Dramatisches SaisonfinaleRot-Weiss Essen hofft auf den Tag der Erlösung

Lesezeit 6 Minuten
PLUS - Aufstiegsrennen Rot-Weiss Essen - 1

Fans von Rot-Weiss Essen unterstützen ihre Mannschaft beim Spiel in Lotte.

Lotte – Das verträumte Gehöft am Ortsrand ist ein erstaunlich ruhiges Plätzchen. Hühner gackern, zwei Pferde traben über die Weide. Gut 300 Meter süd-östlich davon treffen sich am Autobahnkreuz „Lotte/Osnabrück“ die vielbefahrene A1 und die A30. Noch viel näher, nämlich auf der anderen Straßenseite, liegt das Stadion am Lotter Kreuz, Heimstätte des noch Regionalligisten Sportfreunde Lotte. Hier empfängt der SV Rödinghausen als Gastgeber den Traditionsverein Rot-Weiss Essen – kurz RWE genannt. Aus Sicherheitsgründen musste der Verein aus dem Kreis Herford sein Heimspiel in das knapp 50 Kilometer entfernte Lotte verlegen. Es ist der vorletzte Spieltag der Saison. Und die Essener Fans erwarten nicht weniger als die Erlösung. Den Aufstieg in die Dritte Liga. Raus aus der Regionalliga, zurück zu bundesweiter Aufmerksamkeit im Profifußball.

2000 sind an diesem Tag aus Essen angereist. Unter ihnen ist auch Michael Josten. Seit 1971 begleitet der 61 Jahre alte Reisekaufmann RWE durch sämtliche Höhen und Tiefen. Josten ist mit einem Fan-Bus der Fan- und Förderabteilung (FFA) hergekommen. Wie er sich fühlt? „Ich bin schon nervös, aber auch positiv gestimmt.“

Konkurrent Preußen Münster patzt

Die Hoffnung ist nicht unberechtigt. Am Vorabend hat der große Konkurrent um den Aufstieg gepatzt. In Wiedenbrück kam Preußen Münster nicht über ein Unentschieden hinaus. Die Essener können deshalb mit einem Sieg die Tabellenführung zurück erobern. „Das Spiel gestern habe ich mit sieben Leuten im Internet geguckt. Ich hatte noch nie einen so hohen Puls bei einem Spiel ohne RWE-Beteiligung. Danach musst Du dann erstmal versuchen zu schlafen“, erzählt Dominik Rissewyck. Der 26 Jahre alte Heilerzieher ist seit 2004 Fan der „Roten“, wie die Mannschaft von der Hafenstraße genannt wird. „Heute holen wir uns die Tabellenführung zurück. Bitte lass uns das irgendwie gewinnen.“

Alles zum Thema RWE

PLUS - Aufstiegsrennen Rot-Weiss Essen - 2

Dominik Rissewyck leidet seit 2004 mit RWE.

Das Warten auf die Erlösung währt in Essen schon lange. 2020/21 war RWE knapp gescheitert und musste der zweiten Mannschaft von Borussia Dortmund den Vortritt lassen. Neunzig Punkte reichten nur zu Platz Zwei. Dabei war Rot-Weiss Essen nach zwanzig ungeschlagenen Partien in Serie sogar noch Herbstmeister geworden. Zudem hatte die Mannschaft aus dem Essener Norden im DFB-Pokal für Furore gesorgt und nacheinander Arminia Bielefeld (Bundesliga), Fortuna Düsseldorf (2. Bundesliga) sowie Bayer Leverkusen (Bundesliga) aus dem Wettbewerb geworfen. Erst im Viertelfinale beendete Zweitligist Holstein Kiel den wilden Ritt.

Einst war Rot-Weiss-Essen Meister und Pokalsieger

Die Geschichte von Rot-Weiss kann getrost als bewegt bezeichnet werden. In der Nachkriegszeit waren die Essener noch eine feste Größe in der Oberliga West, der damals höchsten Spielklasse. Man feierte Erfolge: Pokalsieg 1953, die Meisterschaft 1955. Es folgte ab den 1960er Jahren eine Achterbahnfahrt durch die ersten beiden Ligen.

Mitte der 80 Jahre begann der Stern der Essener weiter zu verblassen. Der Verein pendelte zwischen der zweiten und dritten Liga. In der Saison 1998/99 musste man erstmals viertklassig antreten.

Highlight Pokalfinale

Einziges Highlight der 1990er Jahre war das Erreichen des DFB-Pokalfinales von 1994. Dort musste sich RWE Werder Bremen mit 1:3 geschlagen geben. Übrigens an einem 14. Mai. In diesem Jahr soll das Datum dem Verein mehr Glück bringen. Es soll der „Tag der Erlösung“ werden, wie man unter den Anhängern hier sagt.

PLUS Aufstiegsrennen Rot-Weiss Essen - 3

Großer Andrang im Stadion am Lotter Kreuz.

Nach der Jahrtausendwende gelang dem Verein für zwei Spielzeiten die Rückkehr in die 2. Bundesliga. Nach dem Abstieg 2006/07 folgte allerdings der freie Fall. Ein Tiefpunkt der Vereinsgeschichte war der 2010 durch ein Insolvenzverfahren ausgelöste Zwangsabstieg in die fünfte Liga. Seit der Saison 2011/12 sind die Essener Dauergast in der Regionalliga West. Bemerkenswert ist, dass der Zuschauerschnitt in diesem Zeitraum konstant über 6.000 Fans lag. Eine Größenordnung von der mancher Zweitligist träumt. Die treue Fangemeinde ist ein Erbe der Zeit, in der Spieler wie Weltmeister Helmut Rahn, Kultstürmer Willi „Ente“ Lippens, Horst Hrubesch oder Frank Mill ihre Schuhe an der Hafenstraße schnürten.

Dieses Jahr soll es nun endlich mit der Rückkehr in den Profi-Fußball klappen. Aber RWE wäre nicht RWE, würde alles glatt laufen. Im Dezember führten die Essener bei einem Spiel weniger noch die Tabelle vor dem Wuppertaler SV und Preußen Münster an. Während der Winterpause begann die Unruhe. Scheinbar hatten die Münsteraner RWE-Kapitän Dennis Grote ein Angebot unterbreitet. Daraufhin bat der Spieler möglichst schon im Winter wechseln zu dürfen. In der Folge trennte sich RWE von Grote, der schließlich zu Wacker Innsbruck in die zweite österreichische Liga ging. Preußen Münster wollte sich auf Anfrage nicht zu dem Vorgang äußern.

Für Fan Michael Josten eine unnötige Aktion: „Das mit Dennis Grote war sehr unglücklich, der tat mir eigentlich nur leid. Er hat zwar einen Fehler gemacht, ist aber meiner Meinung nach missbraucht worden. Es war dann aber richtig ihn nicht mehr spielen zu lassen.“

Böllerwurf beim Spitzenspiel

Damit nicht genug. Beim Spitzenspiel zwischen Essen und Münster im Februar warf ein Zuschauer in der Schlussviertelstunde beim Stand von 1:1 einen Böller in den Innenraum. Dabei wurden zwei Auswechselspieler der Preußen verletzt. Die Begegnung wurde abgebrochen und mit 2:0 für die Gäste gewertet. Ein herber Rückschlag. Das Hinspiel hatten die Essener noch nach einem 0:2-Rückstand mit 3:2 gewinnen können.

Anfang März kam es noch dicker. Durch einen Corona-Ausbruch in der Mannschaft mussten mehrere Partien verlegt werden. In der Folge kam es zu einer Ergebnis-Krise und Münster übernahm die Tabellenspitze. Für weitere Unruhe sorgte ein Wechsel im Tor bei Rot-Weiss. Der bisherige Stammtorhüter und nach dem Abgang Grotes zum Kapitän ernannte Daniel Davari mochte sich offenbar mit seiner Reservistenrolle nicht anfreunden. Mitte April wurde er ebenfalls suspendiert.

Trainer Christian Neidhart musste gehen

Nach dem Aus im Halbfinale des Niederrhein-Pokals Anfang Mai musste zu guter Letzt Trainer Christian Neidhart gehen. Trotz einer guten sportlichen Bilanz des Übungsleiters war bei den Verantwortlichen an der Hafenstraße die Angst vor dem Scheitern offenbar zu groß. „Der Trainerrauswurf war schon sehr krass, aber am Ende überfällig. Wer weiß, was nach der Saison da noch so alles rauskommt“, fragt sich Josten. „Aber als RWE-Fan ist man ja Kummer gewöhnt.“

Das könnte Sie auch interessieren:

Nach dem Schlusspfiff am Lotter Kreuz sind Mannschaft und Fans ihrer Erlösung einen großen Schritt näher gekommen. Gewonnen. 3:0. Tabellenführung. Michael Josten feiert mit seinen Freunden und einigen hundert Essenern im Gästeblock den Erfolg. Rot-Weiss Essen hat es nun am letzten Spieltag selbst in der Hand. „Ich werde von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde nervöser werden. Als Essener hat man da immer den Köttel in der Buxe, dass es noch schief geht“, sagt Josten. Dramatischer könnte die Entscheidung kaum fallen. Essen und Münster sind punktgleich, lediglich getrennt durch die um zwei Treffer bessere Tordifferenz zugunsten von RWE. Während es Rot-Weiss im Stadion an der Hafenstraße mit dem Namensvetter aus Ahlen zu tun bekommt, muss Münster im heimischen Preußenstadion gegen die zweite Mannschaft des 1. FC Köln ran.

PLUS - Aufstiegsrennen Rot-Weiss Essen - 4

RWE-Fans jubeln über das Tor zum 2:0.

Langsam machen sich immer mehr Essener auf den Heimweg. „Auf Nimmerwiedersehen, Lotte“, ruft einer im Vorbeigehen. „Hier will ich nieder wieder hin müssen“, schiebt ein anderer hinterher. „Schöne Auswärtsspiele wie zu 1860 München und endlich wieder viele Gästefans bei uns an der Hafenstraße“, wünscht sich Josten noch. „Über die dritte Liga habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber sollten wir am Samstag in Führung gehen werde ich wahrscheinlich durchgehend heulen“, ahnt Rissewyck. Sie alle hoffen auf die Rückkehr in die bundesweite Aufmerksamkeit: Am Samstag, dem 14. Mai 2022 – dem „Tag der Erlösung“ für Rot-Weiss Essen.

KStA abonnieren