Historikerin Hedwig Richter„Ich würde mir wünschen, dass Scholz schneller handelt”

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Hedwig Richter

Hedwig Richter, Historikerin an der Universität der Bundeswehr München.

Was folgt aus der von Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“? Was kommt nach der Vorkriegszeit? Wie muss Deutschland den Staaten Mittel- und Osteuropas gegenübertreten? Ein Interview mit Hedwig Richter, Historikerin an der Universität der Bundeswehr München,

Der Bundeskanzler hat eine „Zeitenwende“ ausgerufen. Was bedeutet das für die Historikerin? Endet jetzt eine Vorkriegszeit, die wir nie als solche wahrgenommen haben?

Hedwig Richter Ob es tatsächlich eine Zeitenwende war, wird sich erst später zeigen. Historisch erscheint mir aber doch bemerkenswert, dass sich einige Entwicklungen, die sich schon vor längerer Zeit angekündigt haben, sehr beschleunigen. Etwa, dass einer Mehrheit der Deutschen klar geworden ist, wie wichtig es ist, Demokratie und Freiheit im Notfall auch mit Waffen verteidigen zu können. Eine sehr traurige Wahrheit. Und eine Zeitenwende würde auch bedeuten, dass wir endlich die Umweltzerstörung ernst nehmen und bereit sind, sie mit einer klugen Sicherheitspolitik kombinieren. Auch danach sieht es aus.

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Constantin Seibt schreibt in einem Essay mit dem Titel „Russisches Kriegsschiff, fick dich“: „Wir sind zurück im 20. Jahrhundert. Zurück im Kampf der Systeme: Demokratie oder Diktatur. Es ist wieder Zeit, sein Lager zu wählen: Freiheit oder Faschismus.“ Ist es so eindeutig? Leben wir global in einer Parallele zu den 1930er Jahren?

Es ist zu hoffen, dass der Zynismus gegenüber der Demokratie, wie ihn die extremistischen Ränder pflegen, tatsächlich abnimmt. Wir müssen doch sehen, wie kostbar die Freiheit ist, die Demokratie, bei allen Mängeln! Deswegen wäre ich auch sehr für die weitere Stärkung der europäischen Einigung und der transatlantischen Beziehungen; übrigens eines der wenigen Mittel gegen Trump und den Trumpismus, das Europa in der Hand hat. Ansonsten denke ich, dass wir sehr, sehr weit von den 1930er Jahren entfernt sind. Vor und nachdem die Nazis an die Macht kamen, bejubelt von der Bevölkerung, wollte eine Mehrheit nichts von Demokratie wissen. Heute ist eine überwältigende Mehrheit in Deutschland, aber auch weltweit, für Demokratie. Wir leben in der Europäischen Union immer noch in einer historisch einmaligen Situation von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand: alles entscheidende Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie.

Der frühere EU-Ratspräsident und polnische Premier Donald Tusk schrieb, „die Deutschen müssen die Ukraine vorbehaltlos unterstützen, wenn sie uns glauben machen wollen, dass sie Lehren aus ihrer Geschichte gezogen haben“. Sehen Sie das ähnlich?

Ja. Deutsche haben aufgrund des Zweiten Weltkriegs selbstverständlich eine besondere Verantwortung gegenüber Russland, und es ist richtig, dass sich unsere Politikerer:innen mit ihren Kolleg:innen in Europa lange um einen Frieden bemüht haben. Aber viele deutsche Politiker:innen sind deswegen erstaunlich blind gegenüber den Verbrechen Russlands gewesen – und haben dabei gerne die historische Verantwortung gegenüber der Ukraine übersehen. Dabei haben Deutsche auf ukrainischem Boden unfassbare Massaker verübt und Millionen ermordet. Um nur einige Zahlen zu nennen: Das Massaker von Babyn Yar, in dem in kürzester Zeit über 30.000 Kinder, Männer und Frauen ermordet worden sind, fand vor den Toren Kiews statt; oder die Stadt Charkiw, von der wir heute so viel hören: Dort ließen die Deutschen allein im Jahr 1942 14.000 Menschen verhungern.

Olaf Scholz sieht seine Hauptaufgabe darin, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Im Deutschland außerhalb von Twitter wird er für seine „besonnene Haltung“ gelobt. Welche kollektiven Ängste greift Scholz auf? Und warum spielen diese in Deutschland eine größere Rolle als in den Nachbarstaaten?

Ich würde mir wünschen, dass Olaf Scholz schneller und entschiedener handelt. Aber er hat ja auch den nicht ganz einfachen Job, Teile der Sozialdemokratie von der Zeitenwende zu überzeugen und sie aus alt-bundesrepublikanischen Komfortzone zu holen. Zu der gehörte für manche auch dieses merkwürdige Dogma der Äquidistanz: Irgendwie seien uns Washington und Moskau gleich nah. Aber dass Scholz nur bremst und ängstlich ist, das stimmt einfach nicht. Die Bundesregierung unterstützt inzwischen die Ukraine massiv auf vielen Ebenen.

Hätte Deutschland mehr für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion tun müssen, ihre Angst vor einer russischen Bedrohung ernster nehmen müssen?

Ja, auf jeden Fall. Es war ein schlimmer Fehler, dass die Bundesrepublik sich trotz der offensichtlichen Verbrechen Putins und selbst nach der Krim-Besetzung auf die enge Kooperation in der Energiepolitik eingelassen hat. Angela Merkel und die Christdemokratie haben das mit Fleiß befördert. Zur Aufarbeitung gehört auch: Diese Politik war eine Art bundesrepublikanischer Konsens – Ost und West, rechts und links. Nur wenige haben gewarnt. Und in der Energiepolitik hat sich die konservative Geringschätzung des Umweltschutzes auf ganz eigene Weise gerächt.

Der Zweite Weltkrieg ist wieder allgegenwärtig - Traumata brechen wieder auf, Ängste kommen zurück, auch die plündernden, vergewaltigenden russischen Soldaten wecken Erinnerungen an den Einmarsch der Roten Armee 1945. Was passiert, wenn diese Bilder den aktuellen Krieg überlagern?

Man sollte mit Vorstellungen wie einem kollektiven Trauma vorsichtig sein. Wer eine feministische Außenpolitik verfolgt, wie die jetzige Bundesregierung, wird solche Verbrechen nicht vergessen und alles tun, dass sie ein Ende finden. Dazu gehört auch, dass demokratische Armeen besonders für solche Themen sensibilisiert werden. Wie viele Deutsche denke ich aber bei Roter Armee und 1945 dennoch zuerst an die Befreiung der Welt von der Nazi-Herrschaft. Vergewaltigungen sind dennoch mit nichts zu entschuldigen. Schrecklicherweise hat die Sowjetunion, hat Russland sexuelle Gewalt weiterhin systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Auch das wusste man spätestens seit Tschetschenien.

Der 77. Jahrestag des Kriegsendes wird von Putin und seinen Unterstützern mit Sicherheit als propagandistische Show genutzt – Sieg über den Faschismus damals und heute. Die Ukraine wiederum setzt im Gedenken den deutschen Vernichtungskrieg mit dem russischen heute gleich. Wie ist ein würdiges Gedenken dieses Jahr möglich?

Dieses Jahr bietet es sich bestimmt an, besonders an die von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern in Mittel- und Osteuropa zu erinnern, die später unter dem sowjetischen Imperialismus leiden mussten. Und es sollte sich endlich überall in Deutschland die Erkenntnis durchsetzen, dass diese Länder weder die Verfügungsmasse Russlands sind noch sein dreckiger Hinterhof, nur weil Moskau sie über Jahrzehnte unterdrückt und vergewaltigt hat. Was für ein Zynismus. Auch hier: Viel zu viele Deutsche haben aus der Geschichte nur den Respekt vor Russland gelernt – der wichtig ist –, aber dabei die anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten vergessen.

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