Der Sozialstaat steht in der Kritik. Der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Siegloch plädiert vor allem für eine Vereinheitlichung des Systems. Aber er sieht auch Chancen für neue Einnahmequellen.
Kölner Experte über Sozialstaat„Es gibt absurde Regelungen, nach denen die reichsten Erben überhaupt keine Steuern zahlen, und das Gesetz lässt allerlei Tricks zu“

Die Kassen des Sozialstaats sind leer. Wie kann man gegensteuern?
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Herr Professor Siegloch, der Sozialstaat steht in der aktuellen Debatte sowohl politisch als auch wirtschaftlich in der Kritik. Der Fokus liegt dabei meistens auf Arbeitslosigkeit und dem Bürgergeld. Wird da nicht Fundamentales übersehen?
Der Sozialstaat ist im deutschen Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft tief verankert. Er soll für soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sorgen. Der Sozialstaat an sich wird nicht in Frage gestellt, wohl ist aber eine Debatte über die Sozialpolitik, also die konkrete Umsetzung, entbrannt.
Momentan geht es vermehrt ums Bürgergeld, also die Grundsicherung. Hier geht es um ineffiziente Doppelstrukturen durch schlecht aufeinander abgestimmte Transfers wie das Wohngeld und das Bürgergeld. Und es geht um Fehlanreize im System des Bürgergeldes, die dazu führen, dass die Menschen oft wenig Anreiz haben, mehr zu arbeiten. Aber der Sozialstaat ist viel größer als das Bürgergeld und die Grundsicherung. Er umfasst auch die Rentenversicherung und andere Sozialversicherungen.
Ist das Bürgergeld aus ökonomischer Sicht denn zu hoch bemessen?
Es geht weniger um die Höhe des Bürgergelds für den Einzelnen als eher um die Frage, ob die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, hoch genug sind. Es gibt Situationen, in denen es sich für Bürgergeldempfänger kaum oder gar nicht lohnt mehr zu arbeiten. In manchen Fällen haben sie sogar weniger Netto bei mehr Brutto.
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„Für den Einzelnen ist es schwer zu durchschauen, ob es sich da lohnt, 100 Euro mehr zu verdienen oder sich besser nicht weiterzuentwickeln“
Zum anderen gibt es ein Transparenzproblem. Es gibt einen wahren Dschungel an Unterstützungsleistungen für Geringverdiener wie zum Beispiel Wohngeld und Kinderzuschlag und die Systeme fußen zum Teil auf unterschiedlichen Berechnungsmodellen. Für den Einzelnen ist es schwer zu durchschauen, ob es sich da lohnt, 100 Euro mehr zu verdienen oder sich besser nicht weiterzuentwickeln. Die Regelungen sind so komplex, dass selbst ich, der ich mich professionell mit derlei Sachen beschäftige, da ins Grübeln gerate.

Sebastian Siegloch ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Er sagt: „Es gibt einen wahren Dschungel an Unterstützungsleistungen für Geringverdiener wie zum Beispiel Wohngeld und Kinderzuschlag und die Systeme fußen zum Teil auf unterschiedlichen Berechnungsmodellen.“
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Wenn man die Systeme besser aufeinander abstimmte, würden sich dann mehr Arbeitslose zum Arbeiten entschließen?
Das wäre die Hoffnung. Diese Mehrarbeit würde zum einen die Sozialsysteme direkt entlasten, weil der Staat weniger Transferleistungen zahlen müsste. Und zum anderen könnte daraus auch der Schritt in einen regulären Job erfolgen, dann erwirtschaften die ehemaligen Bürgergeldempfänger plötzlich Steuern und würden dem Staat so sogar Geld einbringen. Das wäre dann ein großer Schritt.
Ist die Hoffnung, dass dieser große Schritt gelingen kann, denn berechtigt?
Meine Hoffnung ist ehrlich gesagt gering. Wir kennen die Schwachstellen schon länger und bisher ist nichts passiert. Es wäre gut, die Arbeitsanreize zu verbessern und die Ungereimtheiten auszuräumen, aber das wird insgesamt auch nicht unser Haushaltsproblem lösen.
„Die Politik drückt sich gerne vor der Debatte um die Rente“
Tatsächlich fließen zwei von drei Euro aller Sozialausgaben in die Rente. Darüber wird wesentlich weniger gerne debattiert. Wie kann man das Problem aus Ihrer Sicht angehen?
Die Rente wird immer mal wieder Thema, aber grundsätzlich drückt sich die Politik gerne um die Debatte, weil hier unpopuläre Entscheidungen getroffen werden müssen, die Wählerstimmen kosten werden. Die Rentenkassen sind seit Jahren unter Druck und es ist klar, dass sich die Situation in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen wird angesichts der demografischen Entwicklung.
Jetzt haben wir verschiedene Optionen. Erstens: Wir bekommen wieder mehr Kinder. Das kann man politisch nur bedingt steuern. Zweitens: Wir erhöhen den Zuzug von Arbeits- und Fachkräften. Das wäre aus vielerlei Gründen bereichernd, ist momentan aber politisch nicht gewollt. Wir könnten drittens die Sozialabgaben erhöhen, das würde aber Arbeit noch teurer machen. Wir könnten viertens mehr Steuermittel in die Rentenkassen umleiten, die fehlen dann woanders. Oder fünftens, wir arbeiten länger. Wahrscheinlich müssen wir mehrere der Maßnahmen angehen und ich gehe davon aus, dass wir alle länger arbeiten werden. Ich halte das auch für gerechtfertigt: Wir werden zum Glück alle älter, und können und sollten auch länger aktiv und produktiv bleiben. Mit dieser Forderung verdient man sich bei manchen Menschen aber keinen Beliebtheitspreis, das ist mir schon klar.
Wie wäre es beispielsweise, wenn der ältere Polier eine Art Umschulung machen könnte und dann beratend in der Bauaufsicht arbeitete?
Aber trifft das nun nicht wieder die Ärmeren? Der Professor, der ohnehin genug Geld im Alter bekommt, kann sich ja auch zwei Jahre länger in den Hörsaal stellen. Wohingegen der vielbeschworene Dachdecker oder die Pflegerin sagen: Wir schaffen es ja schon heute kaum bis zur Rente, weil unsere Arbeit so schwer ist.
Wir müssen auf jeden Fall neue Wege beschreiten und kreativ werden. Wie wäre es beispielsweise, wenn der ältere Polier eine Art Umschulung machen könnte und dann beratend in der Bauaufsicht arbeitete. Das wäre körperlich nicht mehr anstrengend und alle würden von der jahrzehntelangen Erfahrung profitieren. Hier gibt es schon erste Programme in Deutschland. Auch in anderen Ländern wird das versucht. Wir wissen noch nicht so gut, welche Art von Programmen wirken. Hier lohnt es sich definitiv zu experimentieren. Das wird ein wichtiges Thema.
Ein beliebter Vorschlag von Arbeitnehmern ist es, die Beamten mit in die Pflicht zu nehmen. Würde es helfen, wenn sie künftig auch in die Rentenkasse einzahlten?
Auch das wäre eine Möglichkeit, um die Einnahmen der Rentenkasse kurz- bis mittelfristig zu stabilisieren. Aus ökonomischer Sicht wäre es sinnvoll. Zumal die Beamten – und übrigens auch die Selbständigen - auch eher gutverdienende Männer und Frauen sind, die die Kassen stützen würden.
Man könnte aber noch weitergehen. Ich habe schon einmal mit Kollegen den - zugegeben etwas realitätsfernen - Vorschlag gemacht, alle Sozialversicherungsabgaben zu streichen und die Sozialversicherungen über die Einkommensteuer zu finanzieren. So würde man Beamte und Selbständige auch in das System integrieren. Ein weiterer Vorteil der Vision: Es gibt nur noch ein Instrument, das ganz transparent das Einkommen besteuert. Und alle Sozialversicherungen wie Krankenkasse, Arbeitslosengeld und Renten werden aus diesem Topf bezahlt. Das wäre aus ökonomischer Sicht hocheffizient und transparent. Und in gewisser Weise auch gerechter.
Warum gerechter?
Wir haben die paradoxe Situation, dass wir Einkommen progressiv versteuern. Das bedeutet: Wer mehr verdient, zahlt auch mehr. Das empfinden wir als gerecht. Bei den Sozialversicherungen ist es aber umgekehrt. Da sinkt die Belastung je mehr ich verdiene. Das ist übrigens auch bei der Mehrwertsteuer das Problem. Schließlich sind Menschen mit niedrigem Einkommen quasi gezwungen, im Grunde ihr ganzes Geld zu verkonsumieren. Dadurch belastet sie die Mehrwertsteuer mehr als Reiche, die sparen können und auf diesen Teil dann keine zusätzlichen Steuern bezahlen.
„Die unterschiedliche Praxis bei den Sozialleistungen sorgt sicher auch hin und wieder für den Anreiz, in der Grundsicherung zu bleiben“
Das hört sich nach einer spannenden Idee an. Gibt es denn Länder, die das in eine ähnliche Richtung umgesetzt haben?
Nein, das ist ehrlicherweise schon eine Fiktion. Und es gibt eine Reihe juristischer Hürden. Aber dennoch macht es Sinn, über diese Fiktion nachzudenken. Am Ende käme man vielleicht wenigstens so weit, das System etwas zu vereinfachen und Doppelstrukturen abzubauen.
Haben Sie ein anderes Beispiel für solche Doppelstrukturen?
Es gibt momentan zwei große Instrumente, mit denen der Staat Geringverdiener bei den oftmals hohen Wohnkosten unterstützt. Der Bürgergeldempfänger bekommt in der Regel die tatsächlich anfallenden Kosten für Wohnung und Heizung erstattet über die sogenannten Kosten der Unterkunft. Das Wohngeld zielt auf Leute, die nicht mehr Bürgergeld beziehen müssten, wenn sie eine Unterstützung bei den Wohnkosten bekämen. Es ist also eine Leistung, die explizit das Ziel hat, Menschen einen Weg aus der oftmals stigmatisierten Grundsicherung zu zeigen.
Das Wohngeld richtet sich aber nicht nach den tatsächlichen Kosten, sondern orientiert sich am durchschnittlichen Mietniveau vor Ort über die sogenannten Mietstufen. Das ist das ökonomisch sinnvollere Vorgehen, weil es den Anreiz setzt, sich preisbewusst auf Wohnungssuche zu machen. Beim Bürgergeldempfänger wird Sparsamkeit nicht belohnt. Und die unterschiedliche Praxis bei den beiden Sozialleistungen sorgt zusätzlich noch für Komplexität und sicher auch hin und wieder für den Anreiz, in der Grundsicherung zu bleiben.
Warum haben wir derzeit überhaupt zu wenig Geld für die Sozialsysteme? Liegt das nur an den gestiegenen Kosten?
Nein. Wir mussten in den vergangenen Jahren unvorhergesehene Krisen bewältigen. Zum Beispiel durch den Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit einhergehende Energiekrise, und auch durch die Covid-Pandemie. Nun machen uns globale Handelskonflikte wie zum Beispiel mit den USA unter Donald Trump zu schaffen. Dazu kommen hausgemachte Probleme wie der demografische Wandel, den wir zu lange ignoriert haben, eine viel zu schwerfällige Digitalisierung, eine lähmende Bürokratie und eine große Investitionslücke, insbesondere bei der Infrastruktur. Auch geraten Kernindustrien immer mehr unter Druck, wie zum Beispiel die deutsche Autoindustrie. Hier hat man sich zu zögerlich auf das Thema E-Mobilität eingelassen und ist von anderen Nationen überholt worden, beispielsweise von China.
Die Regierung muss also jeden Euro zweimal umdrehen und sich fragen: Wollen wir uns das alles noch leisten? Oder: Was können wir uns überhaupt noch leisten? Wir sollten aber nicht nur sparen, sondern auch überlegen, wie der Staat neue Einnahmequellen generieren könnte. Beispielsweise werden Vermögen und Erbschaften in Deutschland relativ gering besteuert.
„Das Thema Betriebsvermögen sollte uns nicht davon abhalten, die Erbschaftssteuer in Deutschland zu reformieren“
Ist da eine höhere Steuerlast denn sinnvoll? Oder treffe ich damit diejenigen, die bei geringer Steuerlast in Arbeitsplätze investieren würden?
Das ist immer das Argument, ja: Wir wollen keine hohe Erbschaftssteuer, weil bei einer hohen Steuerlast die mittelständische Unternehmerin oder deren Sohn das Geschäft aufgeben müsste. Ein geschicktes Narrativ, ich würde dem aber nicht zu 100 Prozent folgen. Sicherlich sollte man Unternehmen auf keinen Fall kaputt steuern, aber es gibt Möglichkeiten, das gut zu regeln. Man könnte die Verschonung von Betriebsvermögen reduzieren und gleichzeitig die Steuerzahlungen großzügig stunden oder Ratenzahlungen einführen.
Insgesamt sollte uns das Thema Betriebsvermögen nicht davon abhalten, die Erbschaftssteuer in Deutschland zu reformieren. Der effektive Steuersatz, also die Steuereinnahmen im Vergleich zum vererbten Vermögen, ist im internationalen Vergleich sehr niedrig. Es gibt absurde Regelungen, nach denen die reichsten Erben überhaupt keine Steuern zahlen, und das Gesetz lässt allerlei Tricks zu, die man nutzen kann, um seine Steuern zu senken. Das ist nicht im Sinne des Erfinders. Hier gehen zum einen Steuereinnahmen verloren. Zum anderen wird eine soziale Schieflage zementiert. Die soziale Mobilität in Deutschland ist im internationalen Vergleich sehr gering. Vereinfacht gesagt: Wer arm geboren wurde, bleibt auch eher arm. Wer reich geboren wurde, hat sehr gute Chancen, reich zu bleiben. Die ungleiche Verteilung von Vermögen spielt hier eine wichtige Rolle. Eine höhere Erbschaftssteuer könnte langfristig die Vermögensungleichheit reduzieren, das zeigen internationale Studien. Das würde für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen – und damit auch den Sozialstaat stärken.
Sebastian Siegloch ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Exzellenzcluster Econ-Tribute an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Er forscht unter anderem zu kommunalen Finanzen, Unternehmensbesteuerung, Wohnungspolitik und Ungleichheit.