Spenderlunge in Corona-ZeitenWie es sich anfühlt, drei Leben geschenkt zu bekommen

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Franziska Liebhardt war dem Tod schon mehrmals sehr nahe.

Franziska Liebhardt war dem Tod schon mehrmals sehr nahe.

  • Ausgerechnet während der Corona-Krise versagte die erste Spenderlunge von Franziska Liebhardt, 38 Jahre alt.
  • Die Paralympics-Olympiasiegerin im Kugelstoßen, die an einer Autoimmunkrankheit leidet, kämpfte gegen den Tod. Wieder einmal.
  • Eine Geschichte von Kraft, Willen und Zuversicht. Und über die Wichtigkeit von Organspenden.

Ein Marienkäfer vertrieb die Angst vor dem Tod. Er fiel aus ihrer Hose und ließ Franziska Liebhardt fest daran glauben, dass es schon klappen würde mit ihrem dritten Leben. Ihr zweites, gut zehn geschenkte Jahre, in denen die Würzburgerin Paralympics-Siegerin im Kugelstoßen wurde, die Welt bereiste und sich als Vortragsrednerin einen Namen machte, hatte sich in den Monaten zuvor unwiderruflich dem Ende genähert. Franziska Liebhardt ging die Luft aus, wortwörtlich.

Und das schon zum zweiten Mal. Die Lunge einer tödlich verunglückten Motorradfahrerin, die sie 2009 vor dem Tod rettete, funktionierte immer weniger wie sie sollte. Chronisches Transplantatversagen nennen das die Ärzte. Die 38-Jährige brauchte zuletzt rund um die Uhr Sauerstoff. Körperpflege und Haushalt schaffte sie nicht mehr allein. Das Coronavirus bedrohte ihr Leben zusätzlich. Sie war in häuslicher Schutzquarantäne, durfte nicht raus und die Menschen, die sie lieben, durften nicht zu ihr rein. Franziska Liebhardt sah dem Tod ganz allein entgegen.

„Es gab erst die Befürchtung, dass durch Corona weniger transplantiert wird und am Ende vielleicht die Zeit nicht reicht“, schreibt sie auf Nachfrage dieser Zeitung. Doch es ging alles gut. Nur lange sprechen mag sie noch nicht wieder. Die sechsstündige Operation im Transplantationszentrum der Medizinischen Hochschule Hannover ist erst knapp vier Wochen her.

Liebhardt übt jetzt in einer Rehabilitationsklinik eifrig das freie Gehen, Treppensteigen, Fahrradfahren. Sie will zurück in ihr altes Leben, selbstständig sein und aktiv. Ihre Familie und ihre Freunde konnten in der schweren Zeit körperlich nicht bei ihr sein. Doch eine liebevolle psychische und emotionale Unterstützung funktioniere auch digital, betont Liebhardt. Inzwischen war ein erstes Treffen mit den Geschwistern möglich, draußen und mit viel Abstand.

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Der ersehnte Anruf kam am Gründonnerstag um 22.30 Uhr. Sieben Monate hatte Liebhardt darauf gewartet. Hatte gehofft und um ihr Leben gebangt. Seit dem 13. September 2019 stand sie wieder auf der Warteliste für eine Transplantation.

Sie leidet an einer „undifferenzierten Kollagenose“, einer unheilbaren Autoimmunerkrankung, die zunehmend ihre Organe schädigt. Ihre Nieren waren stark betroffen, sie lebt mit einem gespendeten Organ ihres Vaters. 2009 versagte auch ihre eigene Lunge. Sie lag bereits im künstlichen Koma, war eingeschlafen ohne zu wissen, ob rechtzeitig ein Spenderorgan für sie gefunden werde, ob sie je wieder aufwachen würde. Es war dramatisch. Ihr Leben ging damals in die Verlängerung, weil irgendwo im Land eine andere junge Frau starb.

Liebhardt erhielt „das größte Geschenk, das einem ein anderer Mensch machen kann“. So beschreibt sie es. „Für mich sind die Spender und ihre Familien Helden. Obwohl ich sie nicht kenne, trage ich sie immer voller Dankbarkeit in meinem Herzen.“ Als Liebhardt sieben Jahre nach der ersten Lungen-Transplantation in Rio bei den Paralympischen Spielen die oberste Stufe des Siegertreppchens betrat, habe sie das Gefühl gehabt, „da steht noch jemand neben mir, dem ich dieses Glück verdanke“.

Liebhardt als Para-Sportlerin in Rio

Liebhardt als Para-Sportlerin in Rio

Im vergangenen Jahr verschlechterten sich allerdings ihre Lungenfunktionswerte. „Zunächst habe ich davon rein körperlich lange nichts bemerkt“, schreibt sie. Sie hatte ihre geschenkte Lunge gehegt und gepflegt, ihre Funktion mit sportlichem Training auf ein sehr hohes Niveau gebracht für ein transplantiertes Organ.

Doch nun half das alles nicht mehr. „Man kämpft jahrelang um dieses Organ, tut alles dafür, dass es lange funktioniert. Und nach über zehn guten Jahren wird man tatsächlich ein bisschen naiv. Man glaubt, jetzt passiert mir nichts mehr“, erzählt Liebhardt.

Doch die Luftnot kehrte zurück. Die Lunge, die ihr Lebenserfahrungen ermöglicht hatte, die sie als „emotionalen Schatz“ bezeichnet, „den mir niemand mehr nehmen kann, komme was wolle“, versorgte sie nicht mehr mit genügend Sauerstoff. „Es tut einfach verdammt weh, so ein treues, tüchtiges Organ dann doch wieder zu verlieren“, schreibt Liebhardt.

Der Anruf am Gründonnerstag war zunächst nicht mehr als ein Hoffnungsschimmer. Es gebe möglicherweise ein passendes Organ, sagte ihr der Arzt. Liebhardt zog sich um, der Marienkäfer fiel aus ihrer Hose, aus leiser Hoffnung wurde Zuversicht. Ein Krankenwagen brachte sie von Würzburg nach Hannover. Sie wurde rasiert und desinfiziert. Zunächst nur prophylaktisch. Denn: „Da stand noch gar nicht fest, ob das Organ tatsächlich passt.“

Als sie in Würzburg abgeholt wurde, waren Chirurgen aus Hannover unterwegs zum potenziellen Organspender. Als Liebhardt auf die OP vorbereitet wurde, entnahmen die Ärzte die Lunge des verstorbenen Spenders und prüften ihre Verwendbarkeit. Erst dann erhielt Liebhardt die Nachricht, dass die OP stattfinden könne.

Ob die Lunge funktioniere, ob sie selbst nach der Operation wieder aufwachen würde, konnte ihr niemand sagen.

Franziska Liebhardt ist ausgebildete Kinder-Physiotherapeutin. Doch ihre Autoimmunerkrankung hat auch motorische Einschränkungen zur Folge, deshalb konnte sie zuletzt nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten. Langweilig wurde Liebhardt trotzdem nicht. Das ist nicht ihre Art. Sie packt die Dinge an. Fuchst sich hinein. Überzeugt mit Engagement. 2013 zog sie nach Leverkusen, um sich dort unter Trainerin Steffi Nerius so professionell wie möglich auf die Paralympischen Spiele vorzubereiten. Das gelang, sie holte Kugelstoß-Gold.

Weltrekord bei den Paralympics in Rio de Janeiro: Franziska Liebhardt am 13. September 2016 im Olympiastadion

Weltrekord bei den Paralympics in Rio de Janeiro: Franziska Liebhardt am 13. September 2016 im Olympiastadion

Seither ist sie als Vortragsrednerin gefragt. Und kämpft in den Vereinen „Sportler für Organspende“ und „Kinderhilfe Organtransplantation“ für bessere Bedingungen in Sachen Organspende. „Die Situation in Deutschland ist nach wie vor ziemlich katastrophal“, betont Liebhardt.

Dass der Bundestag die Einführung der Widerspruchslösung (siehe Infokasten) im Januar 2020 abgelehnt hat, ärgert die Würzburgerin sehr: „Das allein wäre keine Lösung für das Organspendeproblem in Deutschland gewesen. Aber es hätte zu einer neuen Organspende-Kultur in unserem Lande beitragen können. Dazu, dass Organspende etwas Selbstverständliches wird und Organspender die ihnen gebührende Anerkennung erfahren.“

Für potenzielle Empfänger einer Organspende gelte: „Man wird quasi einmal auf links gedreht“, schreibt Liebhardt. Viele Tests müssten bestanden werden, um als geeigneter Organempfänger eingestuft zu werden. Körperliche genauso wie psychologische. Man müsse den Ärzten beweisen, dass man in der Lage ist, sich an die Regeln zu halten, Kontrolltermine wahrzunehmen, Medikamente zuverlässig einzunehmen. „Man muss bereit sein, um sein Leben zu kämpfen und die Verantwortung für ein Spenderorgan zu übernehmen.“

Franziska Liebhardt ist bereit. Sie hat es einmal bewiesen. Und sie wird sich auch um ihre neue Lunge mit aller gebotenen Demut kümmern. „Ich kann schon wieder ganz gut durchatmen“, schrieb sie zuletzt. „Ich habe zum zweiten Mal dieses große Geschenk bekommen, das ist in Deutschland wirklich nicht selbstverständlich. Das empfinde ich als ganz großes Glück. Ich werde mein Bestes geben, damit dieses geschenkte Leben wieder viele Jahre erhalten bleibt.“

Sie war dem Tod so nah. Zum zweiten Mal. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie kann Liebhardt ihre Familie und ihre Freunde nur eingeschränkt sehen. Sie weiß nicht, wie lange sie diesmal genug Luft zum atmen haben wird. Und doch schreibt sie mit so viel positiver Energie: „Ich lebe im Hier und Heute. Jetzt geht es mir gut, jetzt genieße ich es. Ich schiebe nichts mehr auf, ich versuche, keine Zeit zu vergeuden.“

Und die Angst, wie hält sie die fern, wenn gerade kein Marienkäfer zur Stelle ist?

Hier zitiert Franziska Liebhardt die niederländische Widerstandskämpferin Corrie ten Boom: „Sich sorgen nimmt dem Morgen nichts von seinem Leid, aber es raubt dem Heute seine Kraft.“

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