Ärztin zum Weltaidstag„Wegen Corona werden andere Infektionen total vernachlässigt“

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Weltaidstag Rote Schleife

Die rote Schleife, das Symbol für den Kampf gegen Aids

  • Aidskranke leiden noch immer unter extremer Ausgrenzung, sagt die Kölner Professorin Clara Lehmann.
  • In der Corona-Pandemie drohe nun auch noch die Gefahr, dass die Krankheit aufgrund reduzierter Testangebote in vielen Fällen zu spät erkannt wird.
  • Ein Gespräch mit der Leiterin der Infektionsambulanz der Uniklinik Köln zum Weltaidstag am 1. Dezember.

Köln – Prof. Lehmann, warum ist es jedes Jahr wichtig, dass wir spätestens zum Welt-Aids-Tag über HIV und Aids sprechen?

Weil immer noch viele Menschen weltweit betroffen sind und weil immer noch viele Menschen daran versterben. Mit HIV und AIDS ist auch häufig noch Tuberkulose oder Malaria verbunden, vor allem in Ländern des globalen Südens. Die Letalität ist immer noch hoch. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie sind viele Menschen mit HIV schlecht versorgt.

2019 haben sich rund 2600 Menschen in Deutschland mit HIV infiziert, 2018 waren es 2500 – so die Zahlen des Robert Koch-Instituts. Ist dieser leichte Anstieg tatsächlich ein Problem?

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Es ist leider nicht so, dass wir einen definitiven Rückgang der HIV-Infektionen beobachten. Anfang der 80er gab es einen Anstieg, dann sind die Zahlen gesunken. Ab dem Jahr 2000 etwa kam es leider wieder zu einem erneuten Anstieg. Und wir wissen, dass die Dunkelziffer nach wie vor sehr hoch ist.

Das ist ein Problem - vor allem bei den Jüngeren. Sie wissen oft nichts von ihrer Infektion und geben das Virus an andere Menschen weiter. Das European Centre for Disease Prevention and Control berichtet, dass es im Durchschnitt etwa 3 Jahre dauert zwischen der Ansteckung mit HIV und der tatsächlichen Diagnose.

Clara Lehmann

Clara Lehmann

Sie leiten die Infektionsambulanz der Uniklinik Köln und behandeln HIV- und Aids-Patienten. Wer meldet sich bei Ihnen?

Da gibt es zwei Extreme, die sich hier vorstellen. Es sind auf der einen Seite Menschen, die ein hohes Gesundheitsbewusstsein haben und viele HIV-Teste machen, weil sie zum Beispiel sagen, dass sie viele Sexualkontakte haben. Das ist sehr gut, denn so kann man leichter Menschen mit HIV erkennen, auch wenn sie noch keine Symptome haben wie extremen Gewichtsverlust, vergrößerte Lymphknoten oder Hautveränderungen.

Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die bislang noch nichts von ihrer HIV-Infektion wissen und deren Erkrankung schon sehr weit fortgeschritten ist. Diese sogenannten „Late Presenter“ befinden sich schon im AIDS-Stadium. Gerade während der Corona-Pandemie sind die HIV-Testangebote reduziert, so dass Spätdiagnosen und HIV-Übertragungen begünstigt werden können.

Ist es denn immer noch so, dass sich vor allem Männer, die Sex mit Männern haben, mit HIV infizieren oder ist das ein Vorurteil aus den 80ern, das sich heute nicht mehr bestätigt?

Es kommt drauf an, in welcher Region auf der Welt man sich befindet. In westlichen Teilen Europas infizieren sich weiterhin Männer, die Sex mit Männern haben, mit HIV — man darf es aber nicht nur auf diese Gruppe beschränken. Im Gegensatz dazu stellen in östlichen Gebieten des europäischen Kontinents, zum Beispiel Russland, Ukraine, Moldavien, heterosexuelle Kontakte und intravenöser Drogenkonsum die wichtigsten gemeldeten Formen der HIV-Übertragung dar. In Afrika oder Südamerika ist viel mehr die Allgemeinbevölkerung betroffen. In Afrika sind mehr als die Hälfte der Betroffenen Frauen.

Inwieweit besorgt die HIV-Patienten die Corona-Pandemie?

Sie sind sehr besorgt, weil sie eine chronische Erkrankung haben. Teilweise ziehen sie sich total aus dem Alltag zurück. Die Patienten, die wir hier betreuen, halten sich enorm an die Kontaktbeschränkungen. Sie nehmen Corona als tatsächliche Bedrohung wahr. Wobei ich sie mittlerweile beruhigen kann: Die bisherigen Daten zeigen, dass bei medikamentös gut eingestellter HIV-Infektion kein erhöhtes Risiko besteht einen schweren Covid-Verlauf zu entwickeln.

Ist das Immunsystem allerdings geschwächt, weil man keine HIV-Medikamente nimmt, kann es zu einem schweren Verlauf kommen. Manche unserer Patienten sind schon so lange von HIV betroffen, dass sie noch die Zeiten kennen, in denen es keine Medikamenten gegen HIV gab. Sie können sich noch gut daran erinnern und sagen nun, dass es doch gar nicht so schlimm sei, sich für einige Zeit zurückzuziehen und keine Kontakte zu haben. Viele HIV-Betroffene werden immer noch extrem stigmatisiert: Sie oder ihre Angehörigen werden beschimpft, wenn herauskommt, dass sie positiv sind.

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Kennen Sie auch solche Fälle?

Es ist wirklich erschreckend. Viele Menschen erleben immer wieder Ablehnung und Diskriminierung. Die Patienten ziehen sich daher zurück und halten teilweise ihre Infektion total geheim, manchmal wissen es nur ein oder zwei andere Menschen. Manche können sich nur hier in der Ambulanz öffnen. Das ist schlimm zu sehen. Das muss ein immenser Druck und eine große Last sein, dass sie manche Sorgen noch nicht einmal Zuhause auslassen können, weil zum Beispiel ihre Kinder es nicht wissen dürfen. Manche haben sogar Sorge, dass ihre Kinder anhand ihrer Medikamente erfahren könnten, dass sie HIV-positiv sind.

Warum ist die Situation immer noch so krass?

Es gibt immer noch eine enorme Stigmatisierung, immer noch eine Ausgrenzung. Es wird immer noch als etwas Schmutziges angesehen, mit HIV infiziert zu sein, weil es mit Sex zu tun hat. In keiner Weise wird die HIV-Infektion akzeptiert. Die gesellschaftliche Entwicklung ist leider langsamer als die medizinische. Es ist nicht angekommen, dass HIV nur über Blut übertragbar ist und dass die Infektion mittlerweile mit Medikamenten gut zu kontrollieren ist. Und wenn man medikamentös gut eingestellt ist, kommt es selten zu einer Übertragung von HIV.

Was braucht es, um HIV und Aids vielleicht doch noch aus der No-Go-Area herauszubekommen?

Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Wenn man gut Bescheid weiß, hat man auch keine Angst mehr. Wir brauchen wieder eine starke Aufklärungskampagne. Zudem benötigen wir mehr und leicht zugängliche Testangebote: Je früher eine HIV-Infektion erkannt wird, desto besser lässt sich die Gesundheit erhalten, indem man frühzeitig mit einer Therapie beginnt. Schließlich verhindert eine wirksame Therapie weitere HIV-Neuinfektionen.

Bringt die aktuelle Corona-Forschung eventuell Vorteile für die Forschung an einem HIV/Aids-Heilmittel?

Das sind ganz unterschiedliche Virentypen und daher unterschiedliche medizinische Herausforderungen. Es ist aber sehr wichtig, dass auch in diesen Zeiten weiter an innovativen Heilungskonzepten und Therapiemöglichkeiten für HIV und Aids geforscht wird. In der Pandemie geht es vor allem um Corona, aber alle anderen Infektionen sind immer noch da - und die werden aktuell leider total vernachlässigt.

Das Gespräch führte Jennifer Wagner

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