Joachim Stamp„Das hilft uns in der Pandemiebekämpfung keinen Schritt weiter“

Lesezeit 5 Minuten
Joachim Stamp (1)

NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP)

  • Joachim Stamp spricht im Interview über den Bund, die Behörden und die Virologen in der Corona-Krise.
  • Der Familienminister von NRW übt auch scharfe Kritik an den Talkshow-Auftritten von Virologen.

Die Corona-Maßnahmen sind erneut verschärft worden. War es das jetzt – oder sind noch härtere Einschnitte denkbar? Joachim Stamp: „Das lässt sich heute seriös nicht beantworten. Wir wissen nicht, ob sich die Mutation des Coronavirus aus England auch bei uns verbreitet. Die Pandemie hat kein Drehbuch, es kann immer wieder böse Überraschungen geben. Wir dürfen nicht riskieren, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Ich rechne damit, dass wir um den 16. Januar herum ein klareres Bild von der Lage haben. Dann werden wir schnell Entscheidungen treffen.“

Das heißt, dass schon vor dem nächsten Treffen der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin Ende Januar zu einer Lockerung der Maßnahmen kommen kann?

„Sobald wir eine klare Lage über das Infektionsgeschehen haben, müssen alle Regelungen auf den Prüfstand. Wenn Pflegeheime durchgeimpft sind, die Intensivmedizin gesichert ist und wir nicht durch die Mutation eine neue Infektionsdynamik erleben, müssen Beschränkungen, insbesondere im Bildungsbereich umgehend zurückgenommen werden.“

Gibt es Erkenntnisse dazu, wie stark die Mutation bei uns im Land verbreitet ist?

„Nein, das haben wir deutschlandweit leider nicht. Das muss wissenschaftlich besser untersucht werden. Verbesserung braucht auch das Meldewesen. Es ist beispielsweise inakzeptabel, dass am Dreikönigstag in Bayern und Baden-Württemberg keine verlässlichen Zahlen erhoben wurden. Dass die Datenlage derzeit bundesweit nicht aussagekräftig ist, finde ich ungeheuerlich. In einer solchen Krise muss in der Verwaltung auch an Feiertagen notwendige Arbeit sichergestellt werden. Da muss jetzt ein Ruck durch manche Ämter gehen.“

Sie haben vor Weihnachten eine Bildungs- und Betreuungsgarantie für Kita- und Schulkinder abgegeben. War das ein Fehler?

„Die Betreuungsgarantie gilt weiterhin. Wer auf Betreuung angewiesen ist, bekommt sie auf jeden Fall – im Gegensatz zum Frühjahr, wo wir ein Betretungsverbot für Schulen und Kitas mit Ausnahmen für Kinder mit Eltern aus besonderen Berufsgruppen hatten. Bei der Bildung hätte ich mir gewünscht, dass wir mehr Regelbetrieb auch in den Schulen hätten aufrechterhalten können. Doch auch hier müssen wir in diesen Tagen noch übervorsichtig sein.“

Wie gefährlich ist der Vertrauensverlust der Bürger in die Corona-Politik?

„Die Situation ist für alle eine große Herausforderung, auch für die Politik. Auf die Entscheidungsträger wird natürlich besonders kritisch geschaut. Es muss auch weiterhin darum gehen, Schaden vom Land abzuwenden, und nicht darum, parteitaktische Spielchen aufzuführen. Den öffentlichen Streit in der Bundesregierung halte ich für unverantwortlich. Bei uns in der NRW-Koalition arbeiten wir vertrauensvoll und kameradschaftlich zusammen.“

Was läuft aus Ihrer Sicht schief?

„Welche Entscheidungen richtig oder falsch waren, werden wir alle erst im Rückblick sehen. Dennoch hätte ich es befürwortet, den Fokus viel früher und stärker auf die Hochbetagten in Pflegeheimen zu richten, als über immer stärkere Einschränkungen für alle zu diskutieren. Für ihren Schutz hätte der Bund frühzeitig mehr Testkapazitäten zur Verfügung stellen müssen.“

Haben Sie Verständnis für Pflegekräfte, die sich nicht impfen lassen wollen?

„Nein. Es gehört zur Ethik in Gesundheitsberufen, dass man alles tut, um sich selbst und auch die Patienten zu schützen. Hinzu kommt: Wenn die Risikogruppen und der medizinische Bereich durchgeimpft sind, kommen wir zu einer Stabilität, die es erlauben wird, die gesellschaftlichen Beschränkungen schneller zurück zu nehmen.“

Erzieherinnen müssen in Präsenz arbeiten - Lehrer nicht. Ist der Erzieher-Job ungefährlicher als der in der Schule?

„Kitas sind nach allen uns bislang vorliegenden Erkenntnissen zwar keine Pandemietreiber, dennoch gibt es auch hier Infektionen. Daher ist uns der Schutz der Erzieher sehr wichtig. Wir entlasten die Kitas durch Alltagshelfer, stellen FFP-2-Masken zur Verfügung und bieten Tests für die Beschäftigten an. Und wir haben die Betreuungszeiten gekürzt, damit in kleinen, festen Gruppen betreut werden kann.“

Oder haben Lehrer die bessere Lobby als die Erzieher?

„Nein. Auch für Schulen gibt es kein Betretungsverbot und auch dort wird es ja ein Betreuungsangebot geben.“

Wie sollen berufstätige Kita-Eltern ihre Kinder jetzt wegorganisieren?

„Der Bund hat angekündigt, dass es eine erhebliche Aufstockung bei den Kinderkrankentagen geben wird, die für die Betreuung auch von nicht kranken Kindern genutzt werden kann. Pro Elternteil sollen zehn Tage gewährt werden, Alleinerziehende erhalten 20 Tage zusätzlich. Das sind immerhin vier Wochen. Der Bund ist jetzt in der Pflicht, dies für alle erwerbstätigen Eltern vollumfänglich und zügig umzusetzen. Mich ärgert es, dass der Bund hier, wie schon bei der Novemberhilfe, etwas ankündigt, was in Wahrheit schlecht vorbereitet ist und in der Umsetzung ewig auf sich warten lässt. Ich würde mir hier mehr Verlässlichkeit vom Bund erwarten.“

Gut für die Eltern. Aber was sagen die Arbeitgeber dazu?

„Mir ist klar, dass die Lage Improvisation erfordert. Klar ist aber auch: Der Schaden für die Unternehmen wäre größer, wenn uns die Pandemie aus dem Ruder läuft.“

Sie begründen die Reduzierung in der Kitabetreuung mit der Notwendigkeit, Gruppen zu trennen. Die Gruppentrennung gibt es aber doch vielerorts schon längst. Wieso werden auch dort, wo es getrennte Gruppen gibt, Betreuungszeiten reduziert?

„Die Einrichtungen, die in der Lage sind, mehr Betreuung anbieten zu können, sollen das auch tun. Das Management bei den Kita-Leitungen ist sensationell gut. Darüber bin ich sehr froh. Die Fachkräfte sind Helden der Pandemie.“

Menschen sind irritiert über die unterschiedlichen Meinungen der Virologen. Wie stehen Sie dazu?

„Zum wissenschaftlichen Diskurs gehören kontroverse Diskussionen über Annahmen und Hypothesen. Talkshows sind aber nicht das geeignete Format dazu. So ist eine Situation entstanden, in der sich jeder auf seinen Lieblingsvirologen berufen kann. Das führt zu unversöhnlichen Positionen, die in den sozialen Netzwerken aufeinandertreffen. Das hilft uns in der Pandemiebekämpfung keinen Schritt weiter. Ich würde mir einen stärkeren Austausch der Wissenschaft ohne laufende Kameras wünschen. Zudem wäre es wichtig, wenn Wissenschaftliche Akademien wie die Leopoldina nicht nur bei der Ausarbeitung von Beschränkungen helfen, sondern die wissenschaftlichen Experten auch verantwortbare Schritte aus der Krise aufzeigen.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Was würde ein Wechsel von Laschet in die Bundespolitik für die Koalition in NRW bedeuten?

„Das würde nichts grundlegend ändern. Ich würde mir wünschen, dass das gute Koalitionsklima aus NRW auf den Umgang der Handelnden in Berlin abfärben würde.“

Das Gespräch führte Gerhard Voogt 

KStA abonnieren