den Kassen der Supermärkte, aber sonst: nicht viel.

Die Welt wirkt fast wieder so wie vor dem Virus. Für den geimpften Besucher aus Deutschland ist das eine anfangs irritierende, dann äußerst befreiende Erfahrung.

Die Frage ist nur: Kann das wirklich gut gehen?

Statens Serum Institut ist die dänische Entsprechung des deutschen Robert Koch-Instituts, es liegt südöstlich der Kopenhagener Innenstadt auf der Insel Amager. Tyra Grove Krause ist die Vizepräsidentin der Behörde, zur Begrüßung gibt sie die Hand. Das, sagt sie lächelnd, gehöre in Dänemark jetzt wieder dazu.

Dänemark war nie so unverbindlich wie der nördliche Nachbar Schweden in Bezug auf die Pandemie, es gab zwei Phasen sehr strenger Maßnahmen, mit denen das Land schneller als zum Beispiel Deutschland reagierte. Die Zuversicht jetzt hat mehrere Gründe.

Da ist zum einen die Gewissheit, es sehr schnell mitzubekommen, wenn die Situation kippt. Jeder hat eine Personennummer, die man etwa angibt, wenn man einen der weiter kostenlosen Tests macht. Krauses Behörde hat darauf jederzeit Zugriff – und weiß sofort, wo der- oder diejenige arbeitet, wohnt, kennt Impfstatus, Herkunft und so weiter. Kein Traum für Datenschützer, aber ein Segen für Epidemiologinnen. „Wir sind für die digitale Überwachung sehr gut aufgestellt“, sagt Krause. „Und wir können sehr schnell umsteuern.“

Ein weiterer Grund sind die großen Testkapazitäten, 200 000 PCR- und 500 000 Antigentests sind täglich möglich. „Wir können die ganze Bevölkerung binnen einer Woche testen“, sagt Krause.

Vertrauensbonus für Behörden

Was die neue Freiheit aber vor allem möglich macht, ist die hohe Impfquote. Mit einem Blick in den Computer checkt Tyra Grove Krause das tägliche Update, demnach sind 73,7 Prozent der Dänen vollständig und 75,8 Prozent mindestens erstgeimpft. Bei den über 50-Jäh ri gen sind sogar 94,4 Prozent doppelt geimpft. Ein Ergebnis, für das es bislang weder Zwang noch Bratwürste brauchte. Es ist vor allem dem „hohen öffentlichen Vertrauen in die Behörden“ zu verdanken, wie Krause konstatiert.

Heißt: Wenn sie eine Impfung empfiehlt, dann glauben die meisten erst mal, dass es gut ist. Es gibt auch hier Querdenker, sie hier heißen Men in Black. Es sind nur nicht so viele. Und sie finden nicht so viel Gehör. Anfeindungen, wie ihre deutschen Kollegen, haben auch die dänischen Seuchenschützer erfahren. Einmal, erinnert sich Krause, habe die Polizei ihnen empfohlen, für den Weg zu einem Meeting lieber das Auto zu nehmen, statt wie sonst mit dem Fahrrad zu fahren. Aber das sei es dann auch gewesen.

In Dänemark hat das nun zu einer entspannten Situation in den Kliniken und einer Inzidenz von unter 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen geführt, Tendenz fallend. Aber auch dazu, dass die Epidemiologin Krause jetzt vermehrt auf andere Viren schauen muss. Auf die gerade für kleine Kinder nicht ungefährlichen RS-Viren vor allem, von denen sie jetzt, nach einem Jahr Pause, ungewöhnlich früh ungewöhnlich viele Fälle sehen, viel mehr als sonst, „eine negative Nebenwirkung der Restriktionen“. Vorsichtshalber hat Dänemark mehr Influenza-Impfstoff als je zuvor. „Wir schauen durchaus besorgt auf den Winter“, sagt Krause. Corona ist da aber nur noch ein Grund unter mehreren.

Abschlussfest der Pandemie

Für den Alltag an den Schulen aber bedeutet das vor allem, dass er deutlich entspannter ist als in Deutschland. Eine, die das gut vergleichen kann, ist Svenja Kuhfuss. Die 55-Jährige unterrichtete bis zum Sommer noch in Baden-Württemberg, seit dem 1. August ist sie Direktorin der Sankt-Petri-Schule, der ältesten deutschen Auslandsschule, gelegen an der gleichnamigen Kirche im Kopenhagener Innenstadtviertel Norrebrø.

Gut 600 Kinder gehen hier zur Schule, sie selbst hat eine sechste und zehnte Klasse. Ihr Eindruck ist vor allem dieser: „Ich habe nicht das Gefühl, dass Angst vor Covid hier ein Thema ist.“ Und: „Ich empfinde es als sehr angenehm, dass wir hier ein Stück Normalität in der Schule haben.“ Abstand, Masken, auch hier gibt es beides nicht mehr.

Dabei ist das Virus nicht verschwunden. Gerade gab es in einer fünften Klasse vier positive Fälle. Die Regeln sehen dann Tests für die ganze Klasse, Quarantäne aber nur für die Infizierten vor. Demnächst soll es wieder regelmäßige Tests für die unter Zwölfjährigen geben, die noch nicht geimpft werden können. Doch vor allem holen die Kinder jetzt erst einmal nach, was im letzten Jahr dem Virus zum Opfer fiel.

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So feiert die Schule am nächsten Tag Oktoberfest auf dem Schulhof an der alten Kirche, 600 Kinder mit ihren Eltern, es gibt Bratwurst, Tänze, Bier, Sackhüpfen, auch so eine Tradition, die 2020 nicht gelebt werden konnte. Jetzt ist es unerwartet so etwas wie das Pandemieabschlussfest.

Und wie schaut man als Eltern von Kindern, die noch zu jung fürs Impfen sind, auf das Ende aller Maßnahmen? Sie hoffe, dass ein paar Lehren aus der Corona-Zeit bleiben, sagt Irina Bernstein, deren Kinder fünf, zehn und 13 sind, das Händewaschen zum Beispiel, etwas mehr Abstand. „Aber es ist schon eine große Freude, dass wir das nun wieder tun können“, sagt sie und blickt hinüber zu den Feiernden. „Meine Kinder haben schon vergessen, dass die Schule geschlossen war. Eigentlich ist Corona bei uns kein Thema mehr.“

Nur gibt es eben auch in Dänemark selbst trotz aller Zuversicht auch noch einen Rest an Zweifel, ob dieser Weg wirklich sicher durch den Winter führt. Auch in Dänemark kennt man das Beispiel Israel, den frühen Impfweltmeister, der längst wieder gegen einen neuen Lockdown ankämpfen muss. Auch Dänemark ist von seinem eigenen Ziel 90 Prozent Impfquote noch weit entfernt. Auch hier ist die Impfkampagne ins Stocken geraten.

Ein Kreis schließt sich

Und so steht Mogens Pedersen an diesem verregneten Freitagnachmittag vor der Tür des Familienzentrums im Sozialviertel Mjølnarparken und ruft jedem freundlich zu: „Schon geimpft?“

Mogens ist 71, Rentner, aber für den Kampf gegen Corona hat er sich reaktivieren lassen. Anfangs hat er Corona-Kranke gepflegt, ist dann selbst schwer erkrankt. „Hier, beim Werben für die Impfung, schließt sich für mich der Kreis.“ Auch die Behörden gehen mit ihren Pop-up-Impfzentren schon seit Monaten dorthin, wo die Impfquoten am niedrigsten sind: in die ärmeren, migrantisch geprägten Viertel. Mogens hat durchaus Erfolg. Ein älterer Herr holt sich die dritte Impfung, eine Studentin die erste. Ein Vater lässt seine Tochter impfen. „Das Beste für sie“, sagt er und lacht.

Ob das alles genügt, um weitere Lockdowns im nahenden Winter zu vermeiden? Mogens Pedersen, früher als Armee-Gesundheitsexperte bei der Ifor-Mission im Einsatz, hat vor Kurzem ein Zitat gehört, das ihm gefällt. „Wir haben die Waffen gegen das Virus in den Schrank gehängt“, sagt er. „Aber die Türen haben wir sicherheitshalber offen gelassen.“

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