Jugendforscher kritisiert„Privilegierte Jugendliche leben wie die Maden im Speck“

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Junge Aktivistinnen bei einer Demo von Fridays for Future 

Herr Heinzlmaier, vor gut zwei Jahren habe ich Sie schon einmal interviewt, damals, es war März, stand der erste bundesweite Streik von Fridays for Future an. Sie prognostizierten damals, dass der Protest noch etwa bis zu den Sommerferien weitergehen und danach abebben würde. Das Gegenteil ist der Fall – die Klimabewegung ist immer noch da und größer als zuvor. Wie erklären Sie sich das?

Heinzlmaier: Nun, die ökonomischen und politischen Interessen, die hinter dem Thema stecken, sind doch stärker als ich damals angenommen habe. Man darf nicht vergessen, dass eine ganze Klima-Industrie dahinter steht, etwa die alternative Energiewirtschaft – von Windenergie bis Photovoltaik. Die sind natürlich daran interessiert, dass die Nutzung der fossilen Energien beendet wird. Auch in der Wissenschaft geht es um Fördergelder in Milliardenhöhe.

Außerdem habe ich unterschätzt, welchen Einfluss diese jungen Menschen aus den oberen Gesellschaftsschichten auf ihre Eltern, Verwandten und die Medien haben. Da geht es um mächtige, privilegierte Gesellschaftsgruppen, die überall ihre Fürsprecherinnen und Fürsprecher sitzen haben.

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Das heißt, hinter dieser Jugendbewegung stecken wirtschaftliche Interessen?

Ja, wirtschaftliche Interessen und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Man muss auch bedenken, dass 70 bis 80 Prozent der Lehrerschaft sehr ökologisch eingestellt ist und hinter diesen Protesten steht. Oft werden die Schilder, mit denen die Jugendlichen durch die Straßen ziehen, ja sogar im Unterricht gemalt. Da manifestiert sich eine Macht, die nicht zu unterschätzen ist.

Zur Person

Foto: Wilke, 1010 Wien

Professor Bernhard Heinzlmaier ist seit über drei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig. Er ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung mit Sitz in Wien und Hamburg. Hauptberuflich leitet Heinzlmaier das Marktforschungsunternehmen „tfactory“ in Hamburg. Heinzlmaier hat verschiedene Bücher im Bereich der Jugendkulturforschung veröffentlicht.

Aber Fridays for Future ist doch schon eigentlich eine Bewegung vor allem von jungen Menschen?

Ja, aber eben von privilegierten, jungen Menschen. Von Studierenden, Akademikern, Gymnasiasten. Es ist eine Oberschicht-Bewegung. Studien zeigen, dass junge Arbeitnehmer, Auszubildende und Kinder aus den unteren Sozialschichten dort fast gar nicht mitmachen. In Österreich haben wir eine Studie gemacht mit dem Ergebnis, dass 50 Prozent der mittleren und unteren Bildungsschicht gar nicht wussten, was das ist, Fridays for Future. Und wenn man es ihnen dann erklärt hat, sagten sie, es interessiert sie nicht.

Mittlerweile engagieren sich auch immer mehr Erwachsene in der Bewegung, viele bewerten den Klimawandel als eines der drängendsten Themen unserer Zeit. Ist das Thema jetzt in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Nein. Es ist die Bewegung der Privilegierten. Was wir in unseren Studien sehen, ist, dass sich die Mitte der Gesellschaft immer mehr aus der Politik zurückzieht, weil sie sich von ihr nicht verstanden und gehört fühlt. Wir haben überall in Europa sinkende Wahl-Beteiligungen. Eine interessante Studie des Allensbach Instituts hat herausgefunden, dass zwei Drittel der Deutschen Angst haben, ihre Meinung zu äußern, weil sie sich von dieser links-grünen Hegemonie unter Druck gesetzt fühlen und fürchten, in den sozialen Medien bedrängt zu werden.

Welche politischen Themen beschäftigen die jungen Menschen denn am meisten, worüber machen sie sich Sorgen?

Da muss man auch wieder unterscheiden zwischen der studierenden Jugend und der arbeitenden Jugend. Die privilegierten Jugendlichen leben wie die Maden im Speck: Wenn sie nicht das Weltklima retten, dann sind sie auf Weltreise. Die dürfen lange Selbstfindungsphasen haben, ewig im Bildungssystem verweilen. Die anderen aber, die müssen arbeiten, das hat man jetzt doch auch während Corona gesehen: Nur 25 Prozent der Menschen konnten Homeoffice machen, die anderen müssen raus, ob sie im Handel oder  im Gesundheitswesen arbeiten oder den Privilegierten das Essen an die Haustür bringen. Das sind die jungen Menschen, die wirklich unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. Die haben so viel mit ihren materiellen Problemen zu tun, damit ihre Miete zu bezahlen oder einen Arbeitsplatz zu finden, dass sie sich gar keine Gedanken um abstrakte Probleme wie das Weltklima machen können. Aber um diese jungen Menschen kümmert sich niemand. Laut einer unserer Studien haben fast 70 Prozent der Jugendlichen das Gefühl, nicht von der Politik gehört zu werden. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn die am Ende des Tages nicht mehr wählen gehen oder ihre Stimme der AfD geben. Das ist sehr kurzsichtig.

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Wie gewinnt man diese 70 Prozent junge Menschen denn zurück? Wie schafft man es, dass sie sich politisch wieder interessieren und auch gehört werden?

Man muss ihre materiellen Interessen berücksichtigen und befriedigen. Da geht es um ganz banale Dinge, um leistbare Mieten, um höhere Löhne, um Arbeitsplätze, um gerechte Ausbildungschancen. Das sind die großen Fragen, die diese Menschen interessieren. Das heißt, man müsste sich überlegen, eine andere Steuerpolitik zu machen. Wir brauchen Geld, um unsere weniger privilegierten Gesellschaftsschichten entsprechend zu unterstützen. Man muss die Grundbedürfnisse der Menschen wieder mehr in der Politik repräsentieren und dann kann man vielleicht auch die, die jetzt außen stehen, wieder reinholen.

Aber ist es nicht gerade gut und vorbildlich, wenn die privilegierten jungen Menschen, die die Mittel dazu haben, sich dafür einsetzen, dass sich etwas verändert? Unter den Auswirkungen der Klimakrise haben ja schließlich alle zu leiden.

Natürlich sind von diesen Gefahren alle betroffen – Privilegierte wie Unterprivilegierte. Es ist ja auch völlig richtig, sich für Klimaschutz zu engagieren und Lösungen dafür zu suchen. Mein Anliegen ist nur: Niemand kümmert sich um die immer größer werdenden Probleme der unterprivilegierten Schichten – und alle tun so, als würde die wachsende soziale Ungerechtigkeit gar nicht existieren.

Wie steht es denn generell um das politische Interesse von Jugendlichen? Lange wurde Ihnen ja vorgeworfen, unpolitisch zu sein.

Die Zahlen der Shell-Studie zeigen, dass es wieder ein neues Interesse an Politik und an gesellschaftlichen Fragen gibt und dass auch das Interesse, sich zu beteiligen, wächst. Lange Zeit war das Desinteresse groß, jetzt sehen wir wieder positive Zeichen. Aber wie gesagt, man muss genau hinschauen: Wer ist es, der sich beteiligt und wer sind die, die weiterhin außen vor bleiben?

Ich habe drei junge Aktivistinnen und Aktivisten getroffen, die sich alle eher im linken Spektrum engagieren. Gibt es auch Jugendliche, die konservativ denken?

Die Mehrheit der deutschen Jugendlichen ist, was die Werte betrifft, nicht links. Über 70 Prozent sind stolz darauf, Deutsche zu sein. Man hat eine starke Bindung an die Region, an die Geschichte, die Werte und die Kultur des Landes. Dieser Trend hat sich in den vergangenen Jahren sehr verstärkt. Auch die Bindung an traditionelle Werte wie Sparsamkeit, Sicherheit, Ordnung und Familie spielen wieder eine große Rolle. Wir beobachten so etwas wie eine Retraditionalisierung. Viele junge Menschen suchen etwas, das ihnen Halt gibt.

Lassen Sie uns über Parteien sprechen: Die Studien zeigen auch, dass die Protest-Bewegungen der Jugendlichen zwar zugenommen haben, aber immer weniger junge Menschen sich in Parteien engagieren.

So ist es. Die Leute, die bei Fridays for Future mitmachen, sehen nicht automatisch einen Sinn darin, sich in einer Partei zu engagieren. Anders als bei den 68ern, die sich einen Marsch durch die Institutionen vorgenommen hatten, heißt politische Beteiligung für die Jugendlichen von heute, sich einer Bewegung anzuschließen. Diese akademischen Rebellen wollen nicht durch Leute aus dem System in eine angepasste Richtung gelenkt werden, sie wollen sich nicht reinreden lassen, sie  wollen ihr Ding machen.

Kann man Ihrer Meinung nach denn ohne in einer Partei zu sein überhaupt etwas verändern?

Es geht nur über diese Bewegungen. Ich persönlich glaube, dass die Parteien Auslaufmodelle sind und es so kommen wird wie in Italien: die alte Parteienlandschaft wird immer weiter zerfasern. Über die institutionelle Politik können die jungen Leute sich kein Gehör verschaffen. Die müssen das so machen, wie Fridays for Future es vormachen: Auf die Straße gehen, streiken, blockieren. Ohne den Druck der Straße geht gar nichts. 

Aber die Entscheidung wird ja dann doch von der Regierung getroffen.

Ja, aber man muss die Regierung permanent unter Druck setzen. Ohne den Druck aus der Bevölkerung wäre meiner Meinung nach kein Atomausstieg möglich gewesen. Es wird auch keinen Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energien geben, wenn der Druck der Bevölkerung nicht da ist. Politik funktioniert ja nur noch auf der Diskurs-Ebene, aber zum wirklichen Handeln muss man die Politikerinnen und Politiker zwingen. Und das geht  meiner Meinung nach nur über ständiges Unruhestiften.

Trotzdem sollte man wählen gehen. Wie steht es denn um die Wahlbeteiligung der jungen Menschen?

Prinzipiell gibt es bei den jungen Wählern und Erstwählern eine hohe Bereitschaft, zu wählen. Die meisten wollen ihr demokratisches Wahlrecht nutzen. Wobei man sagen muss: Je mehr man in den Bereich der prekären Lebensverhältnisse kommt, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Trotzdem sind es vor allem  die Älteren, die sich enthalten. Die jungen Leute haben eher das Problem, für wen sie stimmen sollen. Die Privilegierteren wählen tendenziell eher die grüne Partei, die Unterprivilegierten eher rechts oder konservativ.

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