Delta-Variante in DeutschlandKassenarzt-Chef beklagt Hysterie und Panikmache

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Polizei Portugal

Bundespolizisten kontrollieren am Flughafen in Frankfurt Passagiere eines Fluges aus Portugal.

Andreas Gassen ist Orthopäde, Unfallchirurg und Rheumatologe. Seit März 2014 ist er Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Sie ist die Dachorganisation der 17 regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und die politische Interessenvertretung der rund 180.000 in Praxen ambulant tätigen Ärzte und Psychotherapeuten.

Herr Gassen, teilen Sie die Besorgnis wegen der Ausbreitung der Delta-Variante in Deutschland?

Wir müssen erst einmal festhalten, dass wir so niedrige Infektionszahlen haben wie vor einem Jahr. Gleichzeitig breiten sich Mutationen aus, was nun wirklich bei einer Virus-Pandemie keine Überraschung ist. Die Delta-Variante dürfte bereits Ende Juli hierzulande die dominierende Mutante werden. Aber deshalb müssen wir nicht in Panik verfallen. Ich halte die Debatte derzeit für in Teilen fast schon hysterisch. Es ist aber unverantwortlich, immer wieder mit Endzeitszenarien zu operieren. Die Bevölkerung hat ein Anrecht darauf, dass man sich seriös mit allen neuen Entwicklungen der Pandemie auseinandersetzt und mit angemessener Ruhe und Vorsicht reagiert.

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Wie kommen Sie zu Ihrer Einschätzung?

Delta ist ansteckender, aber nach heutigen Erkenntnissen wohl nicht wesentlich gefährlicher als die bisherigen Varianten. Es kann durchaus sein, dass die Infektionszahlen wieder hochgehen. Aber es gibt bisher keine fundierten Hinweise darauf, dass dadurch auch der Anteil der schweren Erkrankungen wieder steigt, zumal Geimpfte zuverlässig geschützt sind. Wir müssen das weiter genau beobachten. Aber der von einigen verbreitete Alarmismus ist völlig fehl am Platz.

Gleichwohl gibt es eine Debatte über eine Verschärfung der Reiseregeln. Was halten Sie davon?

Die Bundesregierung ist dabei, Vertrauen in der Bevölkerung zu verspielen. Die Menschen haben zumindest ein Mindestmaß an Verlässlichkeit verdient. Portugal mit seinen harten Lockdowns wird lange als Musterland der Corona-Bekämpfung dargestellt, für das Reisen wird mit großem Brimborium der digitale Impfpass eingeführt. Doch dann wird über Nacht der Urlaub in Portugal quasi unmöglich gemacht, weil alle Rückreisende – ob geimpft oder nicht - in 14-tägige Quarantäne geschickt werden. Und das wird ja nicht das letzte Land gewesen sein, bei dem so verfahren wird.

Aber die Infektionslage ist nun einmal so wie sie ist.

Natürlich muss man abwägen. Wir wissen aber, dass vollständig Geimpfte auch gegen Delta hervorragend geschützt sind. Daher darf man nicht alle über einen Kamm scheren. Man hat nicht zwingend den Eindruck, die Regierung habe dazu gelernt. Sie reagiert stumpf mit denselben Mechanismen wie vor einen Jahr, obwohl heute die Situation ganz anders ist. Sie hat aus eineinhalb Jahren Pandemie offensichtlich nicht viel gelernt. Das ist schon etwas deprimierend.

Was meinen Sie konkret?

Es war schon immer falsch, nur starr auf die so genannte Inzidenz zu schauen. Aber angesichts des enormen Impffortschritts wird es immer absurder, das weiter zum Maßstab des Handelns zu machen. Wenn immer mehr Menschen durch eine Impfung vor schweren Krankheitsverläufen geschützt sind, kann und darf die Infektionszahl nicht die entscheidende Rolle spielen. Wir können eine gewisse Inzidenz akzeptieren und das werden wir perspektivisch auch müssen. Aber ich befürchte, wenn die Zahlen hoch gehen, wird es wieder Forderungen nach einem Lockdown geben.

Sie plädieren also eher für eine Lockerung der Reiseregeln?

Ich plädiere für eine rationale Vorgehensweise. Für vollständig Geimpfte ist jedenfalls keine Quarantäne notwendig. Als zusätzliche Absicherung könnte man allenfalls eine Testpflicht nach einigen Tagen vorschreiben. Und ob Ungeimpfte, aber negativ Getestete, wirklich 14 Tage in Quarantäne müssen, muss sicherlich hinterfragt werden.

Viele Menschen sehen mit Unbehagen, dass die Fußball-EM vor Zehntausenden Zuschauern in Stadien abgehalten wird, noch dazu in Ländern mit hoher Delta-Verbreitung. Teilen Sie das?

Man kann sicherlich auch in Zeiten einer Delta-Variante Fussballspiele mit Zuschauern veranstalten. Aber umso mehr müssen die Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden. Bei vollen Stadien wie zum Beispiel in Budapest, wo zwischen die Zuschauer kein Blatt Papier mehr passte, geht das nicht. Das ist auch ein völlig falsches Signal an die Öffentlichkeit. Aber wenn in einem Stadion mit einer Kapazität von 90.000 Menschen 10.000 Zuschauer mit Abständen sitzen, halte ich das für vertretbar. Und zur Delta-Variante in England gilt das, was ich schon gesagt habe: Die Infektionszahlen dort steigen, es gibt aber bisher keine relevanten Anstiege des Anteils Schwerstkranker oder Toter.

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Der SPD-Politiker Karl Lauterbach hat die Ständige Impfkommission (Stiko) aufgefordert, angesichts der Verbreitung der Delta-Variante nun doch eine Empfehlung zur Impfung der 12- bis 17-Jährigen auszusprechen. Zählen Sie das zur Panikmache?

Ja. Und es ist hochproblematisch und wissenschaftlich fragwürdig. Die Stiko hat nach aktueller Datenlage entschieden – da sitzen die wirklichen Experten für Impfungen. Auch unser Forschungsinstitut ZI hat sich alle Daten und Studien aus Großbritannien noch einmal sehr genau angeschaut. Es konnte bisher keine belastbaren Zahlen finden, dass mit Delta infizierte Kinder und Jugendliche in England tatsächlich schwerer erkranken und deshalb vermehrt im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die Stiko sollte daher bei ihrer Haltung bleiben, es sei denn, die wissenschaftlichen Erkenntnisse verändern sich in der nächsten Zeit. Es ist unverantwortlich, jetzt den Druck auf die Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern zu erhöhen.

Es bleibt also Ihrer Meinung nach dabei, dass bei 12- bis 17-Jährigen das Gesundheitsrisiko einer Impfung höher ist als bei einer Corona-Erkrankung?

Nach allen uns zur Verfügung stehenden Daten ist das nach wie vor gültig. Denken Sie an die aufgetretenen Herzmuskelentzündungen bei Jungen im Teenageralter in den USA und Israel nach einer Impfung mit mRNA-Impfstoffen. Das heißt aber nicht, dass wir die Jüngeren nicht schützen können. Wir müssen vielmehr einen Schutzschirm um sie aufbauen. Deshalb sollten sich die Eltern und auch die Lehrer unbedingt impfen lassen. Denn wir wissen, dass eher die Lehrer die Schüler anstecken als umgekehrt. Klar ist aber auch, dass sich die Risikoeinschätzung bei der Impfung ändert, wenn sich Delta als gefährlicher in dieser Altersgruppe erweisen sollte.

Wie sollen die Schulen wieder nach den Sommerferien starten?

Angesichts der in den vergangenen Monaten entstandenen enormen Bildungslücken und Schäden durch die soziale Isolation muss alles dafür getan werden, dass die Kinder wieder normal zur Schule gehen können. Dazu gehört möglichst auch ein Unterricht ohne Masken. Man sollte davon ausgehen können, dass längst alle Schulen mit den nötigen Lüftungsanlagen ausgestattet sind. Sonst wäre das nach eineinhalb Jahren Pandemie ein echtes Regierungsversagen.

Wie läuft die Impfkampagne in den Praxen?

Problematisch ist, dass die Praxen nach wie vor nur sehr kurzfristig wissen, wie viel Impfstoff geliefert wird. Das macht das Einladungsmanagement sehr schwer. Das hat im Übrigen auch dazu geführt, dass sich Impfwillige vielfach an mehrere Stellen Termine gebucht haben, die dann oft nicht abgesagt werden, wenn irgendwo die Impfung geklappt hat. Das hemmt natürlich die ganze Kampagne.

Die These, wonach die Absagen auf eine Impfmüdigkeit zurückzuführen sind, teilen Sie also nicht?

Nein, das ist mir zu pauschal. Vielerorts ist die Nachfrage noch immer höher als das Angebot. Aber ich befürchte, dass die Politik selbst für Impfmüdigkeit sorgt. Wenn bei jeder neuen Mutante Panik verbreitet wird, sagen sich nicht wenige, ist doch eh für die Katz, ich lasse es sein mit dem Impfen. Wenn man den Menschen dann auch noch sagt, dass ihnen beim Reisen eine Impfung gar nichts nützt, weil sie bei der Rückkehr alle in Quarantäne gesteckt werden, treibt das die Impfkampagne auch nicht gerade an.

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