Die Vorgänger von LützerathDie Dörfer, die für die Braunkohle starben

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Nordrhein-Westfalen, Erkelenz: Polizeiautos und Polizisten stehen vor der Ortschaft Lützerath, die zur Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II abgebaggert werden soll.

Nordrhein-Westfalen, Erkelenz: Polizeiautos und Polizisten stehen vor der Ortschaft Lützerath, die zur Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler II abgebaggert werden soll.

Mit Lützerath verschwindet das letzte Dorf für den Braunkohleabbau. Allein im Rheinischen Revier wurden seit den Fünfzigerjahren an die 60 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Dies ist ihre Geschichte.

Mit Lützerath verschwindet das voraussichtlich letzte Dorf für den Braunkohleabbau. Allein im Rheinischen Revier wurden seit den Fünfzigerjahren an die 60 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht – und mit ihnen historische Burgen, Kirchen und Klöster. Dies ist ihre Geschichte.

Spätestens seit dem Wochenende hat der kleine, sterbende Ort Lützerath Symbolstatus. Mehrere Tausend Menschen waren in das Dorf gezogen, um ihrem Ärger über die geplante Räumung Luft zu machen. Ein Dorfspaziergang wurde veranstaltet, ein Gottesdienst abgehalten, ja selbst die Band AnnenMayKantereit sang und solidarisierte sich mit den Aktivistinnen und Aktivisten. Am Rande kam es, so die Darstellung der Polizei, zu Zusammenstößen mit den Ordnungshütern.

Lützerath längst ein Symbol des Widerstandes

Lützerath ist inzwischen, ganz ähnlich wie der Hambacher Forst vor ein paar Jahren, ein Symbol des Widerstands, ein Zeichen gegen ein „Weiter so“ in der Klimapolitik. Der Ort soll dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen – unter ihm liegen Millionen Tonnen Kohle, die nach ihrer Förderung klimaschädlich verfeuert werden sollen. Schon vor Jahren hatten Aktivistinnen und Aktivisten in Lützerath Camps und Baumhäuser errichtet, regelmäßig finden seither Demonstrationen und Protestveranstaltungen statt – der Ort wurde in „Lützi“ umgetauft. Am Wochenende wurde aus dem Protest eine Großveranstaltung.

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Lützerath ist aber nicht nur ein Symbol des Protests, sondern auch das Symbol einer jahrzehntelangen Zerstörung, für die sich – bis auf die Tausenden Betroffenen – jahrzehntelang kaum jemand interessierte. Das Dorf ist das voraussichtlich letzte seiner Art, das im rheinischen Braunkohlerevier für den Tagebau weichen muss – die Nachbarorte sollen, anders als zunächst geplant, nun doch bleiben. Zuvor hatte das Schicksal bereits zahlreiche andere Dörfer ereilt. In Zahlen: fast 60 allein in Nordrhein-Westfalen.

Bergbau seit dem 17. Jahrhundert

Die Geschichte des Rheinischen Braunkohlereviers, dem heute größten Braunkohlerevier Europas, geht zurück bis in das späte 17. Jahrhundert. Hier, im heutigen Städtedreieck Aachen, Mönchengladbach und Köln, entstehen in der Tertiär-Zeit vor etwa 20 Millionen Jahren die heute so wichtigen Braunkohlenflöze. Verschiedene biologische Prozesse, etwa eine lang anhaltende Moorbildungsphase bei gleichzeitiger starker Absenkung des Untergrundes, sorgen dafür, dass die Region über die Jahre zur größten geschlossenen Braunkohlelagerstätte Europas wird.

Wegen eines Mangels an Brennholz und Holzkohle beginnen Bewohnerinnen und Bewohner der Region bereits im 17. Jahrhundert, Turf (eine torfähnliche Substanz) abzugraben, diesen zu trocknen und als Heizmaterial zu verkaufen – dies geschieht zunächst noch mit Hacke und Spaten. Später werden in der Nähe von Inden Braunkohleflötze entdeckt, 1826 wird schließlich mit dem untertägigen Abbau begonnen.

Die Braunkohleförderung wird zum wichtigen Wirtschaftszweig – mit der Industrialisierung und immer größeren Maschinen wird die Region schließlich zum wichtigsten Abbaugebiet des Landes. Und einst kleine Bergbaugruben werden zu riesigen Tagebaugebieten.

Erste Umsiedlungen schon in den Fünfzigerjahren

In den 1950er-Jahren haben sich die Bagger schließlich so weit durchs Land gefressen, dass sie nun auch vor Ortschaften keinen Halt mehr machen. Grundlage dafür ist das deutsche Bergrecht – eine rechtliche Bestimmung, die ihre Ursprünge im mittelalterlichen Gewohnheitsrecht hat. Sie regelt, dass die Sicherstellung der Versorgung mit Rohstoffen Vorrang gegenüber anderen übergeordneten Interessen des Gemeinwohls hat. In den Fünfzigerjahren regelt dies noch jedes Bundesland selbst, seit 1982 gibt es ein bundesweit geltendes Bergrecht.

Für die Bewohnerinnen und Bewohner der Orte bedeutet das: Sie müssen ihre Heimatorte verlassen. An einem neuen Standort außerhalb des Tagebaus werden neue Dörfer errichtet, die meist denselben Namen tragen – häufig mit dem Zusatz „(neu)“. Die Grundstücksbesitzer werden mit einem Ersatzgrundstück im neuen Ort entschädigt – nicht immer ist das Angebot zufriedenstellend. Neben Wohnhäusern, Dorfkneipen und Gemeindehäusern werden auch Kirchen entweiht und schließlich abgerissen, gleiches gilt für historische Burgen, Wasserschlösser und Denkmäler. Ja, selbst der Friedhof wird umgebettet.

Bottenbroich ist das erste Dorf, das dem Bergbau weichen muss. Es liegt auf dem Gebiet des Tagebaus Frechen, aus dem zwischen 1951 und 1986 334 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden. Beschlossen wird die Umsiedlung des 1157 erstmals urkundlich genannten Ortes bereits in den 1930er-Jahren – der Zweite Weltkrieg macht den Plänen jedoch vorerst einen Stich durch die Rechnung. Ab 1949 werden die Bewohnerinnen und Bewohner schließlich aber doch umgesiedelt – eine Handhabe gegen die Pläne haben sie nicht.

Nachbarschaften werden zerstört

Mödrath ist als nächstes dran – und die Umsiedlung seiner 2800 Bewohnerinnen und Bewohner wird zum Drama. Die Dorfgemeinschaft protestiert, laut und energisch. Auch eine Volksabstimmung findet im Ort statt, mit eindeutigem Ergebnis: Die Mehrheit der Bürgerinnen und Brüger ist fest entschlossen, zumindest die Dorfgemeinschaft zu retten, die selbstständige Gemeinde zu erhalten und in naher Umgebung neu aufzubauen. Doch daraus wird nichts.

1957 beschließt die Politik – entgegen dem Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner –, die Neubausiedlung Neu-Mödrath direkt neben der Stadt Kerpen anzusiedeln und einzugemeinden. Gebürtige Mödrather erzählen 2006 dem „Kölner Stadtanzeiger“, dass daran die Dorfgemeinschaft regelrecht zerbrochen sei. Viele Vereine und Nachbarschaften hätten sich aufgelöst – statt 2800 Bürgerinnen und Bürgern zählt Neu-Mödrath heute nur noch rund 900.

Von den früheren Orten Bottenbroich und Mödrath ist heute nichts mehr zu sehen – mit Ausnahme der Burg Mödrath, die vom Bergbau verschont bliebt. Auf dem früheren Grund der alten Dörfer befindet sich heute, 36 Jahre nach Beendigung des Bergbaus, das sogenannte Marienfeld mit dem Papsthügel – eine rekultivierte Ackerfläche, die heute mitunter für Wallfahrten genutzt wird.

Historische Wasserburgen, historische Klöster

Ein paar Kilometer weiter östlich wird Anfang der Fünfzigerjahre der Ort Berrenrath dem Erdboden gleichgemacht. Er liegt auf dem Gebiet des Braunkohlegebietes Hürth, mehr als 3000 Bewohnerinnen und Bewohner müssen umgesiedelt werden. Dabei wird das Dorf Opfer seines eigenen Erfolges: Lange Zeit gilt Berrenrath als ärmlich, vor allem Waldarbeiter und Kleinstbauern wohnen hier. Der Braunkohleabbau in der Region ändert das: Der kleinbäuerliche Ort wird zu einem Industriearbeiterort, wächst und floriert. Am 27. Februar 1952 wird die Umsiedlung Berrenraths beschlossen.

Genauso geht es in den folgenden Jahren weiter. Im Gebiet des Tagebaus Frechen verschwinden in den Sechzigerjahren die Orte Habbelrath und Grefrath, auch Boisdorf wird bis 1970 abgebaggert. Im naheliegenden Tagebau Fortuna-Garsdorf müssen insgesamt acht Orte dem Bergbau weichen, darunter Frauweiler, Giersberg und Wiedenfeld. Mit der Burg Holtrop verschwindet auch eine historische niederrheinische Wasserburg.

Im Gebiet des Tagebaus Bergheim wird nicht nur der Ort Fortuna weggebaggert – auch das Kloster Bethlehem muss dem Braunkohleabbau weichen. Das historische Gebäude hat seinen Ursprung im Jahre 1648 – 316 Jahre später wird es an Rheinbraun, dem Vorgänger von RWE Power, verkauft und samt des Bethlehemer Waldes dem Erdboden gleichgemacht. An seinem früheren Standort, auf der rekultivierten Fläche des Tagebaus, ist heute als Andenken ein Kreuz zu finden.

Allein 20 Ortschaften rund um Garzweiler

Für einen Tagebau mit dem ironisch klingenden Namen Zukunft-West müssen in den Siebzigerjahren nicht nur acht Ortschaften, sondern auch ein historisches Rittergut weichen. Dort, wo es mal gestanden hat, befindet sich heute ein Gedenkstein. Immerhin: Ein Teil der Vorburg des Ritterguts Hausen kann in Aachen originalgetreu wiederaufgebaut werden.

Mit dem Tagebau Inden verschwinden über die Jahre ganze zehn Dörfer von der Landkarte, etwa Inden, Pier und Lohn. Die wohl größten Opfer bringt aber der Tagebau Garzweiler, aus dem seit den Achtzigerjahren Kohle gefördert wird. Insgesamt 20 Ortschaften werden hier aufgegeben und nach und nach abgebaggert.

Hier trifft es mitunter Holz. Erstmals urkundlich erwähnt im 15. Jahrhundert, verschwindet der Ort im Januar 2011 schließlich mit der Sprengung des Wasserturms. Auch das 800 Jahre alte Otzenrath wird abgebaggert – mitsamt seiner historischen Backsteinkirchen. In Pesch kommt ein historisches Rittergut, das den Ort seit seiner Entstehung prägte, unter den Bagger. Die Ortschaft mit ihren 95 Anwesen wird 2014 dem Erdboden gleichgemacht.

Kampf der Bewohner ist zwecklos

Im Örtchen Borschemich kämpfen Anwohnerinnen und Anwohner lange für einen Verbleib in ihrer Heimat. „Wir hatten bis zuletzt gehofft, dass wir verschont bleiben“, so die frühere Bewohnerin Josefine Amendt im Jahr 2017 gegenüber der „Neuen Westfälischen“. Schließlich muss die Dorfgemeinschaft aufgeben und nach Borschemich (neu) umziehen – ein Neubaugebiet ohne jegliche Geschichte.

Ganz anders als im alten Dorf. Hier steht mitunter das Haus Paland, eine historische Wasserburg von 1296. Nach dem Abriss legen Archäologen das Vorburgfundament des früheren Rittergutes frei. Dabei wird ein Wohnturm entdeckt, vermutlich aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Das Fundament wird immerhin fotografisch und zeichnerisch dokumentiert – mehr ist nicht drin, denn der Bagger steht längst vor der Tür.

„Borschemich war etwas ganz Besonderes“, sagt Amendt. „Es war mit Sicherheit das schönste Dorf in der Gegend.“ Den Abriss des eigenen Hauses habe sich die frühere Bewohnerin nicht ansehen können – zu groß der Schmerz. Die letzte Amtshandlung der Dorfgemeinschaft: Im März 2016 fällt sie gemeinschaftlich das Wahrzeichen des Ortes, die alte Linde am Ortseingang. Das wollen sie nicht den Baggern von RWE überlassen. Als Erinnerung an das alte Denkmal wird später am Ortseingang der Neubausiedlung auf einem Kreisverkehr ebenfalls eine Linde gepflanzt.

Abgerissener Dom macht bundesweit Schlagzeilen

Im Nachbarort Immerath wird zwei Jahre später der historische Dom mit seinen zwei beeindruckenden Türmen abgerissen. Das Gebäude ist so bedeutsam, dass erstmals auch bundesweit eine größere Aufmerksamkeit auf die verschwindenden Dörfer am Rheinischen Braunkohlerevier fällt. Das Bild vom Bagger, der die Mauern des Denkmals einreißt, geht durch die Medien. Vor dem Bauzaun versammeln sich auch Menschen von Außerhalb zum Protest – während die früheren Bewohnerinnen und Bewohner trauern.

Das ist hier wie eine Beerdigung
Anonyme Immeratherin, als in ihren Ort Bagger rollen

Manche haben Tränen in den Augen, berichtet die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) seinerzeit. „Das ist hier wie eine Beerdigung“, wird eine gebürtige Immeratherin zitiert. Ihr ganzes Leben habe sie im Ort gewohnt – und selbst nach dem Umzug habe sie von ihrem Balkon die beiden Türme des Doms sehen können. „Bald wird da nichts mehr sein.“

Das jüngste Opfer des Tagebaus steht aber nicht im Gebiet des Tagebaus Garzweiler, sondern im dem des Tagebaus Hambach. Der bundesweit als Symbol des Widerstands bekannt gewordene Hambacher Forst ist nicht der einzige, der lange Zeit dem Braunkohleabbau zum Opfer fallen soll. Seit den Neunzigerjahren verschwinden hier auch Ortschaften wie Etzweiler, Morschenich und Tanneck.

Schumi-Wohnort kommt unter den Bagger

Und: Manheim. Der unscheinbare Ort, der erstmals im Jahre 898 erwähnt wird, hat nicht nur eine historische Kirche, eine traditionelle Dorfgaststätte und ein blühendes Vereinsleben – hier wachsen auch die Rennfahrerbrüder Michael und Ralf Schumacher auf. In unmittelbarer Nähe des Wohnhauses liegt die Kartbahn, auf der die beiden späteren Formel-1-Piloten ihre ersten Runden drehen. Am 1. August 1995 findet im Gemeindehaus des Ortes die standesamtliche Trauung von Michael Schumacher und seiner Frau Corinna statt. Auf dem Friedhof des Ortes ist auch Elisabeth Schumacher, die Mutter der Brüder, beigesetzt.

Immerhin für die legendäre Kartbahn des Ortes kommt die Rettung in letzter Sekunde. Nach den anhaltenden Protesten rund um den Hambacher Forst verkündet RWE 2020, man wolle den Restbereich der Steinheide, wo sich auch die Kartbahn Erftlandring befindet, nicht mehr in Anspruch nehmen. Manheim selbst allerdings wird wie geplan, 2024 abgebaggert – samt Gemeindehaus, Kirche, Friedhof und dem Haus der Schumachers.

Keine Hoffnung mehr für Lützerath

Die Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier sind nicht die einzigen, die in den vergangenen Jahrezehnten unter den Bagger kamen. Umsiedlungen gab es auch in anderen Teilen Deutschlands, etwa in Niedersachsen rund um Helmstedt, in der Lausitz und im Mitteldeutschen Braunkohlerevier.

Das Dorf Pödelwitz im Süden von Leipzig wird 2021 erfolgreich vor dem Bagger gerettet. Auch die Nachbardörfer von Lützerath im Rheinischen Braunkohlerevier, Keyenberg, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich, die eigentlich auch abgerissen werden sollten, bleiben nun doch verschont. Darauf haben sich Bund, Land und RWE im Rahmen des NRW-Kohleausstiegs 2030 geeinigt. Für Lützerath gilt das allerdings nicht.

Dass der Abriss – trotz großer Proteste – noch verhindert werden kann, gilt als unwahrscheinlich. Der Ort wird wohl das letzte Opfer des Bergbaus sein – und wie die vielen Kirchen, Wasserschlösser und Denkmäler für immer im großen Loch verschwinden.

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