NiederaußemWarum man hier ein Kraftwerk so liebt wie die Kölner ihren Dom

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Ortsbürgermeister Frank Zimmermann vor dem „Wolkenmacher“ von Niederaußem

Niederaußem – Auswärtige werden nie begreifen, dass dieser Klotz ein Stück Heimat ist. Kein schönes zwar, aber eines, das über Jahrzehnte den Wohlstand der Gemeinde mit ihren 6000 Einwohnern gesichert hat. Das Kraftwerk, das vor 60 Jahren in Betrieb ging, steht für die Industrialisierung Niederaußems. Niederaußem ohne Kraftwerk – das ist wie Köln ohne Dom.

„Ich mache mir schon mal einen Scherz draus. Die Leute sagen immer, wenn sie nach Köln reinfahren, dass sie sich freuen, sobald sie den Dom sehen“, sagt Frank Zimmermann. „Ich antworte darauf gerne mal. Jetzt steht schon wieder was im Weg. Ich sehe unser Kraftwerk gar nicht.“

Beim Gang mit dem Ortsbürgermeister durch seinen Ort, der vom Strukturwandel im kommenden Jahrzehnt besonders betroffen sein wird, beschleicht einen mehrfach das mulmige Gefühl, wie es angesichts dieses dominanten Kraftwerks weitergehen wird, wenn der letzte Block abgeschaltet und als Riesen-Mahnmal ohne Funktion in der Gegend herumstehen wird.

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Was aus dem Klotz wird, ist noch unklar

„Ich denke nicht, dass das Werk komplett abgerissen wird“, sagt Zimmermann mit einer Zuversicht, als gäbe es schon ganz konkrete Lösungen. Die gibt es aber nicht. Mal ist von einem Wärmespeicherkraftwerk die Rede, dann von einem Salzspeicher, mit dem man aus Hitze Strom generieren könne.

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Seit 60 Jahren prägt das Kraftwerk die Gemeinde Niederaußem

Die Bergheimer Grünen haben unlängst die Vision von einem „Green Dome“ als Zentrum eines klimaneutralen Stadtteils entworfen. Die Kraftwerksblöcke A bis C wollen sie abbrechen, den knapp 200 Meter hohen Kühlturm auf 21 Ebenen für Gewerbe nutzen, begrünen und mit Solarzellen bedecken.

Für Kinder sind es Wolkenmacher

Alles ist möglich. Nichts ist sicher. Nur eins: Die Braunkohleverstromung wird es nicht mehr geben. „Für uns als Kinder waren das hier die Wolkenmacher. Man wird hier so groß“, sagt Zimmermann. Was die Menschen derzeit umtreibt, sei die offene Frage nach der Restlaufzeit des Kraftwerks.

Ob das Klimapaket der Bundesregierung nach der Wahl nochmal neu geschnürt, der Ausstieg aus der Braunkohle vorgezogen werde, das fragen sich hier alle. „Bleibt es bei 2035 oder 2038, hätten wir eine gewisse Ruhe und Planungssicherheit“, sagt Zimmermann. „Aber wenn jetzt 2030 ins Gespräch kommt, wären ja deutlich mehr Menschen davon betroffen.“

Block K soll bis 2038 laufen

Zum Jahreswechsel wurde Block D vom Netz genommen, die Blöcke A und B waren schon 2012 abgeschaltet worden. Er war der erste, der 300 Megawatt Strom auf nur einem Kessel produzieren konnte. Block H soll bis 2033 weiterlaufen, der BoA-Block K – BoA steht für Braunkohlekraftwerk mit optimierter Anlagentechnik – soll bis 2038 weiterlaufen.

Wie viele Arbeitsplätze in Niederaußem direkt und indirekt am Kraftwerk und der Braunkohlegewinnung hängen, lässt sich nur schwer sagen. „In einem ZDF-Bericht war mal von 80 Prozent die Rede“, sagt Zimmermann. Woher diese Zahl stammt, sei aber offengeblieben. „Ich glaube das nicht. Ich kenne sehr viele Menschen im Ort, die mit RWE und dem Umfeld nichts zu haben.“

14,8 Milliarden für den Strukturwandel

Geld für den Strukturwandel ist vorhanden. Viel Geld. 14,8 Milliarden Euro bis 2038 allein für das Rheinische Revier. Große Sorgen, dass davon in Niederaußem nichts ankommen werde, hat Zimmermann nicht. Nur wofür wird es ausgegeben? Und wie wird es einen Ort verändern, dem die Kohle über Jahrzehnte viel Kohle beschert hat?

Das Schwimmbad ist stillgelegt, die Festhalle bedarf einer Grundsanierung. „Für mich würde eine Welt zusammenbrechen, wenn wir die Halle für unsere Vereine nicht mehr hätten“, sagt der Ortsbürgermeister. „Wenn die Arbeit schon problematisch wird, muss doch wenigstens das gesellschaftliche Leben weiter wie gewohnt laufen. Wir haben einen Trägerverein gegründet, der versucht, Geld zu erwirtschaften.“

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Der alte Ortskern wirkt abgewirtschaftet. Zimmermann könnte sich vorstellen, dass endlich die seit Jahrzehnten geforderte Umgehungsstraße gebaut wird, damit die vielen Lkw endlich einen Bogen um Niederaußem machen.

Nein. Niederaußem ist kein sterbender Ort. Im Gegenteil. „Wir wachsen langsam in den Speckgürtel von Köln. Wohnen wollen hier alle“, sagt Zimmermann. „Wir haben täglich Anfragen aus Köln und Düsseldorf. Aber ich habe die Befürchtung, dass die Städter unser gesellschaftliches Leben nicht bereichern werden.“ Eine Schlafstadt mit Ein- und Auspendlern – so stelle er sich die Zukunft nicht vor.

Punktesystem zur Grundstücksvergabe

Die Stadt Bergheim, zu der Niederaußem gehört, hat längst ein Punktesystem zur Vergabe von Grundstücken eingeführt. Zimmermann hätte gern gesehen, dass es die regionale Bindung stärker gewichtet hätte. „Niederaußemer müssen bevorzugt werden, schon aus Eigeninteresse. Wir haben viele junge Menschen, die hier auch gerne bauen möchten.“

Die geplante Stadtbahnlinie nach Köln sei daher Fluch und Segen zugleich. Sie erleichtere den Weg zur Arbeit in die Metropole, werde aber auch zu steigenden Grundstückspreisen führen. „Die Preise hier dürfen nicht explodieren. Ich wäre bei Erbpacht-Grundstücken sofort dabei.“

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Ein Leben für RWE: Hans Willi Bahlmann, Ortsvorsitzender der IGBCE

RWE war sein Leben. Das kann Hans Willi Bahlmann (62), Ortsvorsitzender der IG Bergbau, Chemie und Energie, mit Fug und Recht behaupten. Er hat Elektriker gelernt, war 30 Jahre lang für die Zugsicherungstechnik der Kohlebahn verantwortlich und hat auch am BoA mitgearbeitet. Das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt mit 30 Prozent weniger Kohleverbrauch.

„Ich kann mit Stolz sagen, ich habe daran einen klitzekleinen Anteil. Da hat RWE schon einen Beitrag zur Minimierung der CO2-Emissionen beigetragen. Aber mir war schon klar, dass da oben keine Frischluft rauskommt.“ Inzwischen ist er in Rente, kümmert sich noch um den Ortsverein und macht Rentenberatung für die Knappschaft. Vom Garten seines gepflegten Einfamilienhauses kann man das Kraftwerk sehen.

Jeder soll seinen Beitrag leisten

Bahlmann weiß, wie Niederaußem tickt. „Wir hatten ja ein Ausstiegsszenario“, sagt er. „2045 wäre Schluss gewesen. Danach hätten wir nie wieder einen Tagebau genehmigt bekommen. Aber man sieht ja jetzt: Der Klimawandel ist da. Ob wir ihn aufhalten können, ist eine andere Frage. Aber ich denke, wir müssen etwas tun und nicht immer auf die anderen warten. Das ist nicht richtig. Jeder sollte seinen Beitrag leisten.“

Wenn es so sein soll, dann soll es so sein. Dieser Satz wird noch häufiger fallen. Es zeugt von der Einsicht in die Notwendigkeit. SPD-Wähler Bahlmann hätte nichts dagegen, dass nach der Bundestagswahl mit einer neuen Regierung die Karten neu gemischt werden. „Warum nicht mal eine Frau Baerbock als Kanzlerin? Ich würde den Grünen die Chance geben. Sie sollen zeigen, ob sie es besser können. Wir haben hier über viele Jahrzehnte eine sichere Stromversorgung garantiert. Das ist für mich wesentlich. Und der Strom muss bezahlbar bleiben.“

Schwer enttäuscht von Armin Laschet

Von Armin Laschet ist Bahlmann schwer enttäuscht. „Als wir in Elsdorf protestiert haben, hat er uns versprochen, er werde für uns kämpfen.“ Ihm sei schnell klar geworden, dass daraus nichts wird. „Als sich die Leute im Hambacher Forst eingenistet haben, war der Kampf für uns verloren.“ Für die Kraftwerke und den Tagebau sei von diesem Zeitpunkt an nur noch „hier vor Ort“ gekämpft worden. Ein paar Meter weiter Richtung Köln sei die Zustimmung für die Kraftwerke gegen Null gegangen. „Als die heiße Phase lief, hätte RWE nur sagen können, alles klar, wir schalten die Bagger ab und hören auf.“

Und der Strukturwandel? „Ich bin skeptisch, ob die ganzen Pläne, die es jetzt gibt, am Ende so viele Arbeitsplätze bringen, wie wir sie hier benötigen“, sagt Bahlmann und schaut auf das Kraftwerk. Den Wolkenmacher, der so vielen Menschen den Wohlstand sicherte.

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