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Gefährdete DemokratieDer wahre Skandal im Fall Brosius-Gersdorf

6 min
Frauke Brosius-Gersdorf stellt den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor.

Frauke Brosius-Gersdorf stellt den Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vor. 

Nicht „wählbar“? Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die Verfassungsrichterwahl von Frauke Brosius-Gersdorf.

Das politische Sommermärchen um die gescheiterte Wahl von drei Richtern für das Bundesverfassungsgericht geht weiter, ohne dass ein Happyend in Sicht wäre. Immer schön ruhig bleiben, sagen zumal Vertreter der Union: Alles nicht so schlimm, im Herbst hauen wir den Knoten durch. Der Flurschaden ist indes schon angerichtet – und er ist gewaltig. Ablesbar wird er nicht zuletzt an Antworten auf die Wahlumfragen, die die Union inzwischen wieder mehr oder weniger auf Augenhöhe mit der AfD sehen. Nein, die Gelassenheit, die einige an den Tag legen, können wir uns ganz offensichtlich nicht leisten. Die Wahlfarce droht sich zu einer Legitimationskrise des demokratischen Systems auszuweiten.

Schuld daran ist, nach verbreiteter Einschätzung, in erster Linie der Unions-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn. Das ist nicht falsch: Spahn hat es nicht geschafft – und das ist eigentlich sein Aufgabenzentrum –, die Zustimmungsmehrheit im eigenen Lager für eine mit der SPD im zuständigen Ausschuss verabredete Wahl verlässlich zu organisieren. Wenn die Union grundsätzlich etwas gegen Brosius-Gersdorf hat, dann wäre der Ausschuss das entscheidende Gremium gewesen, das zu signalisieren. Nun aber sollen die anderen es richten und die von ihr benannten Kandidatinnen zurückziehen. Die aber tun zu Recht einen Teufel – wieso sollten sie auch die Suppe auslöffeln, die die Union sich selbst und dem kompletten Parlament eingebrockt hat?

Das alles wurde bereits hin und her diskutiert und braucht deshalb hier nicht weiter erörtert zu werden. Weniger beachtet wird indes ein Sachverhalt, der eigentlich zum Kern des Problems gehört: die Weigerung eines (mehrheitsrelevanten) Teils der Unionsfraktion, die Potsdamer Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zu unterstützen – mit der Behauptung, sie sei für Christdemokraten oder gleich „für jeden Demokraten unwählbar“. Letzteres schrieb die Potsdamer Abgeordnete Saskia Ludwig, ein „böser Geist“ vom rechten Unionsflügel, auf der Plattform X und gab damit als erste eine Linie vor, der dann bis zu 60 Unionsabgeordnete mehr oder weniger folgten.

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Die Logik hinter dem Unwählbarkeits-Argument ist erkennbar eine völlig undiskutable Zumutung

Mit der Unwählbarkeitsthese kommen wir tatsächlich zum auch demokratietheoretisch bedeutsamen Kern des Problems. Brosius-Gersdorf bewegt sich als anerkannte und in der Fachwelt weithin geschätzte Juristin für Verfassungs- und Sozialrecht – was man offensichtlich traurigerweise betonen muss, obwohl es sich von selbst versteht – im Rahmen des Verfassungsbogens, steht unstrittig auf dem Boden der geltenden Rechtsordnung und Gesetze. Wieso soll aber sie dann pauschal unwählbar sein? Es ist dieser Anwurf und keineswegs die Kandidatur von Brosius-Gersdorf, der für sich genommen rundum skandalös genannt zu werden verdient.

Dass Teile der Unionsfraktion mit ihrer maßlosen Kritik lediglich auf den Zug einer von rechten bis rechtsradikalen Medien lancierten Verleumdungskampagne gegen Brosius-Gersdorf aufspringen (wie auch gegen Ann-Kathrin Kaufhold, die zweite von der SPD benannte Kandidatin), ist unappetitlich genug. Viele der Vorwürfe – vom Verdacht des Dissertationsplagiats bis zu der Behauptung, Brosius-Gersdorf wolle Abtreibungen bis kurz vor der Geburt ermöglichen und straffrei stellen – haben sich inzwischen als Diffamierungsversuche übelster Machart herausgestellt.

Ein Hinweisschild mit Bundesadler und dem Schriftzug Bundesverfassungsgericht, aufgenommen vor dem Gericht.

Ein Hinweisschild mit Bundesadler und dem Schriftzug Bundesverfassungsgericht, aufgenommen vor dem Gericht.

Damit ist das Problem einer behaupteten „Unwählbarkeit“ aber noch nicht aufgelöst, es liegt tiefer. De facto steht hinter dem Unwählbarkeitsansinnen folgende Auffassung, die als solche freilich so offen heraus nicht formuliert wird: Wer unsere politischen Positionen teilt, ist „wählbar“, wer sie nicht teilt, ist es nicht. Wenn es danach ginge, könnten CDU/CSU-Abgeordnete von der SPD vorgeschlagenen Richtern nur dann zustimmen, wenn diese Unionspositionen vertreten. Das aber wäre erkennbar eine völlig undiskutable Zumutung. Oder ist das alles zu weit gesprungen und folgt der Logik eines fehlerhaften Umkehrschlusses?

Nein, denn tatsächlich ist es keineswegs notwendig, dass die Gegenseite den Positionen einer von einer konkurrierenden Partei vorgeschlagenen Kandidatin, um sie wählen zu können, in Teilen oder in toto zustimmen muss. Es ist ja gerade ein Clou des demokratischen Rechtsstaats und seiner Prozeduren, dass sich auf einer konsensorientierten Wertebasis – dem geteilten Bekenntnis zur Verfassungs- und Rechtsordnung – durchaus deutliche Dissense ergeben können. Demnach ist es völlig in Ordnung, wenn Unionspolitiker die Haltung von Brosius-Gersdorf zum Abtreibungsrecht oder zum AfD-Verbot oder zur Impfpflicht während der Corona-Pandemie nicht teilen oder gar ablehnen. Nur eben ergibt sich daraus keinesfalls die Konsequenz, die Kandidatin als nicht wählbar zurückzuweisen.

Dieses Argument ist auch durchaus gewichtiger als der praktische Hinweis, dass sich Brosius-Gersdorf mit ihren kritisierten Stellungnahmen keineswegs als verabscheuungswürdige Extremistin geriert, sondern in einem breiten Strom in der Mitte der Gesellschaft flottierender Auffassungen bewegt.

Auch der spätere Bundespräsident Roman Herzog war für viele auf der Gegenseite zunächst ein rotes Tuch

Als Hilfsargument gegen die Kandidatin figuriert in diesen Tagen immer mal wieder die Behauptung, (angehende) Bundesverfassungsrichter müssten die Gewähr für eine gewisse überparteiliche Neutralität (welche genau?) im Amt bieten. Dieser Hinweis aber ist entweder blauäugig oder verlogen. Tatsächlich schicken Parteien Kandidaten mit der Erwartung ins Wahlrennen, dass diese, einmal gewählt, auf der Seite der obersten Jurisdiktion die selbstredend politisch imprägnierten Rechtsauffassungen eben der jeweiligen Partei unterstützen. Andernfalls wäre es ja sinnlos, dass die Union unionsnahe und die SPD SPD-nahe Juristen aufstellt. Politik und Recht sind zwar nicht identisch, haben aber – das zu leugnen, wäre sach- und realitätsfremd – viel miteinander zu tun.

Das war übrigens seit Bestehen des Bundesverfassungsgerichts so. Jeder kannte da seine Pappenheimer. Zum Beispiel hatte die Wahl der von der SPD für das Verfassungsgericht vorgeschlagenen Bewerber Helmut Simon und Waltraud Rupp-von Brünneck unter anderem dies zur Folge: Simon und Rupp verfassten 1975 anlässlich der von der konservativen Richtermehrheit zurückgewiesenen Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch, die der Bundestag mit seiner SPD/FDP-Majorität beschlossen hatte, ein abweichendes Sondervotum. Und veröffentlichten es auch. Besagte Richter-Mehrheit empfand das Sondervotum schon damals als Affront. Nur: Der Bundestag bzw., im Fall von Rupp, der Bundesrat hatte die „SPD-Richter“ in Kenntnis ihrer Positionen auch mit den Unionsstimmen gewählt.

Nur: Der Bundestag hatte die „SPD-Richter“ in Kenntnis ihrer Positionen auch mit den Stimmen der Union gewählt. Umgekehrt unterstützte die SPD von der Union vorgeschlagene Richter, von denen die Mär ging, sie seien so schwarz, dass sie im Kohlenkeller noch Schatten würfen. Der im Amt dann bemerkenswert liberal agierende Verfassungsrichter und spätere Bundespräsident Roman Herzog etwa war für viele auf der Gegenseite zunächst ein rotes Tuch, weil er als baden-württembergischer Innenminister das Demonstrationsrecht drastisch verschärft hatte.

Diese gute Praxis scheint in diesen Tagen auf der Kippe zu stehen. Und das ohne Not. Die Tatsache, dass Union und SPD zusammen im Bundestag derzeit nicht über die notwendige Zweidrittel-Mehrheit verfügen, steht dieser Erkenntnis nicht entgegen. Den Entscheidungsträgern waren auch in der Vergangenheit die politischen Ligaturen der Wahlen zum Bundesverfassungsgericht bewusst. Aber erkennbar waren früher ebenso der Wille, durch das Wahlprozedere dem Gericht eine gewisse Repräsentativität für die in der Gesellschaft kursierenden Rechtsauffassungen zu sichern, und die Einsicht, dass eine Über-Politisierung Ansehen und Legitimität der höchstrichterlichen Rechtsprechung untergraben müsste.

Diese Einsicht ist – auch und erst recht vor dem Hintergrund der desaströsen Erfahrungen mit der Besetzungspraxis am Supreme Court der USA – nicht obsolet geworden. Wann wird sie wieder beherzigt?