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Zerwürfnis nach TurbostartSchwarz-roter Regierungsstart – In 70 Tagen in die erste Krise

7 min
Halten Lars Klingbeil (links) und Friedrich Merz nicht zusammen, wird es schwierig werden mit Schwarz-Rot. In ihrem Kabinett gibt es Stützen und Problemfälle. .

Halten Lars Klingbeil (links) und Friedrich Merz nicht zusammen, wird es schwierig werden mit Schwarz-Rot. In ihrem Kabinett gibt es Stützen und Problemfälle. .

Union und SPD wollten für eine erste Bilanz ihrer Koalition keine 100-Tage-Schonfrist abwarten, sondern direkt liefern. Doch schon jetzt hat Merz ein Problem.

Bei niemandem von ihnen sei ein Alarmsignal angegangen, als sie die Enttäuschung für viele Bürgerinnen und Bürger besiegelten. Es habe keiner „Vorsicht!“ gerufen, als die Privathaushalte in den Gesprächen von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) von der für alle versprochenen Senkung der Stromsteuer ausgenommen wurden.

So schildert es jemand, der dabei war und sich noch immer über die Aufregung, den Vertrauensverlust und den Vorwurf des Wortbruchs wundert. Die Regierung entlaste doch die Wirtschaft, davon profitierten alle.

Die Szene zeigt ein Problem: Wer so hoch oben angekommen ist, kann das Gespür für die da unten verlieren. Den Blick dafür, dass für manche Familien ein Betrag von 100 Euro im Jahr eine nennenswerte Größe sein kann, die auch ihnen ein Gefühl von Aufbruch und Wohlstandsversprechen geben würde - für die „Politikwende“, die die neue Koalition bereits für sich reklamiert.

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Ein Turbostart sollte Tatendrang vermitteln

Das Verständnis für schwierige Entscheidungen wird aber einer der wesentlichen Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg der Regierung Merz sein. Und dafür, ob die Bitte zu Zusammenhalt ankommt. Erste Schlüsse können gezogen werden - Schwarz-Rot wollte es selbst so: keine 100-Tage-Schonfrist abwarten, sondern sich nach 70 Tagen messen lassen. Ein Turbostart sollte Tatendrang vermitteln. Merz gab vor: Die Menschen sollten bis zum Sommer einen Kurswechsel spüren. Klingbeil erwähnte bei jeder Gelegenheit „Bagger, die wieder rollen“.

Seit der Vereidigung des Kabinetts am 6. Mai sind an diesem Montag die 70 Tage vergangen. Zeit für die Bilanz.

Die Stimmung - zwischen Kitt und Sprengsatz

Die guten Vorsätze, Lehren aus der desaströsen Ampelregierung zu ziehen, und öffentlichen Streit zu vermeiden, bröckeln. Der erste Schock der missglückten Kanzlerwahl im ersten Wahlgang wurde noch am selben Tag durch eine Bestätigung von Merz im zweiten Anlauf weitgehend geheilt. Beim Wortbruch, die Stromsteuer nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger zu senken, fühlt sich die SPD von der Union im Stich gelassen: Auch nach zwei gemeinsamen Beschlüssen protestieren noch CDU-Ministerpräsidenten.

Und dann ging noch etwas richtig schief: Die für vorigen Freitag geplante Wahl der Verfassungsrichter musste vertagt werden. In den nächsten Wochen der parlamentarischen Sommerpause bleibt viel Platz für Sticheleien in den Wahlkreisen. Der Scholz-Regierung brach das mit dem Gezerre um den Haushalt im vorigen Jahr das Genick.

Dieses Schicksal muss Schwarz-Rot gegenwärtig wohl nicht fürchten, aber die Koalition ist an einem sensiblen Punkt. Vor allem in solchen Phasen spielen die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen eine enorm wichtige Rolle. Legendär ist das Vertrauensverhältnis des Christdemokraten Volker Kauder und des Sozialdemokraten Peter Struck, die trotz gravierender politischer Unterschiede die große Koalition zusammenhielten.

Das Zerwürfnis sitzt tief

Womöglich müssen die derzeitigen Amtsinhaber Jens Spahn (CDU) und Matthias Miersch (SPD) erst die gute Erfahrung machen, gemeinsam eine Krise gemeistert zu haben. Bei der Verfassungsrichter-Wahl ist das nicht gelungen. Und dieses Zerwürfnis sitzt tief.

Immer wieder ist grundsätzliches Misstrauen auf SPD-Seite wahrzunehmen - und auch vereinzelt in der Union -, ob die langjährigen Weggefährten Spahn und Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) nicht doch ein Bündnis mit der in Teilen rechtsextremen AfD austesten würden, auch wenn sie sie öffentlich hart angehen. Beide hätten vor allem in der Migrationspolitik eine größere Nähe zur AfD als zur SPD, heißt es. Ebenso falle auf, dass die Vorbehalte in der Unionsfraktion gegen die von der SPD nominierte Frauke Brosius-Gersdorf trotz anfänglicher Zustimmung stiegen, je lauter AfD und rechtsgerichtete Onlineportale die Juristin wegen Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch attackierten.

Jens Spahn (CDU), Vorsitzender der Unions-Fraktion im Bundestag, geht neben seinem Fraktionsbüro am Rande der Sitzung des Bundestags telefonierend durch ein Atrium auf der Fraktionsebene. Zuvor wurde die Absetzung des Tagesordnungspunktes der Wahl von Richtern für das Bundesverfassungsgericht vom Bundestag beschlossen.

Jens Spahn (CDU), Vorsitzender der Unions-Fraktion im Bundestag, geht neben seinem Fraktionsbüro am Rande der Sitzung des Bundestags telefonierend durch ein Atrium auf der Fraktionsebene. Zuvor wurde die Absetzung des Tagesordnungspunktes der Wahl von Richtern für das Bundesverfassungsgericht vom Bundestag beschlossen.

Oder Spahn habe seinen Laden nicht im Griff. Beides sei schlecht für die Koalition. Die Union wiederum fühlte sich früh von Miersch beim Thema Mindestlohn provoziert.

Das Verhältnis von Kanzler und Vize

Zwei Männer sind die zentralen Figuren dieser Koalition: Merz und Klingbeil. Halten sie nicht zusammen, wird es schwierig werden mit Schwarz-Rot. Der 69-jährige Christdemokrat und der 47 Jahre alte Sozialdemokrat haben nach der Bundestagswahl quasi zwangsweise ihre tiefe Abneigung überwunden, um die einzig mögliche Koalition der demokratischen Mitte zu bilden. In den ersten Wochen lief es auch überraschend gut zwischen ihnen.

Nach gutem Start wirft die abgesetzte Richterwahl Friedrich Merz (CDU, r) und Lars Klingbeil (SPD) zurück.

Nach gutem Start wirft die abgesetzte Richterwahl Friedrich Merz (CDU, r) und Lars Klingbeil (SPD) zurück.

Merz machte gleich etwas, das seinem SPD-Vorgänger Olaf Scholz nie über die Lippen gekommen wäre: Er nannte seinen Vizekanzler auch hinter den Kulissen erstens beim Namen und zweitens einen Vertrauten. So war es ihm auch wichtig, dass Klingbeil mit zur Trauerfeier für Papst Franziskus fuhr.

Klingbeil wiederum verbündete sich sichtbar mit dem Kanzler. Als AfD-Fraktionschefin Alice Weidel in der Haushaltsdebatte behauptete, Merz mache schon „seinen nächsten Aufsichtsratsposten klar“, schüttelte dieser mit dem Kopf und drehte sich mit der Geste der Empörung zu seinem Finanzminister. Der schüttelte ebenfalls sein Haupt und baute beim nächsten Angriff von Weidel - die Merz auch einen „Lügenkanzler“ nannte - vor: mit einem strahlend-spöttischen Lächeln in Richtung Kanzler. Der lachte dann auch mit.

Die abgesetzte Richterwahl wirft beide jedoch zurück. Manche SPD-Abgeordnete würden zu gerne die fehlenden neun Stimmen für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gegen Spahn wegen seiner umstrittenen Maskenbeschaffung als Gesundheitsminister in Corona-Zeiten zusammensammeln - allerdings haben SPD und Union vereinbart, stets gemeinsam zu stimmen. In der Union wiederum haben manche wenig Lust auf die verabredete Reform der Schuldenbremse.

Und dann gibt es noch einen entscheidenden Mann: CSU-Chef Markus Söder. Bisher hält sich der bayerische Ministerpräsident im Hintergrund, aber er kokettiert gerne mit seiner selbst empfundenen Eignung als Kanzler. Sollte Merz einmal wackeln, dürfte er das Feld Spahn nicht überlassen wollen.

Stützen und Problemfälle im Kabinett

Chefs brauchen ein gutes Team und das beginnt mit dem Kabinett. Der Mann, der fürs Krisenmanagement und für die Koordination der Abläufe in der Union zuständig ist, fehlte beim Koalitionsausschuss, in dem die Stromsteuer-Regelung beschlossen wurde: Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU), der als akribisch und zuverlässig gilt, entschied sich für einen Auftritt bei einem Sparkassen-Forum in seiner Heimatstadt Donaueschingen.

Dabei mögen wahltaktische Überlegungen eine Rolle gespielt haben: In Baden-Württemberg wird im Frühjahr 2026 gewählt, die Union hofft, den Grünen den Ministerpräsidenten-Posten abnehmen zu können. Koalitionschaos in Berlin allerdings dürfte die Wahlchancen der CDU nicht verbessern. Inzwischen hat Frei sein Fehlen als Fehler bezeichnet.

Als selbstbewusster Machtpolitiker positioniert hat sich Innenminister Dobrindt (CSU). Er verschärfte die Grenzkontrollen unmittelbar nach Regierungsantritt – ausgerechnet parallel zur Jubiläumsfeier des Schengenabkommens, mit dem der kontrollfreie Verkehr in der EU eingeführt wurde. Auch sonst setzt er bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten Verschärfung der Migrationspolitik auf Tempo: Über die Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte stimmte der Bundestag kurz vor Beginn des SPD-Parteitags ab. Auch diese Entscheidung dürfte zum schlechten Wiederwahlergebnis Klingbeils als SPD-Chef beigetragen haben. Dennoch haben sowohl Dobrindt als auch Söder in der SPD in dieser Hinsicht einen guten Ruf: hart bei CSU-Herzensangelegenheiten, aber verlässlich.

Deutlich weniger positiv gesehen wird das Agieren von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), die vor ihrer Rückkehr in die Politik bei einem Energieunternehmen arbeitete. Sie zeigt Interesse für die Wiederbelebung der Atomkraft, wendet sich gegen eine Digitalsteuer für Tech-Konzerne, für die nicht nur die SPD, sondern auch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer plädiert. In der SPD ist man irritiert, allerdings freut sich die Union umgekehrt auch nicht über Vorstöße von Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), etwa zum Einbeziehen von Beamten in die Rentenversicherung.

Unerwartet zu einer intern besonders umstrittenen Ministerin ist binnen kurzem Nina Warken (CDU) geworden, eine Innenexpertin, deren Aufstieg zur Gesundheitsministerin bereits als Überraschung galt. Sie verzögerte die Herausgabe des Untersuchungsberichts der Sachverständigen, Ex-Staatssekretärin Margaretha Sudhof (SPD), über Spahns Maskenbeschaffung zu Corona-Zeiten. Schließlich leitete sie den Bericht an den Bundestag weiter, ließ aber – mit fragwürdigen Begründungen - zentrale Passagen schwärzen und attackierte Sudhof scharf. „Schäbig“, fanden viele in der SPD, bissen aber die Zähne zusammen. Die Regierung solle Erfolg haben - deswegen müsse man zusammenhalten.

Gehaltene Versprechen und neue Klippen

Gemessen an ihren bisherigen Beschlüssen haben Union und SPD tatsächlich den Turbo eingeschaltet. Für die weitreichendsten Veränderungen hatten sie - noch mithilfe der Grünen - die Schuldenbremse gelockert, um die Verteidigungsausgaben zu entgrenzen, und ein 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Infrastruktur und Klimaschutz eingerichtet. Und Union und SPD einigten sich auf eine Stärkung der Wirtschaft, der Strompreis wird hier gesenkt, Firmen sollen 30 Prozent ihrer Anschaffungen abschreiben können, viele Vorschriften besonders für den Mittelstand sollen entfallen. Die Mietpreisbremse wurde verlängert, die Pendlerpauschale wird ab 2026 auf 38 Cent pro Kilometer erhöht, der Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie von 19 auf 7 Prozent gesenkt.

Die nächsten Klippen sind aber absehbar: die Reformen von Schuldenbremse, Rente und Pflegeversicherung.

Die Koalition werde „mit Mut und Zuversicht ihre Arbeit fortsetzen“. So hat es Merz in der Haushaltsdebatte im Bundestag angekündigt. Was es wohl außerdem noch braucht: mehr Gespür für die Brisanz von Themen und Konflikten. Und ein funktionierendes Krisenmanagement.