Politische StreitschriftJochen Ott wirbt für „solidarischen Individualismus“

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Jochen Ott und Marie-Agnes Strack-Zimmermann bei der Buchpräsentation

Köln – Wenn Politiker Bücher schreiben, holen sie sich gerne einen Vertreter aus konkurrierenden Parteien zur Präsentation ihres Werkes. Im Falle des ehemaligen Kölner SPD-Parteichefs und Landtagsabgeordneten Jochen Ott war es gleich der „Klassenfeind“. Marie-Agnes Strack-Zimmermann sitzt für die FDP im Bundestag, im Düsseldorfer Stadtrat und im Parteipräsidium. Es sei „sehr kühn“, sie zu so einem Termin zu bitten, sagte die überzeugte Liberale. Auch wenn sie vieles teile, was Ott analysiere. Seine Schlussfolgerungen und politischen Forderungen finde sie jedoch „plump“. „Aber das darf bei Sozialdemokraten sein“, spottete die Eingeladene.

Es war ein höchst unterhaltsames Streitgespräch, das sich in der Folge bei der Buchvorstellung im Greven-Verlag entwickelte und somit beste Werbung für die Texte von Ott, für den das faire Streiten zur Politik gehört. Während der Corona-Pandemie hatte der SPD-Politiker zu einer öffentlichen Debatte in die Volksbühne am Rudolfplatz eingeladen. „Von ,Unterm Strich zähl ich‘ zum neuen ,Wir‘“ lautete im Oktober 2020 der etwas komplizierte Titel für Gespräche, Impulse und Debatten auf der Theaterbühne. Das neue Buch von Ott dokumentiert einige spannende Gedanken der Veranstaltung. Gespräche mit Persönlichkeiten wie Pfarrer Franz Meuer, dem Soziologen Frank Vogelsang, dem Psychologen Stephan Grünewald, dem Autor Erik Függe oder dem Aktivisten Rainer Kippe von der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim liefern Denkanstöße für ein Zukunftskonzept, das Jochen Ott „Solidarischen Individualismus“ nennt. Er möchte „die wunderbare Freiheit der Einzelnen mit der Kraft der Solidarität verbinden“.

Keine Patentrezepte, nur Annäherungen

Patentrezepte dafür gibt es keine, nur Annäherungen. Die große Frage, welche Werte denn eine Gemeinschaft auf dem Weg zu einem „neuen Wir“ verbinden könnten, bleibt weitgehend offen. Ott beschreibt am Ende des Buchs „zehn Schritte“. Es sind politische Forderungen, die nicht alle auf Parteilinie liegen. Er fordert unter anderem die Senkung der Lohnsteuern, die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder das Recht für alle, trotz Flächenverbrauchs weiterhin zu bezahlbaren Preisen Eigenheime bauen zu dürfen. Er hofft auf ein Comeback für klassische Strukturen wie die der demokratischen Parteien, die man stärken müsse, und sucht nach neuen Orten, wo sich die verschiedenen Milieus einer Gesellschaft weiterhin begegnen können.

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Aufstiegsversprechen funktioniert nicht mehr

Ein möglicher, alle verbindender Wert in einer immer weiter in Grüppchen zerfallenden Gesellschaft könnte nach Meinung von Soziologen ein Festhalten des Leistungsprinzips und des damit verbundenen Aufstiegsversprechen sein. Ott würde dem zustimmen, wenn die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht dafür gesorgt hätte, dass das Aufstiegsversprechen für jeden nicht mehr funktioniert. „Das System produziert Gewinner und Verlierer. Und die Verlierer werden von Populisten eingesammelt“, so Ott. Dem Liberalismus sei viel zu verdanken. Aber zuletzt habe der Wirtschaftsliberalismus, wie ihn die FDP vertrete, und Gesellschaftsliberalismus, für den die Grünen stünden, zu folgenreichen Fehlentwicklungen geführt.

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FDP-Frau Strack-Zimmermann verteidigte nicht nur ihre Partei gegen die Kritik. Sie widersprach auch bei der Beurteilung der Grünen, allerdings um mit diesen noch härter ins Gericht zu gehen: Diese seien nicht liberal, sondern arrogant. Anstatt Individuen zu fördern und verschiedene Meinungen zu akzeptieren, würden sie sich anmaßen, zu beurteilen, was richtig und was falsch ist. Vor der kommenden Bundestagswahl zeigte die Abgeordnete wenig Interesse an der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Gelb und Grün. Stattdessen hätte sie „Spaß daran, zusammen mit Ott die Grünen rauszulocken“. Beide Politiker sehen die Gefahr, dass sich immer mehr aus wichtigen politischen Zukunftsdebatten ausklinken – sei es, weil sie sich nur noch für den eigenen Vorteil interessieren oder weil sie sich von Gebildeten oder lauten Interessenvertretern abgehängt fühlen.

Ott glaubt, dass ein „Aufbruch“ und ein „Neuanfang“ möglich ist. Die Ideologie, die die vergangenen 40 Jahre geprägt habe, sterbe, zitiert er im Buch den holländischen Historiker Rutger Bregman, der fordert, dass an die Stelle von Konkurrenz mehr Kooperation treten muss. Ott setzt darauf, dass sich das alte sozialdemokratische Ideal der Chancengleichheit wiederbeleben lässt, damit das Aufstiegsversprechen wieder für alle gilt. Sein Buch ist eine lesenswerte Anregung, um weiter über den richtigen Weg in die Zukunft zu streiten.

Solidarischer Individualismus. Wie wir die wunderbare Freiheit der Einzelnen mit der Kraft der Solidarität verbinden, von Jochen Ott, 112 Seiten, Greven-Verlag, 8 Euro

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