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Zehn Monate nach Russlands AngriffWie der Krieg zurück nach Europa kam

Lesezeit 6 Minuten
Ein Soldat vor einem zerstörten Kloster in Dolyna in der Ost-Ukraine.

Ein Soldat vor einem zerstörten Kloster in Dolyna in der Ost-Ukraine.

Der Kriegsausbruch in der Ukraine erschütterte die Welt. Nach rund zehn Monaten ist klar: Die so mächtige russische Armee ist überschätzt worden.

Am 24. Februar kehrte der Krieg zurück nach Europa. Der US-Außenpolitikexperte Charles Kupchan vom Council of Foreign Relations in Washington sprach noch am Tag des vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angeordneten Überfalls auf die Ukraine von einem „geopolitischen Erdbeben, das weit über Europa hinaus Auswirkungen haben wird“. Am selben Abend sagte der langjährige Berater von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Brigadegeneral a. D. Erich Vad: „Putin wird diesen Krieg gewinnen, weil die russischen Streitkräfte modern sind, gut ausgestattet sind, weil sie eine vielfache Überlegenheit auch haben, weil sie eine strategische Ausgangsbasis haben, gegen die man sich einfach nicht verteidigen kann.“

Kupchan behielt recht, der Krieg hat die Welt erschüttert. Vad sollte dagegen nicht zum letzten Mal in seinen Prognosen zum Krieg falschliegen. Er gab der Ukraine „ein paar Tage“ bis zur Niederlage. Richtig ist dagegen am Ende dieses Jahres: Die angeblich so mächtige russische Armee ist hoffnungslos überschätzt worden. Der Kampfgeist der Ukrainer wurde dagegen dramatisch unterschätzt. Der russische Präsident hat kein einziges seiner Kriegsziele erreicht.

Die Macht der Bilder

Dafür verhalf Putin seinem Widersacher Wolodymyr Selenskyj im Westen unfreiwillig zum Heldenstatus. Der ukrainische Präsident floh nicht. Stattdessen wandte er sich – im olivgrünen Militärshirt – immer wieder per Videoschalte an die Weltöffentlichkeit. Putin hatte dagegen vor Kriegsbeginn Spott auf sich gezogen, als er Staats- und Regierungschefs im Kreml an einem riesigen Tisch empfing.

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Putin wirkte isoliert und abgehoben. Selenskyj trat dagegen wie der mutige Underdog auf. Der 44-jährige Ukrainer weiß um die Macht von Bildern, er war Schauspieler und Komiker – seine Paraderolle im Fernsehen war ausgerechnet die eines Lehrers, der zum Präsidenten wird.

Putin hat sich auf vielen Ebenen verkalkuliert. Dass ihm außerhalb Russlands irgendwer seine Vorwände für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg abkaufen würde, dürfte er selbst nicht geglaubt haben: Der Kreml-Chef argumentierte, die „Sondermilitäroperation“ sei notwendig, um „die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung der Ukraine“ zu erreichen. Putins Truppen haben es nicht geschafft, die Hauptstadt Kiew einzunehmen. Stattdessen sind sie in der Hauptstadtregion sowie im Osten und zuletzt im Süden des Landes zurückgedrängt worden. Vor allem ist es Putin nicht gelungen, den Westen zu spalten, der zumindest bislang geschlossen zur Ukraine steht. Dies ist vor allem US-Präsident Joe Biden zu verdanken.

Unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Januar 2021 bemühte sich der US-Demokrat darum, Bündnisse und Partnerschaften wiederzubeleben, die sein republikanischer Vorgänger Donald Trump mit seiner isolationistischen „America first“-Politik an den Rand des Zusammenbruchs getrieben hatte. Bidens erste Auslandsreise führte ihn nach Europa, wo er beim Gipfel der G7-Staaten, beim Treffen mit den Nato-Partnern und beim Gespräch mit den EU-Spitzen versicherte: „Amerika ist zurück.“ Zum Abschluss dieser Reise traf er in Genf mit Putin zusammen. Im Anschluss sagte Biden, nach seinem Eindruck wolle Putin keinen neuen kalten Krieg.

USA warnten Wochen zuvor

In diesem Punkt sollte der US-Präsident nicht recht behalten. Mit seinen späteren Warnungen vor einem Angriff auf die Ukraine hingegen schon. Schon Wochen vor dem Überfall berichteten das Weiße Haus, das US-Außenministerium und das Pentagon auf Basis von Geheimdienstinformationen, Putin könnte das Nachbarland überfallen.

Die Bundespolitik wurde durch den Krieg in ihren Grundfesten erschüttert. So schrieb die Expertin Judy Dempsey von der Denkfabrik Carnegie kurz nach dem Einmarsch: „Die deutsche Sonderpolitik gegenüber Russland ist vorbei. Der Glaube, dass die jahrzehntelangen wirtschaftlichen, handelspolitischen und politischen Beziehungen Deutschlands zu Moskau zu einer Modernisierung des Landes führen würden, hat sich als falsch erwiesen.“

Scholz' „Zeitenwende“ nur halbherzig vollzogen

Tatsächlich rief Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine „Zeitenwende“ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik aus. Diese ist bislang allerdings nur halbherzig vollzogen. Nach der ersten Blamage – Deutschland schickte der Ukraine 5000 Helme – lieferte die Bundesregierung zwar substanzielle Unterstützung. Die Ukrainer sind dankbar für deutsche Luftabwehrsysteme oder die Panzerhaubitze 2000. Für Unverständnis sorgt aber, warum Deutschland keine Kampfpanzer Leopard 2 oder Schützenpanzer Marder liefert.

Müssten sich die Ukrainer auf die Europäer verlassen, hätten sie den Krieg vermutlich längst verloren. Die Amerikaner haben für die Ukraine mehr militärische, humanitäre und finanzielle Unterstützung geleistet als alle europäischen Staaten zusammen. Nun wollen sie die Patriot-Raketenabwehr liefern, was Biden bei einem Besuch Selenskyjs in Washington verkündete. Unklar ist aber, wie lange die Amerikaner noch bereit dazu sind, diesen Löwenanteil zu stemmen. Würden die Europäer die Lücke schließen?

Schon jetzt mehren sich Rufe nach Friedensverhandlungen. Aus Sicht der Ukraine kommen sie zur Unzeit. Bei einem Besuch in befreiten Regionalhauptstadt Cherson machte Präsident Selenskyj erneut deutlich, dass Friedensverhandlungen erst infrage kommen, wenn die Besatzungstruppen vertrieben sind. Die Ukrainer argumentieren, dass sie genau deswegen schnell mehr moderne Waffen benötigen – damit Russland in der Defensive bleibt und zu Gesprächen gezwungen wird. Dieser Logik zufolge bewirken Waffenlieferungen nicht mehr Blutvergießen, sondern das Gegenteil: ein schnelleres Ende des Krieges.

In der ukrainischen Bevölkerung gäbe es derzeit sowieso keine Mehrheit für Verhandlungen oder gar für einen russischen Diktatfrieden. Dafür sorgen schon die Gräueltaten, die fast überall dort bekanntwerden, wo die russischen Truppen vertrieben wurden. Wer die Gebiete besucht, dem erzählen immer wieder Zivilisten, wie sie willkürlich gefangen genommen und gefoltert wurden – oft mit ähnlichen Methoden, etwa Stromschlägen. Vieles deutet darauf hin, dass dies systematische Menschenrechtsverletzungen sind.

Kälte als Waffe

Nach den Misserfolgen auf dem Schlachtfeld hat Putin auf Kälte als Waffe gesetzt. Mitten im Winter attackierte er die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Wärme und Strom. Sein Kalkül: Die Ukrainer sollten erfrieren – oder in die EU fliehen und dort für Verwerfungen sorgen. Bundesjustizminister Marco Buschmann nannte das Vorgehen „verabscheuenswürdig“ und „ein schlimmes Kriegsverbrechen“. Außenministerin Annalena Baerbock sprach von einem „Bruch der Zivilisation“.

Kaum jemand hätte wohl zu Beginn dieses Kriegsjahres gedacht, dass die Ukrainer an dessen Ende in der Offensive sind. Für Optimismus ist es aber viel zu früh. Befürchtet wird, dass der russische Präsident im Frühjahr massenhaft ausgebildete Soldaten an die Front wirft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland wieder die Oberhand in dem Konflikt gewinnt. Die Ukrainer betonen stets, dass sie nicht nur für ihr eigenes Überleben kämpfen, sondern stellvertretend auch für westliche Werte wie Freiheit und Demokratie. Für sie ist deswegen vor allem eines wichtig: dass der Westen geschlossen zu ihnen steht.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte vor nachlassendem Engagement. Er wisse, dass die Unterstützung der Ukraine mit Kosten verbunden sei und dass viele Menschen unter steigenden Kosten für Energie und Lebensmittel litten. Wenn man Putin erlaube, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu gewinnen, werde man allerdings einen noch viel höheren Preis zahlen müssen. „Autoritäre Regime weltweit werden lernen, dass sie mit brutaler Gewalt bekommen, was sie wollen.“

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