Junge, politische Aktivisten„Ich habe das Gefühl, gegen eine Wand zu schreien“

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Leonie Jöster von Fridays for Future Köln 

Köln – Es sind nicht einmal zehn Minuten, doch sie verändern Leben: Drüben, in den USA, beenden sie eines, als ein weißer Polizist sein Knie knapp zehn Minuten lang auf den Hals des schwarzen US-Amerikaners George Floyd drückt – und ihn so tötet. Hier, in Deutschland, machen sie aus einer bis dato unpolitischen jungen Frau eine Aktivistin. „Ich war zwar schon immer ein Mensch, der anderen gerne geholfen hat, aber ich habe niemals daran gedacht, mich ehrenamtlich zu engagieren“, sagt Wandi Wrede.

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Wandi Wrede hat die "We see you"-Demo in Köln organisiert.

Der knapp zehnminütige Todeskampf von George Floyd, auf Video gebannt und im Internet für jede und jeden sichtbar, verändert alles für die 24-Jährige. „Ich habe das Video auf der Arbeit gesehen. Ich saß da in meiner Bucht im Callcenter, ich hab angefangen zu weinen und bin  zusammengebrochen.“

Abends trifft sich Wandi Wrede mit ihrer Cousine und einer gemeinsamen Freundin. „Und dann saßen wir da mit unseren Emotionen und haben gesagt: Wir müssen was machen, wir müssen aufstehen, rausgehen und zeigen, dass es nicht in Ordnung ist, was da gerade in der Welt passiert.“

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15.000 kommen zur Demo an die Deutzer Werft

Die drei planen für den 6. Juni 2020 eine kleine Kundgebung in Köln. Auf 50 Mitstreiterinnen und Mitstreiter hoffen sie. Sicherheitshalber melden sie für die „We see you“-Demo an der Deutzer Werft 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an. Man weiß ja nie. Schließlich kommen etwa 15 000 Menschen, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren. „Das war mehr als krass“, sagt  Wandi Wrede heute, ein Jahr später. „Ein Tag, den ich so schnell nicht vergessen werde.“ 

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15.000 Menschen kamen am 6.6.2020 zur "We see you"-Demo

Wredes Geschichte klingt wie ein ziemlich guter Film-Plot: Ein schwarzes Mädchen aus Bochum, das rassistische Kommentare und Witze aus ihrem Alltag gewöhnt ist, das Abi macht und zwei Jahre als Au-pair in den USA verbringt, das drei Tage die Woche in einem Call-Center arbeitet, um sich das Soziologie-Studium zu finanzieren, wird durch ein furchtbares Video von einem Moment zum anderen zu einer politischen Aktivistin. Zu einer erfolgreichen politischen Aktivistin. Dieser Schlüsselmoment, dieser Wendepunkt, ist so plastisch und logisch, er lässt uns Außenstehende verstehen, warum Wandi Wrede sich plötzlich so sehr verändert hat.

Wie Leonie zur Aktivistin wurde

Die Politisierung kann aber auch ganz anders vonstattengehen. „Bei mir war das ein schleichender Prozess“, sagt Leonie Jöster. „Ich war schon immer politisch interessiert, habe als Kind die Logo-Nachrichten geguckt und meinen Eltern bei ihren Diskussionen zugehört. Aber ich war immer sehr passiv.“ Die 19-Jährige ist seit anderthalb Jahren bei Fridays for Future in Köln aktiv, in der Öffentlichkeitsarbeit, im Finanzteam, im Klimacamp auf der Uniwiese. Und natürlich bei den Freitagsdemonstrationen. Gerade hat sie ihr Engagement für ein Jahr lang Richtung Norden verlagert: Nach dem Abitur am Gymnasium Frechen hat sie ein Freiwilliges Ökologisches Jahr in der „Schutzstation Wattenmeer“ begonnen.

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Leonie Jöster ist bei Fridays for Future aktiv.

Den Moment, in dem sie aus ihrer Passivität hinaustrat, rekonstruiert Jöster so: „Nach der zehnten Klasse hab ich dank eines Stipendiums ein Austauschjahr in Ecuador gemacht“, erzählt sie. Zu der Zeit beginnt Greta Thunberg die Schule zu bestreiken und vor dem schwedischen Parlament auszuharren. Der Protest in Schweden wächst – und breitet sich dann über die ganze Welt aus. Die Fridays-for-Future-Bewegung entsteht. Jöster verfolgt die Entwicklungen gebannt von der anderen Seite der Welt aus. „Mir war vorher gar nicht bewusst, dass ich ja die Möglichkeit habe, auf eine Demonstration zu gehen oder einfach mal zu sagen, was ich denke. Aber dann habe ich verstanden, dass ich ja nicht nur passiv zugucken muss – sondern mich auch einbringen kann. Dass wir alle Teil dieser Demokratie sind“, sagt Jöster.

Greta Thunberg ist für viele ein Vorbild

Greta Thunberg war und ist für viele Jugendliche ein Vorbild, doch für sie gilt das, was wohl für viele andere Aktivisten auch gilt: Richtiger Ort – und vor allem – richtige Zeit. Ihr Engagement fiel auf fruchtbaren Boden. Denn nach einer Phase, in der viele Jugendliche politisch eher desinteressiert waren, will die heutige Generation Z (also die jungen Menschen, die in den Jahren um die Jahrtausendwende geboren wurden) sich beteiligen.

Das belegen für Deutschland die Ergebnisse der Shell-Jugendstudie, die etwa alle vier Jahre erhoben werden. Die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2019 zeigen: 41 Prozent der Jugendlichen bezeichnen sich als politisch interessiert, acht davon sogar als stark politisch interessiert. Ein Wert, der in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen ist – und im Jahr 2002 bei nur 30 Prozent lag.             

Entscheidend ist der Bildungsstand

Auch dem eigenen politischen Engagement messen immer mehr Jugendliche eine hohe Bedeutung bei. So stieg der Wert von 20 Prozent im Jahr 2006 auf 34 Prozent im Jahr 2019. „Die gegenwärtige junge Generation formuliert wieder nachdrücklicher eigene Ansprüche hinsichtlich der Gestaltung der Zukunft unserer Gesellschaft und fordert, dass bereits heute die dafür erforderlichen Weichenstellungen vorgenommen werden“, schreiben die Autoren und Autorinnen der Shell-Studie in ihrer Zusammenfassung. Und doch, so schränken sie ein, bedinge der Bildungsstand das politische Interesse deutlich. So bezeichnet sich jeder zweite Jugendliche, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, als politisch interessiert. Bei den Jugendlichen, die eine Hauptschule besuchen, treffe diese Aussage nur auf jeden vierten zu. Am politisch interessiertesten ist die Gruppe der Studierenden mit 66 Prozent.

Und, so ein weiteres Ergebnis: Je höher die Bildungsposition, desto geringer die Populismusaffinität. Etwa 24 Prozent der Jugendlichen zählten zu den Populismus-Geneigten, heißt es in der Shell-Studie, neun Prozent gar zu den Nationalpopulisten. Und gerade jetzt, in diesem Spätsommer, schallen die Rufe aller Gruppierungen lauter denn je. Sehen viele die Bundestagswahl am 26. September doch als Wendepunkt an. Wenn Angela Merkel nach der Wahl ihr Amt niederlegt, endet nicht nur eine 16 Jahre andauernde Kanzlerschaft. Es tritt auch die einzige Regierungschefin ab, die die Jugendlichen in Deutschland jemals kannten. Und sie hinterlässt ein Macht-Vakuum, in das sich Träume und Sehnsüchte nach einem Neuanfang projizieren lassen.

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Simon Dornseifer engagiert sich bei der Seebrücke.

Die Hoffnung auf neue politische Spieler, die weniger schwerfällig als die Große Koalition agieren, und endlich die so ersehnten Veränderungen anstoßen, ist groß. „Ich werde auf jeden Fall wählen gehen. Es ist so ein großes Privileg, dass ich das in einem einflussreichen Land wie Deutschland tun darf“, sagt Erstwählerin Leonie Jöster. „Noch haben wir die Chance, in der Klimakrise das Schlimmste zu verhindern und damit unglaublich viele Menschenleben auf der Welt zu retten. Und wir sind auch in der Verantwortung, das zu tun.“

Wie Simon zur „Seebrücke“ kam

Dass Menschen gerettet werden, das möchte auch Simon Dornseifer. Seit der 20-Jährige vor anderthalb Jahren aus dem Sauerland nach Köln gezogen ist, engagiert er sich bei der „Seebrücke“. Die Bewegung unterstützt Vereine wie „Sea-Watch“ oder „Sea-Eye“, die auf dem Mittelmeer Flüchtlinge retten, indem sie in Deutschland Lobbyarbeit leistet und sich für die Aufnahme der Flüchtlinge einsetzt. Zum Beispiel mit der Aktion „Sichere Häfen“, bei der auch die Stadt Köln mitmacht: Hier bieten Kommunen von sich aus die Aufnahme geflüchteter Menschen an.

Bislang ist das aber nur symbolisch, denn Städte dürfen nicht ohne die Zustimmung des Bundesinnenministeriums Flüchtlinge aufnehmen. „Wir lassen die Menschen im Mittelmeer alleine ertrinken. Das ist für mich ein ganz niedrigschwelliges Verständnis von Ungerechtigkeit: Wenn Menschen in Seenot sind, dann müssen diese Menschen gerettet werden“, sagt Simon Dornseifer.

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Eine Demo der Seebrücke

Der Student hilft, lokale Kundgebungen zu organisieren, ist aber auch in der überregionalen Presse-AG und in einem Team für den Bundestagswahlkampf aktiv. Acht bis neun Stunden pro Woche investiert er, in Prüfungszeiten seines Studiums weniger. „Wir fordern die Bewegungsfreiheit aller Menschen und eine progressive Aufnahmepolitik. Es muss endlich eine EU-weite Lösung für die Geflüchteten gefunden werden. Denn obwohl man das nicht mehr ständig in den Nachrichten hört: Es fliehen – und ertrinken – weiterhin sehr viele Menschen.“

Die Flüchtlingskrise 2015 und das Engagement seiner Mutter für diese Menschen hätten ihn geprägt, sagt er. Auch, dass seine ältere Schwester bei der „Seebrücke“ in Dortmund aktiv ist. „Die Klimabewegung und die Proteste am Hambacher Forst haben auf jeden Fall zu meiner Politisierung beigetragen.“ Und so lief er am 20. September 2019, kurz nach seinem Umzug nach Köln, bei einer Demo von Fridays for Future mit, lernte dort zufällig Leute von der „Seebrücke“ kennen. „Und dann bin ich einfach mal zu einem Treffen gegangen.“

Wirtschaftliche Ängste durch Corona wieder gewachsen

Die Autoren und Autorinnen der Shell-Studie schreiben: „Eine wichtige Rolle dürfte an dieser Stelle neben der Bildungsposition auch die Erfahrung spielen, dass in der Familie privates oder gesellschaftliches Engagement möglicherweise schon immer üblich war und das Aufwachsen mitgeprägt hat.“ Als größte Probleme nannten drei von vier Jugendlichen die Umweltverschmutzung, gefolgt von Terrorangst und Klimawandel. Wichtig zu bedenken ist, dass die Studie vor dem Corona-Ausbruch durchgeführt wurde, die wirtschaftlichen Ängste seien durch die Pandemie bei den jungen Menschen wieder deutlich gestiegen, glauben Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler.

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Eine Fridays for Future-Demo vor Corona in Köln

Leonie Jöster findet es schade, „dass soziale Probleme immer gegen die Klimakrise abgewogen werden.“ Die sei mit so vielen anderen Krisen verknüpft, betont die 19-Jährige, mit dem vermehrten Auftreten von Pandemien, Fluchtbewegungen aus vom Klimawandel besonders betroffenen Gebieten und Naturkatastrophen. „Die Klimakrise führt national und international zu so großer sozialer Ungerechtigkeit. Und ich wünsche mir einfach, dass wir in einer sehr viel gerechteren Welt leben.“ Deswegen gibt Leonie Jöster auch gerne ihre ganze Freizeit auf, um bei der Organisation eines Großstreiks (der zwei Mal im Jahr stattfindet) mitzuhelfen. „Das ist total viel Arbeit. Man muss so eine Demo ja nicht nur anmelden, sondern auch die Technik organisieren, Hygiene-Konzepte erstellen und Menschen mobilisieren“, sagt sie.

Die Politik kümmert sich zu wenig

Mit Erfolg: Ende April hat das Bundesverfassungsgericht der Bewegung Recht gegeben, das Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 sei in Teilen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Es fehlten ausreichende Vorgaben für die Minderung der Emissionen ab dem Jahr 2031, so das Urteil.

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Noch vor den Sommerferien besserte die Bundesregierung das Gesetz nach. Und doch ist Jöster enttäuscht: „Die neu beschlossenen Klimaziele reichen immer noch nicht aus, um das 1,5-Grad-Ziel von Paris zu erreichen. Das Problem ist ja, dass wir nur ein bestimmtes CO2-Budget übrig haben. Das ist wie eine Badewanne, wenn sie überläuft, ist es zu spät. Beim Klima ist das genauso, werden bestimmte Kipppunkte überschritten, läuft ein sich selbst verstärkender Prozess an, der nicht mehr so leicht zu stoppen ist.“

Weltklimarat gibt jugendlichen Aktivisten recht

Die aktuellsten Ergebnisse des Weltklimarates (IPCC), die am Montag veröffentlicht wurden, stützen ihre Worte. Der IPCC warnt, dass bereits 2030 eine Erderwärmung um 1,5 Grad drohe – zehn Jahre früher, als bisher prognostiziert. Leonie Jöster macht das wütend: „Wenn nicht mal eine so große Flutkatastrophe wie vor einigen Wochen für die CDU Grund genug ist, die Politik zu ändern, was denn dann? Die Klimakrise ist jetzt und hier. Abwarten und Aussitzen funktioniert nicht.“ Manchmal fühle sie sich, als würde sie gegen eine Wand schreien, sagt Jöster. „Es stehen so unglaublich viele Menschen auf der Straße für Klimaschutz, für die Rechte von Frauen, gegen Rassismus, aber irgendwie scheint die Politik das alles zu überhören.“ 

Ein Gefühl, das laut Shell-Studie viele Jugendliche teilen. 71 Prozent stimmen der Aussage „Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken“ zu. Auch Wandi Wrede gehört dazu. Seit dieser ersten Demo im Juni vor einem Jahr hat sie noch weitere Demonstrationen organisiert. Sie engagiert sich im Kölner Verein „Sonnenblumen Community Development Group“, der Menschen mit Migrationshintergrund, vor allem afrikanischer Herkunft, dabei unterstützt, ihre unterschiedlichen Lebensumstände zu meistern. Und Wandi Wrede hat gemeinsam mit anderen Frauen „Stolze Augen Books“ in Köln gegründet, den ersten BIPoC-Verlag Deutschlands (Black, Indigenous and People of Color). Neben ihrer Arbeit im Callcenter sind vier Tage, Donnerstag bis Sonntag, für die ehrenamtliche Arbeit reserviert. Das Studium, gibt sie zu, leide ein wenig unter dieser Zeitaufteilung.

Nur alte, weiße Menschen in den Politik

Zuletzt habe ein Freund ihr gesagt, dass er sich eine politische Karriere für sie vorstellen könne, weil sie so engagiert sei, weil sie was bewegen könne. „Aber Politik erscheint mir immer noch so unzugänglich“, sagt Wandi Wrede. „Wenn ich mir so einen Tisch angucke, an dem Politikerinnen und Politiker sitzen, die Bildungsentscheidungen treffen, dann denke ich mir: Da sitzen nur alte, weiße Menschen. Wie soll ich da rein passen? Ich verstehe das nicht, hier unten tut sich so viel, aber wir sitzen immer noch am Katzentisch, sie erlauben uns nicht, oben an ihrem Tisch zu sitzen, wo wir wirklich für Veränderung sorgen könnten.“

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Auch Simon Dornseifer und Leonie Jöster können sich nicht vorstellen, in die Politik zu gehen oder gar in eine Partei einzutreten. Es gebe gar keine Partei, die ihre Positionen widerspiegele, antworten die drei unisono. Und so schrumpft die Mitgliederzahl der Parteien, das Durchschnittsalter steigt. Zur Bundestagswahl in sechs Wochen wollen sie alle drei gehen. „Aber ich werde nicht mit Freude wählen, sondern meine Stimme einfach für das kleinste Übel geben“, sagt Wandi Wrede.

Die jungen Menschen haben viel weniger Stimmgewalt

Überhaupt wird die Stimmgewalt der jungen Menschen niedrig sein im Vergleich zu den Seniorinnen und Senioren – Stichwort: demografischer Wandel. „Natürlich bin ich manchmal sauer, dass meiner Elterngeneration die Einsicht fehlt für Themen, die uns mehr betreffen werden als sie, wie etwa der Klimawandel“, sagt Simon Dornseifer. „Aber in einer Demokratie, die ich als Staatsform alternativlos finde, geht es eben darum, Mehrheiten für notwendige Veränderungen zu finden. Ich glaube, unser Anspruch muss sein, die Älteren von unseren Anliegen zu überzeugen.“

Gelingen könnte das, glaubt er, zum Beispiel durch Gespräche am Kaffee- oder Geburtstagstisch. Leonie Jöster und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Fridays for Future organisieren für den Freitag vor der Bundestagswahl noch einmal einen großen Streik. Wandi Wrede will mit ihrem Engagement versuchen, möglichst viele junge Menschen für Politik zu begeistern. Gut sechs Wochen haben die drei bis zur Wahl noch Zeit. Sechs Wochen, die Leben verändern könnten. 

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