Will Smith, Coda, MeTooDrei Gründe, warum diese Oscar-Verleihung historisch war

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Ariana DeBose, Troy Kotsur und Jessica Chastain mit Oscars

Köln – Im Selbstverständnis der altehrwürdigen Academy of Motion Picture Arts and Sciences sorgt Hollywood für die magischen Momente und sie selbst für die historischen: Der erste prämierte afro-amerikanische Hauptdarsteller, der erste Regie-Oscar für eine Frau, die erste Auszeichnung für eine Schauspielerin mit Behinderung. Rückblickend wirkt die Ergriffenheit, mit der die Akademiemitglieder diese verspäteten Wegmarken in ihre Geschichtsbücher eintrugen, mitunter etwas peinlich. Aber zu ihrer Zeit waren sie untrügliche Zeichen dafür, dass sich in der Welt etwas zu verändern begann.

Regina Hall belästigt Filmstars gleich im halben Dutzend

Was waren die historischen Momente der gestrigen Oscar-Nacht? Sicher nicht die pflichtschuldig abgehandelte Schweigeminute für die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine und auch nicht die eilig eingeführten und dann stiefmütterlich versendeten Publikumspreise. Schon eher wird man sich daran erinnern, wie die Komikerin Regina Hall ein halbes Dutzend männlicher Filmstars sexuell belästigte – erst mit anzüglichen Bemerkungen, dann handgreiflich im Stile übereifrigen Sicherheitspersonals. Und schließlich gab es zwei echte Momente für die Geschichtsbücher: Erstmals wurde mit „Coda“ die Produktion eines Streaming-Dienstes als bester Film ausgezeichnet. Ebenfalls zum ersten Mal gab es auf offener Bühne einen nicht gespielten Ausbruch von Gewalt.

Während ersteres allgemein erwartet und als überfällig akzeptiert wurde, kam die schallende Backpfeife, die Will Smith dem Komiker Chris Rock versetzte, aus dem Nichts. Es war ein kurzer Rückfall in klassische, paternalistische Verhaltensmuster, der in dieser Oscar-Nacht, die nicht zuletzt eine Feier liberaler Werte war, besonders aus dem Rahmen fiel.

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Mit Ariana DeBose wurde eine queere Afro-Latina für ihre Rolle in „West Side Story“ prämiert, Jane Campion erhielt für die Netflix-Produktion „The Power of the Dog“ den dritten Regie-Oscar für eine Frau (es war zugleich ihre zweite Nominierung in dieser Kategorie), Jessica Chastain würdigte in ihrer Dankesrede die LGBTQ-Gemeinschaft und mit „Coda“-Nebendarsteller Troy Kotsur wurde zum zweiten Mal ein Gehörloser ausgezeichnet. Außerdem wurde der Abend von drei Frauen moderiert, die nicht unbedingt den Eindruck erweckten, sich nach einem Beschützer alter Schule zu verzehren.

„Machen wir doch einfach mal das Gegenteil"

Amy Schumer, Regina Hall und Wandy Sykes sorgten auftragsgemäß für die kurzweiligen Momente an einem Abend, der sich auf die gewöhnliche Überlänge zog, obwohl die Preisvergaben in gleich acht Nebenkategorien vorab aufgezeichnet worden waren, um das Programm zu straffen. Regina Hall hatte einen denkwürdigen Auftritt, als sie Bradley Cooper, Timothée Chalamet, Tyler Perry und Simu Liu auf die Bühne zitierte, weil deren Covid-Tests angeblich verschwunden waren.

Sie kündigte an, die vier „bösen Jungs“ hinter der Bühne einer privaten Nachtestung zu unterziehen, unter anderem, indem sie ihnen ihre Zunge in den Rachen stecken würde. Später betatschte sie Josh Brolin und Jason Momoa, auch dies im Rahmen fiktiver Corona-Regularien.

Sämtliche Stars spielten ihre vertauschten Rollen selbstredend freiwillig, machten aber nicht den Eindruck, als hätten sie Spaß dabei  – so wurde aus der Szene ein bestechender #MeToo-Moment getreu dem alten Hollywood-Motto „Machen wir doch einfach mal das Gegenteil". Hatte man auch Hans Zimmer in die Pläne eingeweiht? Der deutsche Filmkomponist wurde aus der tiefen europäischen Nacht zugeschaltet und bedankte sich für seinen Oscar im Harvey-Weinstein-Gedächtnis-Bademantel.

Mit „Coda“ sticht Apple+ doch noch Netflix aus

Die eigentliche historische Wegmarke dieses Oscar-Jahrgangs geriet beinahe in Vergessenheit. Mit „Coda“, einem Film über eine Familie von Gehörlosen, wurde erstmals ein bester Film prämiert, der im Kino kaum zu sehen war. Im Grunde war es nur eine Frage der Pandemie, wann sich die aufstrebenden Streaming-Dienste gegen die alten Hollywood-Filmstudios durchsetzen würden.

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Allerdings lief vor wenigen Wochen noch alles auf einen Triumph der zwölf Mal nominierten Netflix-Produktion „The Power of the Dog“ hinaus. Stattdessen fing Apple+ die Konkurrenz mit einem klassischen Feel-Good-Movie ab, dessen einziger verbliebener Makel (im Sinne der Academy) darin bestehen dürfte, dass er das Remake einer französischen Komödie ist. „Coda“ spielte an den US-Kinokassen lediglich eine Million Dollar ein, zum Oscar-Favoriten wurde er durch die zeitgleich beginnende Auswertung in Apples Bezahlfernsehen. Auch „Dune“, der mit sechs Oscars nach Statuen erfolgreichste Film des Jahres, wurde mit dieser Hybridstrategie gestartet.

Im Grunde war es ein vorhersehbarer Oscar-Abend, die Experten hatten die meisten Preisträger richtig vorausgesagt. Auch mit starken Botschaften gegen Putin und oder gar einem live aus Kiew eingespielten Wolodymyr Selenskyj hatte niemand gerechnet – beides blieb geradezu folgerichtig aus. Ob Sean Penn seine beiden Oscars nun aus Protest einschmilzt, wie er dies angekündigt hatte, wird man sehen. Aber auch das interessierte eigentlich niemanden mehr, nachdem Will Smith die Ehre seiner Frau verteidigt hatte.

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