Heinsberger Landrat im Interview„Gerede vor Weihnachten wirkt jetzt wie Aktionismus“

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Landrat Stephan Pusch Heinsberg

Stephan Pusch (CDU), Landrat des Kreises Heinsberg, sitzt in seinem Büro im Kreishaus.

Herr Pusch, was ging Ihnen durch den Kopf, als der NRW-Ministerpräsident die Terminvergabe zum Impfstart für die über 80-Jährigen kürzlich für gelungen erklärte? Stephan Pusch: Dass Armin Laschet diesen Satz besser nicht gesagt hätte. Denn das Gegenteil ist der Fall. Es herrscht das reinste Chaos. Ich würde mir wünschen, dass er sich mal all diese Wut-Mails von Bürgern zu Gemüte führen würde. Alternativ sollte er sich mal eine Stunde an unser Bürgertelefon setzen und den Zorn der alten Menschen über sich ergehen lassen, die nicht verstehen, warum sie keinen Impftermin bekommen.

Am Freitag haben Sie via Facebook ihrem Ärger in einer Brandrede Luft gemacht, was war der Auslöser dieser Aktion?

Da hatte sich seit Tagen bei mir etwas angestaut. Ob Bürgertelefon oder Gesundheitsamt, überall war zusehends der Unwillen in der Bevölkerung über das Corona-Krisenmanagement spürbar. Vor Weihnachten hieß es noch, alles wird besser. Bis zum 15. Dezember mussten alle Kommunen Impfzentren hinstellen, dann aber folgte eine Hiobsbotschaft aus Berlin und Düsseldorf nach der anderen.

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Plötzlich fehlten ausreichende Mengen des Vakzins, um die Impfzentren in Betrieb zu nehmen. Fast zwei Monate später steht bei uns immer noch die große Anlaufstation mit vier Impfstraßen leer. Vom 8. Februar an soll der Kreis Heinsberg mit gut 250.000 Einwohnern pro Woche gerade einmal 1000 Impfdosen erhalten, dafür braucht es kein Impfzentrum, um diesen Stoff zu verabreichen.

In ihrer Rede wirkten sie höchst angefressen.

Zurecht. Aus heutiger Sicht wirkte das ganze Gerede vor Weihnachten wie purer Aktionismus. Ich spreche jeden Tag mit dem Leiter meines Bürgertelefons, frage nach der Stimmung. Und der gab kürzlich einen Hilferuf durch. Seitdem das Thema Impfvergabe virulent ist, werden unsere Mitarbeiter beschimpft oder sie erleben, dass alte Leute zu weinen beginnen, weil sie bei der Hotline für die Terminvergabe nicht durchkommen. Ich wollte mit meiner Rede den Druck von den Mitarbeitern nehmen.

War dies der einzige Grund?

Nein, die Krönung war dann, dass sich parallel zu den Missständen vor Ort die zuständigen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Landesregierung gegenseitig auf die Schulter klopften, wie gut man das Ganze hinbekommen habe. Da behauptetet etwa NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, man sei unterm Strich erfolgreich in die Impfkampagne gestartet. Solche Aussagen spiegeln die Realität nicht wider.

Wie sieht es denn tatsächlich an der Front aus?

An der Front ist lange nicht damit zu rechnen, dass alle Bürger und Bürgerinnen über 80 einen Termin bekommen. Zum einen fehlt es am Impfstoff, zum anderen an einer professionellen Meldelogistik. Etliche Landräte haben schon früh gewarnt, dass die KV diese Herausforderung nicht bewältigen können. Wir haben sogar einen Fragenkatalog nach Düsseldorf geschickt und auf mögliche Fehlerquellen aufmerksam gemacht, aber niemand hat auf uns gehört

Handelt die Kanzlerin richtig, indem sie sich gegen die Kritik an der Einkaufspolitik verwahrt?

Eigentlich ist die Impfstoffbeschaffung eine nationale Angelegenheit, diese Aufgabe wurde an die EU übertragen, das ist in die Hose gegangen. Und da hätte ich mir gewünscht, wenn die Kanzlerin oder Spahn klar eingeräumt hätten, dass die Impfziele nicht wie geplant erreicht werden. Und dass sie einen Fehler gemacht hätten. Punkt. Ein derart ehrliches Bekenntnis hätten die Bürger akzeptiert. Aber das ist nicht passiert. Und das hat zu einer äußerst explosiven Stimmung unter den Menschen geführt.

Warum plädieren Sie für weitergehende Lockerungen des Shutdowns nach dem 14. Februar?

Die Schulen müssen endlich wieder geöffnet werden. Wenn die Jungen und Mädchen nicht herausdürfen, dann sitzen sie den ganzen Tag vor ihrem Handy oder PC und zocken mit ihren Kumpels im virtuellen Orbit. Das birgt immense soziale Probleme. Wenn diese Schüler mit Gleichaltrigen nicht persönlich zusammenkommen dürfen und keine emotionale Intelligenz aufgebaut haben, dann bekommen wir da eine Generation, die außer Videospielen kaum noch etwas leisten kann.

Weitere Beispiele?

Peu à peu muss auch in der Wirtschaft gelockert werden. Unternehmer mailen mir, dass sie Ostern zumachen müssen, sollte der Lockdown dann immer noch gelten. Da tickt eine Zeitbombe. Wenn wir ehrlich sind, ist uns bisher nicht viel mehr eingefallen, als fast alles dicht zu machen. Hier braucht es intelligentere Konzepte. Wieso dürfen 500 Leute in einen Drogeriemarkt, aber nicht jeweils zwei Kunden gleichzeitig in einen kleinen Laden um die Ecke?

Vielleicht richtet man zum Schutz von Rentnern in Supermärkten bestimmte Slots für ein paar Stunden täglich ein, der Rest geht zu anderen Zeiten einkaufen. Mir ist es bis heute unverständlich, warum die Lokale geschlossen wurden. Wie man heute weiß, waren das nicht die Pandemietreiber. Wenn es weiter beim Lockdown bleibt, wird es bald kaum noch Gastronomen bei uns im Kreis geben.

In Heinsberg sinkt der Inzidenzwert gerade unter 100, hatten Bund und Land mit ihren harten Einschränkungen nicht doch recht?

Das ist unbenommen. Aber Fakt ist doch auch, dass bis heute kein Virologe wirklich sagen kann, welche Maßnahme wie wirken. Auch das allerorten ausgelobte Ziel der 50er-Inzidenz, in deren Rahmen man die Virus-Übertragung nachvollziehen kann, ist längst überholt. Die Gesundheitsämter verfügen inzwischen über bessere Softwarelösungen, die Prozesse haben sich eingespielt. Ich gehe mal davon aus, dass wir bei einem Inzidenzwert von 200 die Lage noch gebacken bekommen. Nun warnen die Virologen und die Bundesregierung stets vor der Gefahr der Mutationen, um weitere Einschränkungen zu begründen.

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Die Mutationen sind der große, neue Angstmacher. Ich habe jedoch nicht so sehr Angst vor dem Virus, sondern vielmehr fürchte ich mich davor, was Corona in unseren Köpfen anrichtet. Vielleicht sollte man auch mal mit einem einfachen Landrat über die Situation und die Stimmungslage vor Ort sprechen, anstatt immer nur mit dem Virus-Experten Christian Drosten von der Charité in Berlin. Derzeit herrscht bei uns in den Gemeinden das Gefühl vor, dass alle Stimmen wichtig sind, nur die Basis nicht.

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