Was im Juni 2021 in Köln mit 2000 Artikeln im Rewe-Markt begonnen hat, hat sich mittlerweile zum Großprojekt mit bis zu 20.000 Artikeln pro Geschäft entwickelt: Einkaufen, ohne im Geschäft zu bezahlen.
Supermarkt der ZukunftKI statt Kasse

Ein Kunde registriert sich am Eingang eines Rewe Pick & Go Supermarkts. Digital und teils ohne Personal - der Einkauf im Supermarkt ist im Umbruch. +++
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Heringssalat, zwei Skyr, Duschgel, eine Packung Nudeln und einen Börek-Stick mit Hackfleisch aus der Backwaren-Theke. Es ist ein komisches Gefühl, die Dinge im Rewe-Supermarkt im Kölner Stadtteil Sülz einfach so in der Einkaufstasche verschwinden zu lassen. Denkt wirklich niemand, dass eine besonders dreiste Ladendiebin am Werk ist?
Die drei Äpfel und zwei Nektarinen vom Obststand müssten leider noch selbst gewogen werden, steht auf einem Schild. „Bald hier auch ohne“, heißt es am Ende der Anleitung. Dann schnell zum Ausgang des Supermarktes. Das Handy mit dem persönlichen QR-Code kurz an ein Lesegerät gehalten, und raus geht es. Ohne an der Kasse bezahlt oder den Einkauf selbst eingescannt zu haben. Und ohne dass die Tasche kontrolliert wird. Im Gegenteil: Das Sicherheitspersonal hinter der Schranke lächelt und hebt anerkennend den rechten Daumen.
Einkaufen mit App und ohne Kasse
„Pick&Go“ heißt der Service, den Rewe intensiv erprobt. Man lädt eine App herunter, um sich einmalig zu registrieren und ein Zahlungsmittel zu hinterlegen. Dann kann’s losgehen: Rein ins Geschäft und einkaufen, ohne an der Kasse warten zu müssen. Die Entwicklung ist rasant: In einem Düsseldorfer Testmarkt beispielsweise muss längst auch kein Obst mehr gewogen werden - das macht die Künstliche Intelligenz (KI), die dort zum Einsatz kommt.
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Was im Juni 2021 in einem mittlerweile geschlossenen Rewe-Markt am Kölner Neumarkt auf bescheidenen 200 Quadratmetern mit etwa 2000 Artikeln deutschlandweit als einzigartiges Projekt begann, habe sich mittlerweile „sukzessive weiterentwickelt“, sagt Jana Sanktjohanser, die Projektleiterin des Handelskonzerns. In Hamburg funktioniere das mit den in Köln gesammelten Erfahrungen mehrfach überarbeitete Konzept mittlerweile auf rund 1200 Quadratmetern mit 20.000 Artikeln.

Auch an der Brottheke erkennen sie Videokameras in der Decke, welches Produkt entnommen wird.
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Bundesweit sei das „autonome Einkaufen“ in sechs Märkten auf insgesamt 4500 Quadratmetern möglich. „In den letzten Jahren haben wir extrem viel gelernt, über die Technologie und über unsere Kunden“, so Sanktjohanser: „Im Herzstück des Projektes geht es um ein lernendes System, bei dem anfangs sozusagen nur mit zwei Bällen jongliert wurde und im Laufe der Zeit dann mit immer mehr“.
Projektmarkt mit 20.000 verschiedenen Artikeln
So manches sei deshalb verändert worden, so Sanktjohanser. Zunächst beispielsweise konnte in der App nur eine Kreditkarte hinterlegt werden, jetzt funktioniert unter anderem auch Paypal. In Befragungen habe es so manche Überraschung gegeben. „Eine der Kernaussagen war, dass unsere Kunden verunsichert waren und sich die Frage stellten: Mache ich alles richtig bei der neuen Technik?“, berichtet die Rewe-Expertin: „Anfangs waren wir erstaunt, dass dies den deutschen Kunden so wichtig ist.“ Statt etwa der „fundamental anderen Art des Bezahlens“ gegenüber skeptisch zu sein, zweifelten die Befragten eher an sich selbst.
Um dieser Unsicherheit zu begegnen, haben die Macher eine weitere Checkout-Art Änderungen eingeführt: Sich ohne App einfach vor ein Bezahl-Terminal stellen, das dann die in den Rucksack gesteckten Waren anzeigt, ohne dass diese ausgepackt und gescannt werden. So kann das System auch ohne App genutzt werden. Mit der neuesten Entwicklung kann zudem die Pick&Go-Einkaufliste in den Hamburger und Düsseldorfer Projektmärkten mittlerweile nicht erst Minuten später in der App abgerufen, sondern schon am Ausgang an den SB-Kassen kontrolliert werden. Wem auch das nicht liegt, kann zu einer herkömmlichen Kasse gehen.
Selbst Obst erkennt die KI ohne zu wiegen
Die dafür notwendige Technik funktioniert mit Hilfe von KI. Hunderte Videokameras in der Decke sowie Sensoren in jedem einzelnen Regalboden registrieren in den Versuchsmärkten, was und wieviel entnommen und zurückgestellt wird. Die erhobenen Daten dürfen ausschließlich für das kassenlose Bezahlen genutzt werden, für nichts anderes. Das System erstellt ein 3D-Modell des Ladens, das jeden Winkel abdeckt. Es erfasst die Bewegungen der Kunden, die jedoch nicht biometrisch oder bildhaft, sondern schematisch als sich bewegende Strichmännchen dargestellt werden.
Mit der KI-Technik werden dann die individuellen Warenkörbe generiert. Das dauert ein bisschen. „Gib uns einen kleinen Moment“, heißt es nach dem Kölner Testkauf in der App, fünf Minuten nachdem man den Rewe-Laden verlassen hat. Nach weiteren fünf Minuten wechselt der Text zu „Kassenbon wird erstellt“, etwa eine Minute später ist er abrufbar. Die in Rechnung gestellten Waren sind tatsächlich alle korrekt. Sogar die 72 Cent für Pfandflaschen, die im Rückgabeautomat gelandet sind, wurden gutgeschrieben.
Kein Personalabbau trotz neuer Technik
Personal sei in den betroffenen Märkten nicht abgebaut worden, sagt Rewe-Expertin Sanktjohanser. Schließlich gebe es „neben dem Kassenvorgang noch zahlreiche weitere Aufgaben wie beispielsweise die Kundenberatung, den Service an den Bedientheken, die Sortimentsarbeit" sowie die Einhaltung von Vorschriften wie etwa zur Hygiene.
Kassenloses Bezahlen wird in Deutschland auch vom Netto-Konzern getestet. „Aktuell haben wir in München und in Regensburg jeweils eine Filiale mit Technik für autonomes Einkaufen“, teilt eine Sprecherin des Unternehmens mit. Vor dem Ausgang der Läden würden die ausgewählten Artikel an einem „Fast-Exit-Terminal“ angezeigt. Und bei Bedarf könnten die Kunden die Produkte über den Touchscreen des Terminals einzeln aus der Übersicht löschen. Der endgültige Kassenbon werde dann bei Verlassen der Filiale ausgedruckt.
Aldi-Süd indes lässt wissen, man betreibe zwar einen „Testshop“ in Großbritannien. Die Einführung eines ähnlichen Konzepts sei „in Deutschland derzeit aber nicht geplant“. Bei Kaufland werden KI-gestützte Konzepte zum kassenlosen Einkaufen zwar „geprüft, aber noch nicht umgesetzt“. Liegt das daran, dass das Sortiment des Konzerns, der außer Lebensmitteln zum Beispiel noch rezeptfreie Medikamente, Heimwerkerbedarf, Schreibwaren oder Reisezubehör anbietet, einfach zu groß und vielfältig ist?
Aldi testet das System in Großbritannien
„Gerne bestätigen wir Ihre Annahme und bitten Sie um Verständnis dafür, dass wir uns in dieser Thematik zu internen Prozessen und strategischen Ansätzen nicht weiter äußern“, antwortet ein Unternehmenssprecher. Und von Lidl ist zu hören, bundesweit in acht Filialen einen anderen Weg auszuprobieren. „Die Kunden scannen ihre Produkte während des Einkaufs mit dem eigenen Smartphone, packen diese direkt in ihre Einkaufstasche und bezahlen am Ende an den Selbstbedienungskassen, ohne die Artikel noch einmal auspacken zu müssen“, erläutert eine Sprecherin des Discounters.
Wie also wird der Supermarkt der Zukunft aussehen? „Der Blick in die Glaskugel ist immer schwierig“, sagt Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel und Einzelhandelsmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Heilbronn. Er glaube jedoch, dass kassenlose KI-Systeme vor allem bei kleinen Geschäften eine wichtige Rolle spielen werden. Bei kioskartigen Läden wie Rewe-To-Go also, die es beispielsweise schon an Bahnhöfen, an Tankstellen oder in Krankenhäusern gibt. „Die könnten dann auch rund um die Uhr geöffnet werden, weil kein ständig anwesendes Personal nötig ist“, so der Experte.
Bei größeren Filialen, beispielsweise weil die angebotenen Waren permanent sortiert und aufgefüllt werden müssen, sei die Situation komplizierter. Die Frage werde sein, „ob sich der heute noch relativ teure KI-Einsatz“ dann auch rechnet für die Unternehmen. „Ich bin da eher skeptisch“, sagt Rüschen. Für Jana Sanktjohanser indes ist diese Frage noch nicht geklärt. „Aber natürlich wird am Ende auch entscheidend sein, ob sich solche Systeme in Zukunft ökonomisch lohnen“, sagt die Rewe-Projektleiterin.