Wüst im Interview„Wir müssen uns von den Demokratiefeinden abgrenzen“

Lesezeit 9 Minuten
Wüst

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU)

  • NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) spricht im Interview darüber, was er von der Ampel-Koalition erwartet.
  • Auch zum 11.11. in Köln und das viel kritisierte Spiel des FC gegen Gladbach äußert er sich.
  • Außerdem spricht er über Corona-Leugner und Imfgegner und beschreibt, wie seiner Meinung nach mit der zunehmenden Radikalisierung umgegangen werden sollte.

Herr Wüst, haben die Bundesländer nach dem von den Ampel-Parteien im Bund beschlossenen Auslaufen der pandemischen Lage ausreichend Kompetenzen, alle nötigen Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona zu ergreifen?

Hendrik Wüst: Als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Länder gerade für Gebiete mit besonders hohen Infektionszahlen eine breite Palette an Schutzmechanismen an die Hand bekommen, um die Menschen bestmöglich zu schützen. Es war gut, dass Olaf Scholz zu weiteren Nachbesserungen des Infektionsschutzgesetzes bereit war, damit die Länder bewährte Schutzoptionen doch wieder bekommen. Wir hätten uns mehr gewünscht – gerade wegen der Omikron-Variante. Dies entspricht auch dem Rat vieler Wissenschaftler. Ein weiteres ständiges Nachbessern des Bundes wäre in diesem Winter nicht gut. Es geht um Vorsicht und Voraussicht. Die neue Bundesregierung darf bei Corona nicht auf Sicht fahren, sondern muss das Fernlicht einschalten.

Was hätten Sie sich konkret mehr gewünscht?

Wenn uns die deutlich infektiösere Omikron-Variante weiter fordert, kann es sich als Fehler erweisen, dass durch den Bund eine Reihe von Maßnahmen von vornherein ausgeschlossen sind, die bis November noch möglich waren. Dazu gehört zum Beispiel für den Fall der Fälle die Untersagung nicht notwendiger touristischer Reisen in Deutschland, vor allem in Hotspots. Die immerwährende Selbstkorrektur bei aktuellen Erfordernissen des Pandemiegeschehens kann doch auch nicht im Sinne der SPD-geführten Ampel sein.

Müssen Sie nicht vor der eigenen Tür kehren? Zur Eröffnung der Karnevalsaison sowie zum Fußballspiel Gladbach gegen Köln kamen zehntausende Menschen, Regeln wie Maskenpflicht und Abstand wurden missachtet.

Das beste Schutzkonzept kann nur funktionieren, wenn es konsequent umgesetzt und kontrolliert wird. Klar ist, diese Bilder dürfen sich nicht wiederholen. Wir haben daraus Konsequenzen gezogen: unter anderem 2G in den Stadien und eine Reduzierung der Zuschauerzahl, noch strengere Schutzkonzepte und höhere Strafen bei Verstößen. Wir haben in Nordrhein-Westfalen früher als andere Länder, das heißt gemessen an der Sieben-Tage-Inzidenz- und Hospitalisierungsrate, und vor der Verständigung in der Ministerpräsidentenkonferenz, konsequent Maßnahmen wie 2G beschlossen.

Aber was war der Grund, dass diese Massenveranstaltungen nicht verhindert wurden?

Sie können schon aus rechtlichen Gründen bei einer Inzidenz von 200 nicht pauschal jede Veranstaltung untersagen. Bei dem Fußballspiel galten klare Regeln und Schutzkonzepte, auf die Veranstalter wie Zuschauer vertraut und mit denen sie geplant haben. Die Umsetzung hat vor Ort, insbesondere bei der Einhaltung der Maskenpflicht, nicht funktioniert. Daraus wurden klare Schlüsse gezogen.

Ist Weihnachten als Fest der Familie gesichert? Oder kann es auch Kontaktbeschränkungen für Geimpfte geben?

Weihnachten im Familienkreis wird es selbstverständlich auch dieses Jahr geben. Bund und Länder haben vereinbart, dass auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere mit Blick auf die Omikron-Variante, in der kommenden Woche der Fahrplan für die Zeit um Weihnachten und den Jahreswechsel beraten werden. Die Länder sind zu erforderlichen Maßnahmen bereit, um die Gesundheit der Menschen zu schützen.

Muss der Karneval erneut abgesagt werden?

Das Thema ist hochaktuell. Das ist allen Beteiligten klar. Wir sind in guten und offenen Gesprächen mit den Vertretern der Karnevalshochburgen und dem organisierten Karneval. Vom Festwirt bis zur Technikfirma haben viele Betroffene 2021 auf den Karneval und ihre Geschäftsgrundlage verzichtet. Und viele haben keine finanziellen Polster mehr und brauchen bei erneuten Ausfällen und Absagen finanzielle Hilfen. Ich setze mich dafür ein, dass wir auf Bundesebene diese Rechtsklarheit bekommen: Karneval ist Brauchtum und Kultur, für viele Menschen ein Teil ihrer Identität und Heimat. Mit einem solchen Verständnis sind dann auch finanzielle Hilfen für die Betroffenen möglich, wenn Karnevalsveranstaltungen angesichts der pandemischen Lage erneut abgesagt werden müssen.

Welche Rolle spielt derzeit die Entwicklung von Medikamenten gegen Corona?

Das Impfen ist und bleibt die stärkste Waffe im Kampf gegen das Virus. Als weitere Säule in der Pandemiebekämpfung brauchen wir zusätzlich eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Medikamenten-Strategie. Medikamente können helfen, schwere Krankheitsverläufe zu mildern. Mit der zusätzlichen Therapie kann man dann nicht nur den Betroffenen viel Leid ersparen, sondern auch das Gesundheitssystem vor Überlastung schützen. Deshalb brauchen wir hier Aufklärung, weil diese Medikamente sehr schnell nach der Infektion verabreicht werden müssen, abgestimmte Beschaffung und Logistik, aber vor allen Dingen auch Forschungsförderung, wie sie die alte Bundesregierung bereits angestoßen hat.

Das könnte Sie auch interessieren:

Rechnen Sie mit einer weiteren Radikalisierung der Querdenker-Szene, wenn die allgemeine Impfpflicht kommt?

Vielleicht entzieht es der Szene auch einen Teil ihres Potenzials. Nicht jeder, der sich bisher nicht hat impfen lassen, ist gleich ein Querdenker oder pauschaler Impfverweigerer. Wir müssen alles daran setzen, möglichst viele Menschen von der Impfung und ihrem Schutz zu überzeugen. Die allgemeine Impfpflicht sollte gründlich beraten, aber auch zeitnah umgesetzt werden. Schon, dass der Bund die einrichtungsbezogene Impfpflicht nun erst Mitte März greifen lassen möchte, hat sehr überrascht und wirft Fragen auf. Olaf Scholz hat zudem Ende November angekündigt, dass die allgemeine Impfpflicht Anfang Februar kommen soll. Das erfordert auch politische Führung, wie es der Bundespräsident dem neuen Kanzler ins Stammbuch geschrieben hat. Ich hoffe jedenfalls nicht, dass nun auch bei der Impfpflicht wieder wertvolle Zeit im Kampf gegen das Virus verspielt wird. Die von Angela Merkel und der Union geführte Bundesregierung war sehr entschlossen bei Corona. Der Regierungswechsel im Bund darf nicht zu einem nachlässigen Umgang mit der Pandemie führen.

Soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Telegram spielen eine wachsende Rolle bei der Radikalisierung der Szene von Corona-Leugnern und Impfgegnern. Was muss geschehen, um diese Entwicklung einzudämmen?

Gerade in der Pandemie ist der Zusammenhalt unserer Gesellschaft besonders wichtig. Dass über Kommunikationsdienste wie Telegram zunehmend Verschwörungstheorien, Lügen, Hetze und Aufrufe zur Gewalt verbreitet werden, die zeitgleich tausende Nutzer erreichen, ist besorgniserregend. Mich widern solche Umtriebe an. Denn solche Inhalte tragen dazu bei, die Gesellschaft zu spalten und die freiheitlich demokratische Grundordnung zu gefährden. Rechtsverstöße müssen konsequent geahndet werden. Man muss dennoch zwischen den Radikalen unterscheiden, die nun das Thema Pandemie für ihre demokratiefeindlichen Zwecke nutzen und denen, um die es sich zu ringen lohnt. Da kommt es auch auf die Sprache der Verantwortlichen an, dass man diejenigen, die für sachliche Argumente noch zugänglich sind, verbal nicht ausgrenzt.

Aber sie formulieren doch alle schon sehr vorsichtig . . .

Wir müssen uns von den Demokratiefeinden sehr klar abgrenzen, müssen Verunsicherten aber auch immer wieder Brücken bauen.

Was konkret erwarten Sie von der neuen Bundesregierung, was sie gegen Hass und Hetze bis hin zu Mordaufrufen gegen Spitzenpolitiker wie Ihren Amtskollegen Michael Kretschmer unternimmt?

Messenger-Dienste dürfen keine rechtsfreien Räume sein. Unsere Demokratie muss wehrhaft sein, auch im digitalen Raum. Bedrohungen, Beleidigungen, die Verrohung der Sprache ist der Zwischenschritt vom Gedanken zur Tat. Das muss man sich immer wieder bewusst machen. Wir sind uns im Länderkreis einig, dass Kommunikationsdienste mit öffentlichen Gruppen einer angemessene Regulierung im Netzwerkdurchsetzungsgesetz bedürfen. Da hat die Bundesregierung eine große und dringliche Aufgabe. Olaf Scholz hat uns auf unsere Bitte zugesagt, das Thema anzugehen. Das begrüße ich sehr.

Im Koalitionsvertrag stehen eine Menge Projekte, für die die Ampel-Parteien die Länder brauchen – insbesondere bei der Planungsbeschleunigung. Werden die CDU-geführten Länder da mitmachen?

Nachdem in der großen Koalition im Bund viele Vorstöße aus Nordrhein-Westfalen zur Planungsbeschleunigung an der damaligen Umweltministerin Schulze gescheitert sind, bin ich sehr gespannt, wieviel Ambition diese Bundesregierung hier nun an den Tag legt. Wir werden alles unterstützen, was Planungsbeschleunigung gewährleistet. Energiewende, saubere Mobilität – diese Vorhaben lassen sich nur umsetzen, wenn wir schneller vorgehen als bisher. Die zügige Umsetzung wichtiger Projekte ist auch wichtig für die Glaubwürdigkeit von Politik und die Handlungsfähigkeit demokratisch verfasster Staaten.

Die Ampel-Koalition möchte „idealerweise“ schon bis 2030 aus der Kohle aussteigen – ist das in NRW machbar?

Nordrhein-Westfalen ist bereit, schon 2030 aus der Kohleverstromung auszusteigen. Dafür brauchen wir Klarheit vom Bund in einigen signifikanten Fragen, auch für die betreffenden Regionen. Finanzhilfen, die für die Förderung neuer Arbeitsplätze vorgesehen sind, müssen vorgezogen werden. Die Mitarbeiter brauchen Sicherheit. Niemand darf ins Bergfreie fallen. Zudem muss die Sicherheit der Versorgung mit bezahlbarem Strom gewährleistet sein. Dafür müssen wir etwa auch klären, ob wir bereit sind, Gaskraftwerke, die perspektivisch mit Wasserstoff betrieben werden können, im Sinne des Klimaschutzes und der CO2-Reduktion zur sauberen Energie zu erklären. Dann brauchen wir schnelle Genehmigungen für den Bau von Gaskraftwerken und dafür einen Kapazitätsmarkt. Wenn der Kohleausstieg bundesrechtlich klar ist, ist Nordrhein-Westfalen bereit, seinen Teil zu leisten.

Wie wichtig ist der Bundesrat als Gremium für Oppositionspolitik für die Union?

Im Bundesrat stehen immer Länderinteressen im Vordergrund. Da gehen wir Hand in Hand mit der FDP in Nordrhein-Westfalen, mit der wir gut, gerne und erfolgreich regieren Wir sind uns einig, dass wir nicht die verlängerte Werkbank von Berlin sind.

Nordrhein-Westfalen wählt im Mai. Aktuell liegt die SPD in Umfragen im Land etwa zehn Prozentpunkte vor der CDU. Wie wollen Sie das drehen?

Über Wahlkampf mache ich mir derzeit wirklich keine Gedanken, die Bewältigung der vierten Corona-Welle muss für uns alle Priorität haben. Es geht um Leib und Leben.

Die zehn Prozentpunkte Vorsprung der SPD bereiten Ihnen keine schlaflosen Nächte?

Ich beschäftige mich gerade rund um die Uhr mit der Bewältigung der Pandemie und dem Schutz der Menschen in Nordrhein-Westfalen.

Welcher Parteichef gäbe Ihnen den stärksten Rückenwind? Friedrich Merz, Norbert Röttgen oder Helge Braun?

Derjenige, den die Mitglieder wählen. Mir ist wichtig, dass die CDU im Gegensatz zu den sehr großstädtisch geprägten Ampel-Parteien wieder die sozialen Nöte der Menschen außerhalb der Großstädte in den Blick nimmt. Die Kosten der Mobilität dürfen nicht zur sozialen Frage werden. Die Schaffung von Wohneigentum muss möglich bleiben.

Wer von den drei Bewerbern um den CDU-Vorsitz kann das am besten gewährleisten?

Das kann jeder der drei Kandidaten und jeder sollte es in einer breiten Aufstellung der Partei umsetzen.

Warum steht eigentlich weit und breit keine Frau auf der Lichtung, die CDU-Chefin werden könnte? Nach 16 Jahren Kanzlerin und 18 Jahren CDU-Parteivorsitz von Angela Merkel . . . . . . . sind die Männer mal wieder dran?

Im Gegenteil. Ich habe mich gerade erst sehr deutlich auch für eine Frau als Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin ausgesprochen. Auch die erste Verteidigungsministerin und die erste EU-Kommissionspräsidentin wurden von der CDU gestellt. Es wird auch in Zukunft darauf ankommen, starke Frauen in der Führung der Partei und des Staates zu haben. Das muss eine Selbstverständlichkeit sein.

Sollten Partei- und Fraktionsvorsitz im Bund in einer Hand liegen?

Den Parteivorsitz bestimmen die Mitglieder, die Fraktionsführung wählen die Bundestagsabgeordneten. Nach allem, was mir von den drei Kandidaten für den Parteivorsitz bekannt ist, wollen sie die Arbeit in der Opposition zwischen Partei- und Fraktionsvorsitz trennen.

Friedrich Merz hat das so nicht gesagt. Er hat diese Frage bei seinen öffentlichen Auftritten offengelassen.

Erst haben die Parteimitglieder das Wort, dann entscheiden die Abgeordneten.

KStA abonnieren